Florian Schneider-Esleben (1947–2020): Fun, fun, fun auf der Autobahn

Nr. 20 –

Ein Düsseldorfer mit Weltruhm: Der Kraftwerk-Mitbegründer Florian Schneider-Esleben war eine Ikone der ausserparlamentarischen Popmusik.

Die internationale Musikpresse erklärte die Düsseldorfer Musikgruppe Kraftwerk immer wieder zu den «neuen Beatles» – oder sogar zu einer Band, die noch einflussreicher als die Beatles gewesen sein soll. Das ist schmeichelhaft und verweist auf den epochalen Einfluss der Band und ihre stilbildenden Alben, auch wenn der Vergleich sicher hinkt.

Gleichwohl handelt es sich in beiden Fällen um ein Quartett, um vier musikalische Persönlichkeiten, die gemeinsam mehr zu erreichen vermochten, als es die Summe der einzelnen Teile vermuten liess. Beide Gruppen wurden von einem genialischen Duo beherrscht, das die Songs schrieb und den anderen Mitgliedern zeitweise die Luft zum Atmen raubte. Beide Gruppen entwuchsen dem geliebten heimatlichen Rahmen und wurden internationale Phänomene.

Und beide hatten einen künstlerischen und einen musikalischen Kopf. Florian Schneider-Esleben entsprach in seiner unangepassten, selbstbewussten und nie harmoniesüchtigen Art dem Wesen von John Lennon. Er begriff die Musik als Kunstform und das fertige Album als Konzept. Er sorgte für das nüchterne Erscheinungsbild der Frühphase und gemeinsam mit Ralf Hütter dafür, dass keine tradierten Rockklischees bedient wurden. Den aus grossbürgerlichem Milieu stammenden Sohn des Stararchitekten Paul Schneider-Esleben sprachen klar strukturierte Formen an und liessen ihn eine Ästhetik zwischen Modernismus und Minimalismus finden.

Sonorer Sprechgesang

Florian Schneider-Esleben rief Kraftwerk 1970 ins Leben und war bis 2009 Teil der Band. Ihm werden die experimentellen Sounds und konzeptuellen Themen des Albums «Radio-Aktivität» (1975) vornehmlich zugeschrieben. Ein Album, das sich mit Radiowellen und Empfangsgeräten auseinandersetzte, das Wellen schwingen liess und versöhnlich «Ohm, Sweet Ohm» summte, dabei nur in einem Nebensatz auf Madame Curie zu sprechen kam und den «Volksempfänger» der dreissiger Jahre auf Vorder- und Rückseite abbildete.

Weltruhm erreichte Kraftwerk schon ein Jahr zuvor mit dem bis heute meistverkauften Album der Band: «Autobahn». Diese frühe Sternstunde ermöglichte eine ausgedehnte US-Tour und ansehnliche Einnahmen. Die Amerikaner erlagen dem Konzept «Autobahn» und adaptierten es für ihre Highways. Ein Missverständnis sorgte für genügend Airplay: Im fernen Amerika verstand man den sonoren Sprechgesang zumindest teilweise und deutete ihn als eine Reminiszenz an die Beach Boys: «Fun, fun, fun auf der Autobahn» wollte man herausgehört haben.

Dieses fast komplett elektronisch eingespielte Album markierte den eigentlichen Beginn des musikalischen Schaffens von Kraftwerk, die vorangegangenen drei Krautrockalben, die Schneider-Esleben noch mit Querflöte eingespielt hatte, sollte es bald vergessen machen. Hier hatte man erstmals auf stringente Konzeptkunst und das Grundthema von Technik und Fortbewegung gesetzt, ähnlich wie bei «Trans Europa Express», dem frühen Album, das als erstes in verschiedenen Sprachen und Aufmachungen daherkam. Der Eröffnungstrack «Europa endlos» bietet sich noch heute als inoffizielle völkerverbindende Hymne an.

Ein weiteres Album, das in englischer und deutscher Sprache erschienen ist – das Cover ist international dasselbe, nur der Titel geringfügig angepasst –: «Die Mensch-Maschine». Der spätere grosse Hit «Das Modell» und die selbstreferenzielle Nummer «Die Roboter» befinden sich auf diesem Album, das vielleicht als ihr bestes gelten kann, zumindest prägte es durch die signalhafte Covergestaltung besonders das Image der Band.

Das englischsprachige Ausland wurde zum wichtigsten Markt für Kraftwerk. Hatten sie früh den Weg in die USA angetreten, so sollten sie sich ihre fanatischsten Fans in England erschliessen. Für eine Riege namhafter MusikerInnen waren die Kraftwerk-Konzerte zur Tour von «Radio-Aktivität» ein Heurekamoment und Ansporn, selbst Musik zu machen: Bei Orchestral Manoeuvres in the Dark war es etwa so, um nur die bekanntesten zu nennen.

Durch die Namensnennung von Iggy Pop und David Bowie im Lied «Trans Europa Express» legten Kraftwerk auf geschickte Art eine Fährte zum Art Rock und New Wave der Übergangszeit der siebziger und achtziger Jahre. Bowie hatte auf seiner «Station to Station»-Tour anstelle einer Vorgruppe Luis Buñuels Film «Ein andalusischer Hund» und das Kraftwerk-Album «Radio-Aktivität» mitgenommen: Jeden Abend dröhnten Schneiders zischende und flirrende Synthesizersounds aus Bowies Anlage. Ungläubig hörten wir zu, als Bowie Florian Schneider-Esleben mit dem Song «V-2 Schneider» auf dem Album «Heroes» ein Denkmal setzte.

Das lässt selbst die in einem Interview feilgebotene Geschichte von Iggy Pop klein erscheinen, wie er einmal mit Florian Schneider-Esleben auf dem Düsseldorfer Marktplatz frischen Spargel einkaufen war. Grotesk die Vorstellung, dass sich diese beiden Ikonen der ausserparlamentarischen Musik zu Fuss und unbehelligt vom «Kling-Klang-Studio» aus auf den Weg machten, um dem amphetaminverwöhnten Herrn Osterberg die Freuden der regionalen Küche nahezubringen. Das ist entweder naiv oder genial und kann nur ein Einfall von Schneider-Esleben gewesen sein.

Von Düsseldorf aus machten sich David Bowie und Iggy Pop auf den Weg zurück nach Berlin, um im «Hansa Studio by the wall» die Aufnahmen an «Heroes» und «Lust for Life» zu beginnen. Beide waren fasziniert von deutschen Bands wie Can, Neu!, Tangerine Dream und eben Kraftwerk sowie dem Leben im Ausnahmezustand der Mauerstadt. Beiden gelangen dort ihre künstlerisch wertvollsten Produktionen, und beide waren zuvor an der Pforte von «Kling-Klang» und «Conny’s Studio» abgewiesen worden.

In Deutschland hielt sich die Begeisterung für Kraftwerk lange in Grenzen: Zu suspekt und verschlossen erschien die Gruppe. Noch im Juni 1981 traten Kraftwerk in einer spärlich gefüllten Konzerthalle in Düsseldorf in der für Fans und ForscherInnen einzigen und wahren Originalbesetzung, also mit Karl Bartos und Wolfgang Flür, auf. Das Heimspiel der «Computerwelt»-Tournee wurde zu einem lauwarmen Empfang, der zu allem Überfluss wegen technischer Probleme im kollektiven Gedächtnis der Stadt haften bleiben sollte.

Also lieber wieder hinaus in die Welt: Für das Doppelkonzert in Tokio wurde der Singlehit «Taschenrechner» in der Landessprache vorgetragen und kurze Zeit später als Maxisingle «Dentaku» veröffentlicht. Die Tour zum gelben Album «Computerwelt» sollte zur längsten der Bandgeschichte werden. Schneider-Esleben setzte sich danach dafür ein, nie wieder so lange unterwegs zu sein. Er war nicht gemacht für das Tourleben, sondern hatte begonnen, sich intensiv mit dem Radsport zu beschäftigen. Auch liebte er seine rheinische Heimat und hatte Interessen fernab von Kraftwerk.

Der Charakterkopf im Gesamtbild

Während Ralf Hütter als Kopf von Kraftwerk respektiert wurde, wurde Florian Schneider-Esleben geliebt. Er verkörperte das geniale und nicht berechenbare Element der Band. Im Gesamtbild der vier Musiker erschien Schneider-Esleben stets als der Charakterkopf: zu uneben seine Züge um Mund und Nase, zu unwirsch seine zurückgestutzte Haartracht. Der Einsiedler der Truppe. Sein Profil stach heraus – auch dann, wenn jeder in ein rotes Hemd mit schwarzer Krawatte gekleidet war, entkam er der Uniformität.

Am 21. April erlag Schneider-Esleben einer kurzen Krebserkrankung, und zwei Wochen später wurde er in einem Urnengrab im engsten Kreis der Familie beigesetzt. Die Nachricht von seinem Tod erreichte die Öffentlichkeit erst nach der Beisetzung. Fans in aller Welt verneigten sich vor einem Künstler, der sein Vermächtnis und seinen Humor in drei Worte zu kleiden wusste: Boing boom tschak – und sein Credo schon im Text von «Music Non Stop» versteckte: Es wird immer weitergehen, Musik als Träger von Ideen.

Rüdiger Esch war zwanzig Jahre lang Bassist der Düsseldorfer Elektronikband Die Krupps und kannte Florian Schneider-Esleben persönlich. Er ist Autor des Buchs «Electri_City. Elektronische Musik aus Düsseldorf», das 2014 bei Suhrkamp erschienen ist.