Corona: Blödsinnige neue Normalität

Nr. 43 –

Die zweite Infektionswelle wirft uns zurück in die Wirren der Pandemie. Wie überstehen wir das? Fünf persönliche Strategien zum Umgang mit dieser Zumutung namens Covid-19.

1. Blanchieren Sie, panieren Sie

Zugegeben, der Vorschlag ist enorm erwartbar: Kochen Sie! Schälen Sie, rüsten Sie, hacken Sie! Schmoren Sie, blanchieren Sie, panieren Sie! Legen Sie ein, braten Sie an, garen Sie durch! Drapieren Sie, verzieren Sie, servieren Sie! Auch Backen ist erlaubt, meinetwegen sogar einmal ein Brot.

So erwartbar der Ratschlag klingen mag, so praktisch ist sein Nutzen in diesen Wochen und Monaten des Rückzugs: Beim Kochen muss man irgendwann das Smartphone aus der Hand legen und kann nicht länger die neusten Coronakurven verfolgen. Wobei, ein Foto sollten Sie schon machen, in den sozialen Medien lieben die Menschen Kochbilder. Warum wohl? Ist doch klar, weil die Menschen gerne essen, die Fitnessstudios sind ohnehin nicht mehr so gefragt.

Das Kochen hat aber auch einen politischen Zweck. Wer Rezepte ausprobiert, plant letztlich für jenes Fest, das kommen wird, wenn die Pandemie vorbei ist. Sich die Vorstellung von Gastfreundschaft zu bewahren, ist in diesen Tagen des notwendigen Abstands doch das Wichtigste. In diesem Sinn sind auch die Kochbücher von Yotam Ottolenghi empfohlen, auch wenn der Starkoch aus London furchtbar in Mode gekommen ist. Denn in seiner Küche macht Ottolenghi eigentlich das, was hier in jedem zweiten Leitartikel steht: Er erfindet das Mittelmeer als Begegnungsraum neu, verbindet die italienische Küche mit der marokkanischen mit der israelischen. Also los: Mischen Sie, pürieren Sie, verquirlen Sie! Vergessen Sie aber bloss nie Yotams Lieblingszutat: das Rosenwasser.  

Kaspar Surber

2. Schliessen Sie sich ein

Ende Januar, Flughafen Hongkong. Alle tragen Maske. Covid-19 ein chinesisches Problem. Ende März, Suvarnabhumi Airport, Bangkok. Flüge gestrichen. Am Check-in einer Airline, die noch fliegt, drängt sich eine maskenlose Masse. Flughafen Zürich. Ankunft im Lockdown. Direkt in die Quarantäne. Gespensterstadt.

Covid ist inzwischen ein europäisches Problem und ein persönliches. Einen Monat in einer Pension ohne Kochgelegenheit. Freunde kaufen ein. Man gibt sich den Freuden der Bildschirmarbeit hin. Mitte April. Zurück in die Wohngemeinschaft. Ins eigene Zimmer! Kochen! Gespräche! Die Arbeit als Halt und Verbindung zur Aussenwelt. Als mehrfach Gefährdeter bleibt man strikt zu Hause. Mitte April. Ein Kontrolltermin im Spital ist abgesagt. Mai. Zaghafte Spaziergänge. Freunde treffen im Park beim Bier. Die neue Normalität. Was für ein blödsinniger Begriff. Nun sagt man selber den nächsten Kontrolltermin im Spital ab. Die Fallzahlen sinken. Mitte Mai. Knall auf Fall Ende des Lockdowns. Selber verharrt man in diesem Modus. Die Ausflüge zu Fuss auf den Züriberg häufen sich. Homeoffice belastet, Distanztreffen mit Freunden entlastet.

Ende September. Umzug in eine andere Stadt. Nun kein Ausweichen mehr: raus in die Welt, die Angst überwinden. Es gibt keine Zauberformel gegen eine Ansteckung, bloss Wahrscheinlichkeit und Vernunft: Zugfahren ausserhalb der Rushhour, Massen meiden, Hände waschen, Maske tragen. Die Folgen eines Unfalls machen sich bemerkbar. Unbedingt Kontrolltermin im Spital vereinbaren, trotz dramatisch steigender Fallzahlen Ende Oktober.   

Andreas Fagetti

3. Versorgen Sie Ihre Kinder vor dem Fernseher

Die bangste Frage vieler Eltern lautet derzeit: Bleiben die Schulen und Kindergärten weiterhin offen? Während des Lockdowns im Frühjahr war es für unzählige Familien eine riesige Herausforderung, nicht zwischen Homeoffice und Betreuung aufgerieben zu werden.

Nun, wo Homeoffice wieder dringlich ist, droht die erneute Überforderung. Da sind die Erfahrungen aus dem Frühjahrslockdown hilfreich. Wenn bei uns zu Hause (zwei Jungs, sechs und drei Jahre alt) mal wieder eine wichtige Sitzung oder eine Deadline anstand, dann verschaffte – ehrlich gesagt – vor allem eines Ruhe: Fernsehen. Anfangs liess ich sie gucken, was sie gerade wollten, und es war zur Hölle fast immer «Paw Patrol». Danach waren sie so aufgekratzt, dass es kaum auszuhalten war. Zum Glück hab ich dann ZDF tivi entdeckt (gibts auch als App), das ein wirklich gut kuratiertes Kinderprogramm anbietet. Die Serien und Filme sind weniger schnell geschnitten und auch weniger handlungsreich, die Jungs drehen nach zwei Folgen «Lassie» oder «Petronella Apfelmus» deutlich weniger durch.

Bewährt haben sich auch Ausflüge in die Bibliothek. Dort kann ich die Jungs gut mal eine halbe Stunde alleine in der Kinderbuchecke sitzen lassen, während ich Mails schreibe oder Zeitungen lese.

Dort haben wir auch die grossartigen Olchis entdeckt: eine Art grüne Kobolde, die auf einer Müllhalde leben, furzen, im Dreck spielen, Unordnung machen und Dinge sagen wie «Muffelfurzteufel» oder «Spotz-Rotz». All die schönen Dinge also, die wir unseren Kindern ständig ausreden. 

Jan Jirát

4. Rocken Sie den Videocall

Wenn Sie Musik unbedingt als Soundtrack für die häusliche Isolation missbrauchen müssen, dann gehen Sie doch auf Spotify – dort gibt es unzählige Playlists zwischen produktivem Tagwerk («Covid-19 Work at Home») und verdientem Feierabend («Quarantine Chill»). Nein, mal im Ernst: Gibt es die Musik, die genau dieses spezifische Gefühl unterstützt, das uns überkommt, wenn wir zu Hause festsitzen, weil draussen wieder Tanzverbot herrscht? Man könnte hier vieles empfehlen – die neue von Anna von Hausswolff, für den Widerhall des Unheimlichen; die neue von Kevin Morby, für die vertraute Intimität; die neue von Autechre, für die Wärme im Klinischen. Passt alles irgendwie zum Lockdown.

Doch abgesehen davon, dass Musik die Geister der Einsamkeit vertreiben kann, wenn sie uns irgendwohin fortträgt oder uns als vertraute Stimme gut zuredet, kann sie uns vielleicht sogar direkt verbinden, wenn auch nicht vor einer Bühne. Wie Franz Hohler 1970 sang: «Bist du traurig und verzweifelt, dann sei getrost, nimms nicht zu schwer, denn irgendwo auf dieser Erde sitzt immer irgendwer und macht ein bisschen Hausmusik.» Wenn Sie keine musikalisch begabten NachbarInnen haben, denen Sie lauschen können, oder nicht mit Ihrer Band in einer WG leben, machen Sies doch wie die Stones im letzten Lockdown und rumpeln ein bisschen zusammen durch den Videocall, punkige Latenz inklusive. Im besten Fall klingt es dann wie auf «How I’m Feeling Now», das die britische Popsängerin Charli XCX zu Hause im Austausch mit ihren Fans und musikalischen PartnerInnen produzierte – digital, aber gemeinschaftlich.  

David Hunziker

5. Stehen Sie bloss nicht still (oder vielleicht doch)

Man sollte den Stillstand nicht schönreden. Oft trifft einen das Glück unterwegs, im Zug etwa zwischen einem bewältigten Interviewtermin und der Aussicht auf einen Konzertabend. Schönes beschleunigtes Leben. Die Coronakrise bremst uns radikal und zwangsläufig ab. Das hat nichts mit dem Lifestyletrend des Entschleunigens zu tun, mit Online-Detoxing oder Yoga-Retreat. Diese Krise trennt uns von unserem gewohnten Leben, sie schränkt unseren Bewegungsradius ein. Das irritiert und überfordert.

Doch liegt in dieser Irritation eine Chance. Wir stossen schliesslich auch deshalb an unsere Grenzen, weil wir ohne den Zwang, uns zu optimieren und auf bestimmte Ergebnisse zu zielen, schlecht funktionieren. Was bleibt von uns übrig, wenn die Terminkalender leerer werden und die To-do-Listen kürzer? Wie werden wir im Stillstand das Gefühl los, dass eigentlich viel zu tun wäre? Der Soziologe Hartmut Rosa antwortet darauf mit dem schönen Begriff der «Anverwandlung der Welt». Er meint damit nicht das überstrapazierte Entschleunigen, sondern die Chance auf mehr Unmittelbarkeit. Wenn wir weder in die Zukunft planen noch weit wegreisen könnten, bleibe uns nichts übrig, als unseren «Nahbereich anders zu erleben».

Was wir in diesem langen Winter tun sollten? Viel mit unseren Liebsten reden. Tage ohne Ziel verbringen. Aushalten lernen. Und offen sein für das Neue, das in diesem beängstigend unkontrollierbaren Raum entstehen kann.  

Sarah Schmalz