Verzopfte Biografien: Von dünnhäutigen Tieren

Nr. 7 –

Rolf Lapperts sprachgewaltiger neuer Roman «Leben ist ein unregelmässiges Verb» erzählt von vier Lebensverläufen ausserhalb des Gewöhnlichen.

Freude am Fabulieren: Rolf Lappert verknüpft in seinem Roman weit ausgreifende ­Erzählungen unterschiedlichster Schicksale. Foto: Sonja Maria Schobinger

Rolf Lappert, der Langstreckenläufer unter den Schweizer Romanciers, hat ein Buch geschrieben für unsere Tage, für lange, ruhige Leseabende. Seit über einem Vierteljahrhundert scheut sich der 62-Jährige nicht vor der grossen Form; für seinen zweistrangig erzählten Roman «Nach Hause schwimmen» hat er vor zwölf Jahren den allerersten Schweizer Buchpreis gewonnen. Nun legt er mit «Leben ist ein unregelmässiges Verb» einen fast tausendseitigen Roman vor, der gleich vier parallel erzählte Coming-of-Age-Geschichten enthält: Über einen Zeitraum von rund vierzig Jahren gespannt, zeigen sie in literarisch überwältigender Fülle und mit berührender Empathie für die Figuren, wie wenig regelmässig menschliches Leben verläuft.

Frida, Leander, Linus und Ringo sind alle ums Jahr 1968 geboren und als Gruppe in einer abgelegenen Landkommune in Norddeutschland aufgewachsen – ohne jeden Kontakt zur Aussenwelt und ohne individuellen Bezug zu den hart ackernden Eltern, die bloss «die Alten» genannt werden; ohne Schule, jedoch mit viel Bildung in Naturkunde und klassischer Lektüre. Doch 1980 wird der Hof von den Behörden entdeckt: Die Erwachsenen kommen in Haft, die Kinder werden getrennt und zu Verwandten oder Pflegeeltern gebracht. Die Medien überbieten sich in Gräuelmärchen über die angebliche Gefangenschaft der Kinder.

Besser scheitern

Dies ist die Ausgangslage für Lapperts weit ausgreifende Erzählungen unterschiedlichster Schicksale. Dabei liefern, wie meist in guter Literatur, Unglück und Scheitern ungleich mehr Stoff als planes Gelingen. Das Trauma der Trennung wirkt lebenslang nach: «Frida, Leander, Linus und ich … wir waren wie ein Wesen. Was einer dachte, wussten die anderen, was einer fühlte, empfanden wir alle», sagt Ringo einmal, und weiter: «Was uns ausmacht, ist das Zurücklassen, das neu Anfangen, das Zurechtfinden und Verlorengehen. Wir müssen lernen, ich zu sein, und scheitern.» Samuel Becketts Sätze – «Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern» – fallen einem beim Lesen der geduldig ausgebreiteten Lebensentwürfe ein. «Sie wäre jetzt glücklich», heisst es über Frida, «wenn nur ihre Welt unentdeckt geblieben wäre», wenn niemand sie weggebracht «und ins Leere geworfen hätte wie einen Sack neugeborener Katzen in einen Fluss».

Um die Geschichten der vier aus Winnipeg – so nannten sie ihr Zuhause im niedersächsischen Niemandsland – in alle Richtungen verstreuten jungen Menschen zu erzählen, zieht Rolf Lappert alle Register modernen Erzählens. Er berichtet weder chronologisch noch linear, sondern verzopft die Schicksale; als Lesende springen wir – mit geschickten Cliffhangern geleitet – vom einen zum anderen Strang. Nüchterne Rückblenden wechseln mit opulenten szenischen Erinnerungen, mit Briefen und Dokumenten. Dieser Erzähler weiss alles, doch setzt er das riesige Puzzle nur allmählich zusammen. Getragen wird das kühne Epos zuallererst von der literarischen Kraft und Schönheit, vom Reichtum der Bilder und Erfindungen, von Fabulierfreude und dramaturgischer Stringenz.

Unstet und rebellisch

Die Geschichte vom leicht autistischen Leander setzt unmittelbar nach der Vertreibung vom Hof ein. Wir folgen ihm zu seiner Tante, durch höchst gegensätzliche Internatserfahrungen – mal autoritär-bildungsbürgerlich, mal alternativ-zeitgeistig –, bis ihm eine Art Schriftstellerkarriere aufoktroyiert wird, nachdem Beerbaum, der umtriebige Käufer des verlassenen Anwesens, Tagebuchnotizen der vier Kinder gefunden und daraus einen Bestseller modelliert hat. Von Ringo hingegen erfahren wir erst, als er schon fünfzig ist und sich in klugen «Auskünften» einer Journalistin mit türkischen Wurzeln anvertraut.

Linus wiederum wird der Rummel nach der angeblichen Befreiung rasch zu viel. Er täuscht einen Suizid vor, um fast bis zum (überraschenden) Schluss unerkannt zu leben. Frida schliesslich, das einzige Mädchen, führt ein unstetes und rebellisches Leben. Ihre Tochter Ada wächst in den Niederlanden auf und tritt – von einem alten Poeten freundschaftlich betreut – im Roman selbst als Schriftstellerin auf. Dies erlaubt Lappert, sich kritisch, auch selbstironisch, mit Verwerfungen des Literaturbetriebs auseinanderzusetzen.

Über die vier ProtagonistInnen heisst es im Buch einmal: «Wir sind Ameisen vor dem Regen, Kröten, die aus der Erde kriechen. Wir wissen nichts von der Welt, wir sind dünnhäutige Tiere, wir sind fiebrige Pferde und aufgeregte Ziegen, wir sind wirbelnde Vögel, die uns von oben sehen. Wir sind ruhelose Hofhunde, die an der Kette zerren und winseln, weil der Mond auf die Erde stürzt.» Entscheidend dafür, dass man trotz des fordernden Umfangs des Buchs dranbleibt, sind nicht nur Sorgfalt, Humor und die Vielfalt der Lebenswelten, die Lappert uns zeigt, sondern vor allem die Zuneigung des Autors zu den vier aus ihrem Paradies Vertriebenen.

Rolf Lappert: Leben ist ein unregelmässiges Verb. Roman. 992 Seiten. 47 Franken. Carl Hanser Verlag. München 2020