Flüchtlingspolitik: Wenn Staaten Ausschaffungen sponsern

Nr. 40 –

Die EU-Kommission hat in Brüssel ihren lang erwarteten Migrationspakt vorgestellt. Im Zentrum stehen Schnellverfahren in geschlossenen Lagern, ein zynischer Mechanismus – und ein überraschender neuer Posten.

Die EU setzt weiter auf ihren katastrophalen «Hotspot»-Ansatz: Das neu errichtete Lager Kara Tepe auf Lesbos. Foto: Grigoris Siamidis, Getty

«Human und effektiv» solle die Flüchtlingspolitik der EU von nun an sein, den Neustart einleiten für ein «nicht mehr funktionierendes System»: So versprach es Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bei der Präsentation ihres Migrationspakts vor einer Woche. Was sie und ihre KollegInnen dann vorstellten, war das Gegenteil davon.

Im Grunde ist das Papier mit dem nüchtern-bürokratischen Titel «New Pact on Migration and Asylum» ein Plan der weiteren Entrechtung von Menschen, die in Europa Schutz suchen. Denn wer sich durch den 28-seitigen Text liest, merkt schnell: In erster Linie geht es darum, Geflüchtete mit wenig oder keinen Aussichten auf Asyl möglichst schnell wieder loszuwerden.

Der neue Pakt der EU lässt sich auf eine kurze Formel bringen: abschotten, abschrecken, ausschaffen. Aber wie kam es zu diesem Gesetzesentwurf? Was bezweckt die Kommission mit ihrem Plan? Und wie geht es jetzt weiter?

Die Ausgangslage

Dass die aktuelle europäische Migrationspolitik nicht funktioniert, wie von der Leyen es in Brüssel selbst sagte, ist keine neue Erkenntnis; spätestens im Flüchtlingssommer 2015 wurde die Fehlkonstruktion offensichtlich. Basierend auf der Dublin-Verordnung, die auch die Schweiz unterzeichnet hat, müssen Schutzsuchende dort Asyl beantragen, wo sie erstmals die EU-Grenze passieren. Entsprechend sind an den Aussengrenzen gelegene Länder wie Griechenland oder Italien gegenüber Binnenstaaten wie Deutschland oder der Schweiz im Nachteil. Wie sich Geflüchtete solidarisch verteilen lassen, ist seit Jahren ein Streitpunkt.

Gerade die mittel- und osteuropäischen Visegrad-Mitglieder Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakei weigern sich schon lange, Geflüchtete aufzunehmen. An ihrem Unwillen scheiterte 2016 auch der erste Versuch der Kommission, ein gemeinsames Asylsystem zu etablieren, die Umverteilung endete im Eklat.

Im gleichen Jahr schloss die EU einen Deal mit der Türkei ab: Gegen Milliardenzahlungen aus Brüssel erklärte Ankara sich bereit, Flüchtende von Europa fernzuhalten. Das Kernstück dieser Politik ist der sogenannte Hotspot-Ansatz – Lager an den Aussengrenzen, in denen die Asylsuchenden ihr Verfahren durchlaufen. Als Vorzeigecamp dieses Konzepts galt Moria, wo die Menschen seit Jahren unter unwürdigen Bedingungen lebten. Der Brand, der das Camp vor drei Wochen fast komplett zerstörte, war ein Symbol für die Unmenschlichkeit dieser Politik.

Wie unberechenbar für die EU Abkommen mit Drittstaaten wie der Türkei sind, zeigte sich etwa diesen Winter, als Präsident Recep Tayyip Erdogan einseitig die Grenzen öffnete. Als Folge der Provokation setzte Griechenland das Recht auf Asyl vorübergehend ganz aus, die Leidtragenden in diesem Machtspiel waren einmal mehr die Flüchtenden.

Mit dem neuen Pakt soll «den unterschiedlichen Interessen Rechnung getragen werden», verkündete von der Leyen. Und so ist der Plan auch das Produkt miteinander unvereinbarer Interessen – eine Quadratur des Kreises, die bisherige Streitpunkte nicht aufzulösen vermag und bei der die Rechte der Flüchtenden auf der Strecke bleiben.

«Der ‹New Pact› hätte eine notwendige Wende einläuten können, doch der Schutz von Menschen steht nicht im Mittelpunkt der Pläne der Kommission», schreibt die deutsche Menschenrechtsorganisation Pro Asyl in einer Stellungnahme. Man könnte es auch so sagen: Das Neue an dem Pakt ist, dass er altbekannte Grausamkeiten bündelt.

Der Plan

Man müsse sich die neue europäische Flüchtlingspolitik als «Haus mit drei Säulen» vorstellen, sagte Kommissionsvizepräsident Margaritis Schinas bei der Präsentation. Im Zentrum stünden neben Partnerschaften mit Drittstaaten auch ein «robustes Management der Aussengrenzen» und «strenge, aber faire Solidaritätsregeln». Doch was bedeuten diese Worthülsen genau?

Die Verfahren: Künftig soll jener Staat, in dem eine Person europäischen Boden betritt, ein sogenanntes «pre-entry screening» von fünf Tagen organisieren: eine Vorüberprüfung, bei der Fingerabdrücke genommen werden, Gesundheits- und Sicherheitschecks stattfinden.

Wer aus einem Land mit einer tiefen Anerkennungsquote kommt, soll im Anschluss ein dreimonatiges «Grenzverfahren» durchlaufen. Dafür brauche es nicht einmal die Einreise auf das Territorium eines Mitgliedstaats, heisst es dazu im Kommissionspapier. Bei Ablehnung beginnt dann ein Rückführungsverfahren, das ebenfalls maximal drei Monate dauern soll.

Wer für das Schnellverfahren zuständig ist, lässt das Papier offen – ebenso wie die Frage, wo genau es stattfinden soll. Die Ausführungen laufen aber auf haftähnliche Bedingungen für mehrere Monate hinaus. Menschenrechtsorganisationen gehen zudem davon aus, dass die verkürzten Verfahren zu Rechtsunsicherheit führen, da die gründliche Prüfung von Fluchtgründen mehr Zeit in Anspruch nimmt. Und wer nicht ausgeschafft werden kann, muss wohl in den Camps verharren. Pro Asyl spricht denn auch von einem «Zweiklassen-Asylsystem».

Damit setzt die EU weiterhin auf ihren «Hotspot»-Ansatz, der überhaupt erst zu den katastrophalen Zuständen auf den Ägäisinseln geführt hat. Ein Vorposten dieser Politik ist auch das neue geschlossene Lager auf Lesbos, das nach dem Brand von Moria innert Tagen hochgezogen wurde.

Die Umverteilung: «Wir haben einen Schlussstrich unter das Dublin-System gezogen», kündigte Margaritis Schinas in Brüssel an. Ein Blick auf den Gesetzesentwurf legt einen anderen Schluss nahe: Nach wie vor bleibt die Verantwortung für die Asylverfahren beim Erststaat, das Dublin-System somit weitestgehend intakt. Eine Neuerung gibt es dann aber doch: Falls innert kurzer Zeit viele Geflüchtete ankommen, kann ein Land – auch so ein bürokratischer Euphemismus – den «Solidaritätsmechanismus» in Kraft setzen.

Die Staaten haben dabei die Wahl, entweder Geflüchtete aufzunehmen oder sogenannte «return sponsorships» zu übernehmen. Die Kommission rechnet aus, wie viele Menschen ein Land aufnehmen müsste. Ersatzweise kann sich dieses Land aber auch um die Ausschaffung der gleichen Anzahl Personen kümmern. Der Mechanismus ist der wohl perfideste Teil von Ursula von der Leyens Pakt.

Der neue Posten: Bei den Rückführungen helfen soll den Ländern der «return coordinator», der dabei durch Frontex unterstützt wird. Zurzeit wird die Grenzschutzagentur der EU massiv ausgebaut, in diesem Rahmen soll auch die Schweiz ihren Beitrag um ein Vielfaches erhöhen.

Die Folgen

Eine engere Zusammenarbeit mit Drittstaaten, Schnellverfahren in geschlossenen Lagern, Patenschaften bei Ausschaffungen: Mit ihrem Migrationspakt ist Ursula von der Leyen jenen in der EU weit entgegengekommen, die überhaupt keine Geflüchteten aufnehmen wollen. Trotzdem zeigten sich die Vertreter der Visegrad-Staaten unzufrieden. Ungarns Premier Viktor Orban plädierte einmal mehr für Hotspots ausserhalb der EU – ein Vorschlag, der seit Jahren kursiert und aus diversen Gründen nicht umsetzbar ist.

Die Reaktion aus Budapest ist insofern wenig überraschend, als Orban seine innenpolitische Legitimität aus seiner harten Linie in der Migrationspolitik bezieht. Und auch Hardliner Sebastian Kurz erteilte dem Plan schon im Vorfeld eine Absage: Solidarität habe in der Migrationsdebatte keinen Platz, verkündete der österreichische Kanzler.

Zufrieden zeigten sich hingegen Deutschlands Innenminister Horst Seehofer und FDP-Justizministerin Karin Keller-Sutter. «Ein besserer Schutz der Aussengrenzen, eine gemeinsame Rückkehrpolitik und Verfahren an der Grenze: Das ist die Stossrichtung, die auch die Schweiz immer gefordert hat», freute sich Keller-Sutter im SRF sichtlich.

Ob der neue Plan umsetzbar ist, steht in den Sternen. Als Nächstes werden sich Rat und Parlament mit der Vorlage befassen. Die erste Bewährungsprobe steht dabei nächste Woche an: Am 8. Oktober wird der Entwurf Thema beim Justiz- und InnenministerInnentreffen in Brüssel sein, zu dem auch Keller-Sutter anreist. Die nötigen Mehrheiten zu organisieren, dürfte schwierig werden. An der desolaten Situation jener, die nach Europa flüchten, ändert er ohnehin wenig.