Antisemitismus: Das Judentum gibt es nicht

Nr. 35 –

Was ist Antisemitismus? In seinem neuen Buch «Anti-Anti-Semitismus» zeigt Elad Lapidot Probleme intellektueller Strategien gegen Judenfeindschaft auf. Und entwickelt ein Konzept des jüdischen Empowerment, das an postkoloniale Theorien anknüpft.

Wer gehofft hatte, dass Antisemitismus nach dem Zweiten Weltkrieg überwunden sei, sieht sich eines Schlechteren belehrt. In den sozialen Netzwerken wird hemmungslos auf die klassischen Stereotype und Verschwörungsfantasien zurückgegriffen, die bereits die Nazis verbreitet hatten. Angriffe auf Jüdinnen und Juden nehmen gegenwärtig stark zu. Auch in der Schweiz: So konstatierte Jonathan Kreutner, Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes, im Magazin von Amnesty International für das Jahr 2021 einen «Dammbruch» vor allem im Kontext der Demonstrationen gegen die Coronamassnahmen.

«Antisemit» sein wollen allerdings nur sehr wenige. Der Vorwurf, es zu sein, ist zu einem willkürlichen Mittel im politischen Schlagabtausch geworden. Dies zeigte etwa die kurze Debatte um missverständliche Äusserungen der deutschen Publizistin Carolin Emcke auf dem virtuellen Bundesparteitag von Bündnis 90 / Die Grünen im Juni 2021. CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak prangerte Emckes Rede als Verharmlosung des Antisemitismus an, was allerdings nur als Delegitimierungsversuch grüner und linker Politik gedeutet werden konnte.

Darüber hinaus passen die Vorwürfe an Emcke in eine rechtsbürgerliche Strategie, Judenfeindschaft als ein mit den aus dem arabischen Raum Geflüchteten importiertes Problem zu deuten. Natürlich ist die radikale Judenfeindschaft des Islamismus bedrohlich, doch sind sowohl der religiöse Antijudaismus des Mittelalters sowie die auf Rassismus beruhende moderne Judenfeindschaft, die man seit Ende des 19. Jahrhunderts üblicherweise (aber irreführend) mit dem auf die «semitischen» Sprachen verweisenden Terminus «Antisemitismus» bezeichnet, genuin europäische Erfindungen: Der Attentäter von Halle 2019 und andere Neonazis verübten ihre Untaten mit explizitem Bezug auf die Ideen des europäischen Faschismus.

Streit um Definitionen

Katalysator des Antisemitismus ist in Europa der Nahostkonflikt. Während die politische Rechte explizit Israels Politik gegen die PalästinenserInnen unterstützt und gerne israelbezogenen Antisemitismus anprangert, weist die Linke auf die Instrumentalisierung des Antisemitismus durch die israelische Regierung hin, was in einem zunehmend heftig geführten Streit um die Definition von Antisemitismus resultiert. Der von vielen Staaten offiziell ratifizierten Definition der International Holocaust Remembrance Association wurde von jüdischen und nichtjüdischen WissenschaftlerInnen im Frühling 2021 die sogenannte Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus entgegengesetzt, die vor allem die Differenz zwischen Antizionismus und Antisemitismus betont und den Kampf gegen Antisemitismus im Zusammenhang mit einem allgemeinen Kampf gegen Diskriminierungen und Rassismus sieht.

In diesem Streit finden sich gerade linke und linksliberale Jüdinnen und Juden oftmals als Manövriermasse wieder. Die deutsche Autorin Mirna Funk beklagte während der jüngsten Gewaltausbrüche in Israel/Palästina in der «Zeit», ihre politische Heimat verloren zu haben, da vor allem die jüngere Generation in der europäischen Linken Jüdinnen und Juden nur akzeptiere, wenn diese sich antizionistisch oder «israelkritisch» verorten würden, ohne überhaupt über die jüdischen Lebensrealitäten Bescheid zu wissen. Funk antwortete trotzig mit zionistischen Parolen. Dagegen feierte der Journalist Fabian Wolff in einem furiosen Essay (ebenfalls in der «Zeit») «ein selbstbewusstes Leben in der Diaspora», knüpfte an verloren gegangene linke jüdische Traditionen an und beschwor die innerjüdische Diversität, die auch unterschiedliche jüdische Haltungen gegenüber Israel erlaube. Die Reaktionen der nichtjüdischen Umwelt, seien es feindselige oder romantisierende, spielten erst einmal keine Rolle, so Wolff. Es ist ein Gestus, der an afroamerikanische Ermächtigungsstrategien erinnert.

Feindbild der Identitären

Auch Elad Lapidot, 1976 in Jerusalem geboren und Philosophiedozent an der Uni Bern und der Humboldt-Universität zu Berlin, hat in seinem ursprünglich auf Englisch verfassten Buch «Anti-Anti-Semitismus» im Kern den kulturellen Reichtum der Diaspora im Blick. Im Unterschied zu den genannten autobiografischen Positionen versteht der Judaist Lapidot seinen Beitrag für ein neues Selbstverständnis der jüdischen Minderheit gegenüber der Mehrheitsgesellschaft als «philosophische Kritik» – und zwar nicht primär als Kritik an anti- oder philosemitischen Zuschreibungen, sondern an den verschiedenen Positionen gegenüber dem Phänomen des Antisemitismus in der europäischen Philosophie seit 1945.

Zunächst mag dieses Anliegen befremden, denn Theodor W. Adorno und Max Horkheimer, Jean-Paul Sartre, Hannah Arendt, Alain Badiou oder Jean-Luc Nancy – dies die klingenden Namen in Lapidots Studie – waren ja gerade daran interessiert, den Judenhass rational zu durchdringen, auch um zukünftige Völkermorde zu verhindern. Doch das Buch macht auf einen blinden Fleck des untersuchten «anti-anti-semitischen Diskurses» aufmerksam, so wie es an der im Englischen üblichen Schreibweise von «Anti-Semitismus» mit Bindestrich festhält, um die historischen Bedingungen des Begriffs bewusst zu halten. Nach Adorno und Horkheimer ist Antisemitismus das «Gerücht über die Juden», der «Jude» des Antisemiten ist also immer eine Konstruktion. Alle philosophischen Versuche, den Antisemitismus zu verstehen, basierten nach Lapidot deshalb auf dem Gedanken, dass es so etwas wie ein sinnvolles kollektives jüdisches Sein als jüdisches gar nicht gebe: «Der Anti-Anti-Semitismus kritisiert den Anti-Semitismus nicht dafür, dass er Juden negativ beurteilt, sondern dafür, dass er jüdisches Sein – und jedes historische Kollektiv – als Träger einer spezifischen Idee […] wahrnimmt.»

Diese These differenziert Lapidot mittels verschiedener «anti-anti-semitischer» Positionen, zunächst anhand der verschiedenen Herangehensweisen an die antisemitischen Passagen in Martin Heideggers postum veröffentlichten Notizheften. Mit Adorno/Horkheimer und ihrer «Dialektik der Aufklärung» kann Antisemitismus als Hirngespinst begriffen werden, das reale Judentum spielt dafür keine Rolle. Folgt man dagegen Sartres Text «Überlegungen zur Judenfrage» von 1954, ergibt sich die Bezeichnung «Jude» im intersubjektiven Blick des Antisemiten auf ein (im Grunde willkürlich ausgewähltes) Gegenüber.

Wieder anders gestalten sich Hannah Arendts Überlegungen in ihrem Werk «Ursprünge und Elemente totalitärer Herrschaft». Gemäss Lapidot sieht Arendt die Abstraktion des «Juden» durch den Antisemitismus in der historischen, über Jahrhunderte religionsgesetzlich festgeschriebenen Selbstabsonderung des Judentums von der Weltgeschichte verankert. Auch der französische marxistische Philosoph Alain Badiou würde die Judenfeindschaft auf den jüdischen Partikularismus zurückführen, allerdings aus einer im Grunde christlichen Perspektive heraus. Eine weitere Position bildeten Jean-Luc Nancys Thesen, die darauf hinauslaufen, dass «der Jude […] zur Figur der Nicht-Figur, des Nicht-Selbst» wird, also zu einer Art Bild des postmodernen Westens, in dem Identitäten fluid werden, weshalb sich «der Jude» auch besonders gut als Feindbild identitärer Ideologien eignet.

Das jüdische Denken retten

Einerseits ist es wohltuend, dass sich Lapidot nicht am aufgeregten tagespolitischen Diskurs beteiligt. Andererseits enttäuscht der fast vollständige Verzicht auf Lesbarkeit. Lapidot ist Philosoph durch und durch, er hat Hegel ins Hebräische übersetzt, und auch seine Herkunft als Heidegger-Exeget mag dazu beitragen, dass ihm Begriffe wie «epistemo-politische Negativität» leicht von der Hand gehen. Für ein breiteres Publikum ist dies schwieriger. Dabei ist Lapidots Ansatz zu einem anderen Verständnis von Identität grundlegend: Der Holocaust als Konsequenz des radikalen Antisemitismus bedeute nicht nur die Ermordung von Millionen Menschen, sondern auch die Negierung des Judentums als System kultureller Eigenlogik: «Was vom jüdischen Denken nach Auschwitz bleibt, ist Rasse, Mord, Genozid.» Dagegen setzt Lapidot die «Re-Figuration» dieses Denkens, also ein jüdisches Empowerment, unter anderem mit einem Studium traditioneller talmudischer Texte. Dies würde «einen Zugang zum nichtwestlichen (…) Anderssein (…) eröffnen» und damit auch ein Denken jenseits des «Anti-Anti-Semitismus» ermöglichen.

Dieser Gedanke ist aufregend, denn er knüpft an Ideen der sogenannten postkolonialen Theorie an, einer Denkrichtung, die aus der kolonialisierten und als minderwertig diffamierten Position heraus die westliche philosophische Tradition kritisch revidiert und Vorstellungen komplexer – «hybrider» – Identitäten entwickelt. Auch die gegenwärtigen Debatten um postkoloniale Ideen folgen den politischen Bruchlinien der «Antisemitismus»-Diskussion: So wurde 2020 dem in Kamerun geborenen Philosophen Achille Mbembe vom Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus vorgeworfen, er würde den Holocaust relativieren und das Existenzrecht Israels infrage stellen, weil er unter anderem auch die israelische Regierungspolitik rügte.

Während unterdessen viele Genozid- und Holocaustforscher wie Michael Rothberg oder A. Dirk Moses mit Blick auf postkoloniale Studien den Holocaust innerhalb einer globalen Gewaltgeschichte deuten wollen, kritisierte unter anderem der renommierte Historiker und Holocaustüberlebende Saul Friedländer, solche Perspektiven würden der singulären Bedeutung des Völkermordes an den europäischen Juden nicht gerecht und seien tendenziell revisionistisch – und also auch antisemitisch.

Lapidot positioniert sich in diesem Streit nicht, so wie er auch nicht auf die Frage eingeht, inwieweit Kritik an Israel antisemitisch sei. Doch seine Erkundung des «anti-anti-semitischen» und in der zweiten Hälfte des Buches auch des klassischen antisemitischen Denkens mit seinen krassen Vernichtungsfantasien zeigt erstens deutlich, dass der Antisemitismus-Vorwurf vorsichtiger benutzt werden muss, wenn der Begriff überhaupt noch eine Bedeutung haben soll. Zweitens ist die Betonung jüdischer Kultur bedenkenswert, denn ein Judentum gibt es tatsächlich nicht, aber viele jüdische Lebens- und Denkwelten, die in der herkömmlichen Geschichtsschreibung wie andere nichtwestliche Kulturen immer noch zu kurz kommen. Die Beschreibung dieser Welten bleibt uns «Anti-Anti-Semitismus» mit der Ausnahme einiger Schlussbemerkungen schuldig. Ein wichtiger Beitrag zur Reflexion einer konstruktiven jüdischen Politik jenseits von antisemitischer Paranoia und identitären Vereinnahmungen ist das Buch dennoch.

Caspar Battegay ist Literaturwissenschaftler an der Universität Basel und Dozent für Kultur und Kommunikation an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Seine Habilitation «Geschichte der Möglichkeit. Utopie, Diaspora und die ‹jüdische Frage›» ist 2018 im Wallstein-Verlag erschienen.

Elad Lapidot: Anti-Anti-Semitismus. Verlag Matthes & Seitz. Berlin 2021. 399 Seiten. 43 Franken