Geflüchtete: «Bleibt ihr über den Winter hier?»

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In Bosnien frieren Tausende Menschen im Schnee. An der EU-Aussengrenze werden sie mit Gewalt abgewiesen, über Weihnachten wurde ein Flüchtlingslager geschlossen. Und doch gibt es Menschen, die helfen.

«Sogar meine engsten Freunde halten mich für verrückt»: Die Bosnierin Jasmina Jusic ­unterstützt Geflüchtete, die in einer alten Fabrikhalle in Velika Kladusa Zuflucht suchen.

Das Handy blinkt und blinkt. Nachricht um Nachricht leuchtet auf dem Display. Die Namen Muhammad, Khan oder Abdellah erscheinen.

Doch Jasmina Jusic (Name geändert) hat ihr Smartphone für einmal nicht in der Hand. Gerade wühlt sie, den Arm bis über den Ellenbogen versenkt, in einem Umzugskarton voll mit Pullovern. Es müffelt nach Altkleidern im Lagerraum mit den verklebten Fenstern. Bis unter die Decke türmen sich Hunderte Kartons, die von LKWs aus Österreich hierhergebracht wurden. Die meisten sind beschriftet: Herrenschuhe, Sweater oder Kinderstrumpfhosen. Jasmina weiss genau, wo sie feste Schuhe findet, wo die Schlafsäcke stecken oder die Decken liegen. «Die Decken sind in der Kälte wichtig, auch zum Umhängen. Vor allem für die Bangladescher, die wickeln sich gern darin ein», sagt die 34-Jährige, deren Bewegungen auch im Kartonchaos geordnet wirken. «Ich bin nur froh, dass jetzt wieder genug da ist. Es sieht nach viel aus, wird aber nicht lange reichen.»

Jusic schielt auf ihr Handy und zupft einen rostroten Strickpullover aus einer Kiste. «Ob der auch für Männer passt?», murmelt sie, kramt weiter und zerrt einen dunklen Sweater hervor. «Manche hätten am liebsten schwarze Pullover, weil die in der Nacht am besten für das ‹Game› sind.» Jusic stopft den Pullover in einen blauen Müllsack, klebt den Sack zu und schaut auf ihre handgeschriebene Liste. «7 people, clothes, 4 M / 3 L» steht dort. Zuletzt schreibt sie einen Namen auf das Klebeband: Muhammad. Das war der letzte Sack für die Lieferung. Jusic wirft sechs prall gefüllte Säcke in den Kofferraum, auf die Rückbank und den Beifahrersitz ihres Autos – für die Menschen draussen im Wald.

An der kroatischen Grenze

Jasmina Jusics Auto ist in einer Seitenstrasse der Kleinstadt Velika Kladusa parkiert. Die Gemeinde mit 44 000 EinwohnerInnen liegt in der Hügellandschaft am nordöstlichsten Zipfel des Kantons Una-Sana, am Ende Bosniens und am Anfang der Europäischen Union. Von der Burg im Zentrum der Stadt sieht man die Europaflagge vor dem Grenzübergang Maljevac wehen – und hinüber nach Kroatien.

Genau dorthin wollen die Tausende, die vor Krieg und Armut geflohen sind oder für ein besseres Leben ihre Heimat verlassen haben. Die Uno-Flüchtlingsagentur UNHCR hat seit 2018 die Ankunft von fast 68 000 Menschen in Bosnien und Herzegowina verzeichnet. Die meisten bleiben hier stecken, weil die kroatische Grenzpolizei sie systematisch und oft gewalttätig immer wieder zurückdrängt. Wer nicht weiterkommt, sitzt dann in einem der überfüllten Flüchtlingslager fest. Unweit von Velika Kladusa liegt das Camp Miral. Wer dort keinen Platz findet, muss ohne Versorgung in Abbruchhäusern oder im Wald schlafen – und bricht von dort zum «Game» auf, um irgendwie doch in die EU zu gelangen.

Jasmina Jusic fährt durch ein Wohngebiet, vorbei an Rohbauten und Autos mit österreichischen und deutschen Kennzeichen. Dann hält sie bei einem Bach, der nach den Schneefällen überquillt. Müll hängt in den Sträuchern, Hemden und Hosen zum Trocknen über dem Brückengeländer. «In diesem Bach waschen die Männer ihre Wäsche. Dort oben sind die Zelte», sagt Jusic und deutet auf den Hügel hinter der Brücke. Sie schlüpft in ihre Gummistiefel und stapft durch schwarzen Matsch die Böschung hinauf. Dann steht sie zwischen dünnen Bäumen, Plastikplanen und Müllhaufen. Ein Mann streckt seinen Kopf aus einem Zelt. Jusic fragt, wie es ihm gehe. «Good, but cold», sagt der Mann und zieht sich wieder in seinen Verschlag zurück. Jasmina hockt sich hin, um unter die Äste und Plastikplanen zu schauen. Darunter liegen drei junge Männer, in ihre Schlafsäcke gehüllt. «Kein Game?», fragt Jasmina. «Bleibt ihr über den Winter hier?» Die Männer nicken, es sei einfach zu kalt – und der Versuch, die Grenze zu überqueren, jetzt noch gefährlicher.

Obwohl es ihr Recht ist, in der EU einen Asylantrag zu stellen, bleibt den Geflüchteten in Bosnien meist nur der gefährliche Weg über die grüne Grenze. Jeden Tag, wenn es dunkel wird, beginnt für viele der Marsch durch die Berge. Die meisten werden jenseits der Grenze von der Polizei aufgegriffen und wieder nach Bosnien zurückgebracht – ohne Überprüfung, ob sie asyl- oder aufenthaltsberechtigt wären. Oft werden sie verprügelt und ohne Schuhe wieder über die Grenze zurückgetrieben. Das «Spiel» endet da, wo es begonnen hat: in Jasmina Jusics Nachbarschaft.

Nebenan knacken Feuer. Ein Mann im Kapuzenpullover hockt vor einem rostigen Ofen. Zwei andere, die Füsse in schlammigen Sandalen, strecken ihre klammen Finger über den Flammen. Die Männer aus Bangladesch sind froh, Jusic zu sehen. Vor dem Winter seien wohl etwa 400 Leute hier im Wald gewesen, sagt die Helferin. Jetzt sind es gerade mal ein paar Dutzend. Jene, die länger hier hausen, lernt Jusic zuweilen näher kennen: «Ich habe einen algerischen Freund, der jetzt in London ist. Wir haben so viel durchgemacht auf seinem Weg von Kladusa nach London. So viele Stunden telefoniert. Für mich ist er jetzt wie ein Familienmitglied.»

Es gibt auch Erinnerungen, die schmerzen: Eines Tages bekam Jusic Fotos geschickt, die einen Flüchtling tot zeigen. Er sei gestorben, weil er durch ein Fenster ins Camp klettern wollte, um dort zu duschen, sagt sie. Dabei sei er ausgerutscht und habe sich das Genick gebrochen.

An diesem Nachmittag richten sich Neuankömmlinge in Behausungen im Wald ein. «Wir sind aus Lipa gekommen», sagt einer. «Das Camp hat gebrannt», ein anderer. Achtzig Kilometer lang ist der Marsch aus Lipa nach Velika Kladusa, durch den Schnee und über die Hügel. Das Lager war einen Tag vor Weihnachten von der Internationalen Organisation für Migration geräumt worden, weil die bosnischen Behörden ihre Zusagen nicht eingehalten hatten, es winterfest zu machen. In der Folge waren 1300 Menschen schutzlos dem Schnee und der Kälte ausgesetzt. Daraufhin brannten Zelte, mutmasslich von BewohnerInnen angezündet. Die Polizei hinderte die Menschen daran, in die Stadt Bihac zu gelangen. Hilfsorganisationen teilten auf offenem Feld Schlafsäcke und Lebensmittel an die obdachlosen Menschen aus.

Keine Chance mit Kindern

Auch hier im Wald kann sich Jasmina Jusic auf MitstreiterInnen verlassen. Die AktivistInnen der Hilfsorganisation SOS Balkanroute aus Österreich und Deutschland verteilen Essen, Kleidung und Schuhe. Meist im Schutz der Dunkelheit, im Schein ihrer Stirnlampen. Wenn nicht in der versteckt gehaltenen Küche gekocht wird, verteilen sie Reis, Linsen, Zwiebeln und Öl zum Selberkochen. Geflüchtete ausserhalb des offiziellen Camps sind auf diese Lebensmittel angewiesen, auch weil einige Supermärkte sie nicht mehr einkaufen lassen und Restaurants sie nicht bewirten.

Es gebe schon Leute, die genug von den Geflüchteten hätten, weil bei ihnen eingebrochen oder von ihren Feldern gestohlen worden sei, berichtet Jusic. Diese seien aber in der Minderheit. Dennoch: Über Flüchtlinge zu sprechen, sei schwierig in Kladusa. «Du weisst nie, was jemand darüber denkt und ob sie es gut finden, wenn du hilfst.»

Auf dem Weg zur vereinbarten Sackübergabe fährt Jusic am offiziellen Camp Miral vorbei, das überfüllt ist. Unweit des Lagers parkiert sie den Wagen vor einem Einfamilienhaus. «Salam aleikum!», grüsst ein Mann mit Zahnlücken. Jusic sucht den passenden Müllsack und hört die Kinder im Haus. Der Mann sei mit seinen zwei kleinen Töchtern aus dem Irak hierher geflohen, erzählt sie. Seit fast zwei Jahren sitze er hier fest, seine Frau sei mit zwei anderen Kindern bereits in Deutschland: «Mehr als vierzig Mal ist er mit seinen Töchtern zum Game aufgebrochen, aber mit den Kindern hat er keine Chance.»

Die irakische Familie kennt Jusic, seit das alles hier begann. Das war im März 2018. Seither ist Jusic fast jeden Tag nach dem Unterricht unterwegs und erhält immer mehr neue Nachrichten – auch weil ihre Nummer unter den Geflüchteten weitergegeben wird, um an warme Kleidung zu kommen. Nur wenn sie nicht gerade in Kladusa sei, habe sie Pause vom Helfen. «Sogar meine engsten Freunde halten mich für verrückt», sagt Jusic.

Dabei sei es quasi illegal, den Menschen Kleidung oder Essen zu bringen, sagt sie. Der Kanton Una-Sana untersagt privaten HelferInnen, weiter Unversorgte zu unterstützen. Nur die Internationale Organisation für Migration und das Rote Kreuz dürfen helfen, solange sie in den offiziellen Camps arbeiten. Das Border Violence Monitoring Network berichtet von Fällen, bei denen Verteilungen durch HelferInnen von der Polizei verhindert, Freiwillige auf Polizeistationen festgehalten und Ausrüstung beschlagnahmt wurden. Eine Kollegin von ihr, erzählt Jusic, sei auf der Strasse beschimpft und beim Einkauf von Hilfsgütern fotografiert worden. Jusic selber dagegen ist bislang noch nicht in Schwierigkeiten mit der Polizei geraten – auch nicht, als sie mit vollbepacktem Auto in eine Verkehrskontrolle geriet. Auch wurde sie noch nie bedroht – wohl auch, weil sie nicht auf Facebook über ihren Freiwilligendienst postet. Sie will deshalb auch nicht, dass ihr richtiger Name in der Zeitung steht.

Klar gegen EU-Recht

Gab es anfangs an der Grenze noch eine breite Solidarität für die Geflüchteten, bröckelt diese zusehends: Immer wieder fordern BürgerInnen die Schliessung der Lager. Im vergangenen Sommer wurden Busse gestoppt, die Geflüchtete in das Camp Miral hätten bringen sollen. Und im September wurden vier Männer aus Algerien und Marokko von einer Bürgerwehr mit Messern attackiert und Häuser niedergebrannt, wo Geflüchtete Schutz suchten.

Die Pushbacks – das Zurückdrängen von Geflüchteten über die Grenze – verstossen klar gegen EU-Recht. Doch der Aufschrei anderer EU-Staaten bleibt aus – wie auch die Unterstützung für das Land, dessen BürgerInnen ohnehin unter hoher Arbeitslosigkeit und sozialer Unsicherheit leiden. Die bosnische Zentralregierung appelliert erfolglos an die Regionen, die Stadtverwaltungen fühlen sich im Stich gelassen, BürgermeisterInnen wehren sich gegen Lager. «Unser Land ist mit der Situation überfordert», sagt Miljenko Anicic, Caritas-Direktor von Banja Luka. Was es jetzt brauche, sei Soforthilfe für die Geflüchteten, damit sie über den Winter kämen.

Bevor es dunkel wird, will Jasmina Jusic weitere Säcke packen. Wie es weitergehen wird, hier an der Grenze Europas, wisse sie nicht. Pläne mache sie keine. Sie hoffe nur, dass weiter Kartons kommen würden und sie die Nachrichten nicht unbeantwortet lassen müsse – und dass der Winter nicht zu kalt werde.