Rechter Terror: Wenn der Rechtsstaat sich wegduckt

Nr. 37 –

Erinnerung als politische Praxis: Dreissig Jahre nach dem Pogrom in Hoyerswerda muss in Deutschland die Aufklärung rassistischer Taten noch immer gegen den Staat erkämpft werden. Ein paar Gedanken zur Bedeutung der Opferinitiativen.

  • «Hoy Woy verteidigen»: In Hoyerswerda hatte die rechtsextreme Szene 1991 gesehen, wie sich durch Taten Politik prägen lässt.
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«Vier Jahre nach dem Anschlag von Mölln: In Lübeck sterben zehn Menschen. Wir sammeln für sie: Spenden und Verdachtsmomente, tagelang. Zwei Wochen später hat der Mantel der Geschichte seine Arbeit getan, das Vergessen trägt den Namen ‹Nachrichtensperre›.»
Roger Willemsen, «Verlegenheitsbewältigung» (2011)

Deutsche Brandsätze, deutsche Kontinuitäten. Manuel Nhacutou erinnert sich noch genau an jenen Tag vor dreissig Jahren, als die Gewalt eskalierte. «Vor unserem Haus sah ich massenhaft Leute mit Stöcken, Flaschen und Steinen. Die Krawalle hätten nie ein solches Ausmass erreicht, wenn die Polizei etwas getan hätte, stattdessen kamen sie mit zwei Autos, stellten sich in eine Ecke und schauten dabei zu, wie wir uns gegen die Skinheads wehrten. Dann spitzte sich die Situation zu, es kamen immer mehr, sie hatten Verstärkung geholt. Die meisten Angreifer waren unsere Nachbarn und Arbeitskollegen, die Bevölkerung von Hoyerswerda, viele Jugendliche. Ihre Eltern standen hinter ihnen, grölten und klatschten in die Hände. Ich habe viele von ihnen erkannt.»

Nhacutou kam zu Beginn der achtziger Jahre als einer von rund 95 000 sogenannten VertragsarbeiterInnen aus Angola, Moçambique oder Vietnam in die DDR, die mit ihren «sozialistischen Bruderstaaten», wie sie diese Länder nannte, Arbeitskräfte und Wissen austauschte. Seine traumatischen Erlebnisse beschreibt er in der Webdoku «Hoyerswerda-1991.de», die zum 25. Jahrestag der rassistischen Pogrome entstand. Infolge deren ging Nhacutou nach Berlin, später wurde er nach Moçambique ausgewiesen, wo er vor einigen Jahren in Armut starb.

Gewalt gegen VertragsarbeiterInnen, Geflüchtete und alle, die als ausländisch wahrgenommen wurden, hatte es schon vor Hoyerswerda gegeben. In der DDR wurde sie von der Führung allerdings unter den Teppich gekehrt, schliesslich passte das nicht zum antifaschistischen Selbstverständnis des Landes. Der erste rassistische Mord nach der Wiedervereinigung fand derweil schon im Herbst 1990 statt: Im brandenburgischen Eberswalde schlugen Neonazis den aus Angola stammenden Amadeu Antonio Kiowa so brutal zusammen, dass er kurz darauf seinen Verletzungen erlag.

Dann kamen die Pogrome von Hoyerswerda. Fünf Tage lang befand sich die sächsische Kleinstadt im Ausnahmezustand, diente als Kulisse für Hass und Gewalt im rechtsfreien Raum. Gewalt, die die Bundesrepublik nachhaltig prägen sollte.

Urszenen rassistischer Gewalt

Am 17. September 1991 greifen Neonazis vietnamesische HändlerInnen auf dem Marktplatz von Hoyerswerda an, worauf diese in ein Wohnheim für VertragsarbeiterInnen flüchten. Daraufhin umzingeln einige Dutzend junge Männer das Heim und attackieren es mit Molotowcocktails und Steinen, während eine riesige Menge ihnen zujubelt. Tagelang geht das so, bis die Polizei – vor dem braunen Mob und dessen MitläuferInnen kapitulierend – die BewohnerInnen aus der Stadt bringt, viele werden direkt zum Flughafen gefahren. Der Rechtsstaat duckt sich weg, lässt die Pogrome einfach geschehen.

Ermutigt durch diesen Triumph, richtet sich der Hass daraufhin gegen ein Flüchtlingsheim – bis auch dessen BewohnerInnen weggebracht werden müssen. «Der Staat und seine Exekutivorgane hatten sich aus gleich mehreren Kernaufgaben – dem Schutz von schutzlosen Minderheiten sowie der Verfolgung von Straftaten – komplett zurückgezogen», konstatiert die Journalistin Heike Kleffner, die sich seit Jahrzehnten mit rechtsextremer Gewalt in Deutschland befasst und inzwischen Geschäftsführerin des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt ist, später in einem Beitrag.

Die Bilder verängstigter Menschen gehen um die Welt. Und die Ereignisse von damals werden zum Fanal. «Neonazis feierten Hoyerswerda als bundesweit ‹erste ausländerfreie Stadt› und forderten zur Nachahmung auf», schreibt der erste parlamentarische Untersuchungsausschuss zur rassistischen Mordserie der Terrorgruppe Nationalsozialistischer Untergrund (NSU) in seinem Abschlussbericht. Der Soziologe David Begrich formuliert es im Sammelband «Generation Hoyerswerda» so: «Hoyerswerda und Lichtenhagen sind die Urszenen der langen Welle rassistischer Gewalt in Ostdeutschland.» Die Erfahrung habe eine ganze Generation Jugendlicher und junger Erwachsener geprägt. Eine Prägung mit fatalen Folgen: Gerade das NSU-Trio und dessen KomplizInnen hatten in Hoyerswerda gesehen, wie sich durch Taten Politik prägen lässt.

Ein Lehrstück der Instrumentalisierung

Szenen wie in Hoyerswerda wiederholen sich in den Folgemonaten und -jahren immer wieder – und das längst nicht nur im Osten: das Pogrom auf eine Flüchtlingsunterkunft und das als Sonnenblumenhaus bekannte Wohnheim in Rostock-Lichtenhagen (August 1992); der Brandanschlag auf zwei Wohnhäuser im norddeutschen Mölln (November 1992) mit drei Toten; ein weiterer im nordrhein-westfälischen Solingen (Mai 1993), bei dem fünf Menschen ermordet werden. Ortsnamen werden zur Chiffre. Hinzu kommen unzählige Angriffe, die es nicht in die Schlagzeilen schaffen.

Der Boden, der damals gelegt wird, führt in den nuller Jahren zum Terror des NSU, der neun Menschen mit Migrationsgeschichte und eine Polizistin ermordete, drei Sprengstoffanschläge und diverse Raubüberfälle beging. Die Anschläge auf eine Synagoge und einen Kebabimbiss in Halle im November 2019 und der rechtsextreme Terrorakt in Hanau kurz vor Ausbruch der Coronapandemie sind nur die neusten Exzesse rassistischer Stetigkeiten. Laut Schätzungen sind in Deutschland in den letzten dreissig Jahren rund 200 Menschen von Rechtsextremen umgebracht worden.

Spätestens nach Hoyerswerda wurde der migrantischen Bevölkerung im frisch wiedervereinigten Land und allen, die sich den Nazis entgegenstellten, klar, dass sie in Gefahr sind. Der Anschlag von Hanau zeigt schmerzlich, dass sich an dieser Tatsache wenig geändert hat. Eine weitere Kontinuität dieser ganzen Jahre ist das Versagen des Staates. Das Beispiel der Pogrome von Rostock-Lichtenhagen im August 1992 ist ein Lehrstück darüber, wie man erst Tatsachen schafft – und diese anschliessend populistisch instrumentalisiert. Dass die Behörden die Kapazitäten der Flüchtlingsunterkunft nicht erhöhten, obwohl immer mehr Menschen eintrafen, führte dazu, dass Asylsuchende im Freien schlafen mussten. «Die Bilder, die später zur Rechtfertigung des Pogroms benutzt wurden, wurden so erst geschaffen», schreibt Heike Kleffner.

Aufgestachelt von «Das Boot ist voll»-Schlagzeilen gab die Regierung Kohl dem Druck der Rechtsextremen nach, die keine AusländerInnen dulden wollten. 1993 verabschiedete das Parlament den von Union und SPD beschlossenen «Asylkompromiss» – und schaffte damit praktisch das Recht auf Asyl ab. Die Regierung begründete dies mit dem Willen der Bevölkerung.

Seither wird die Gefahr von rechts systematisch verharmlost – und die Betroffenen werden kriminalisiert. Das wohl anschaulichste, wenn auch bei weitem nicht einzige Beispiel ist der Umgang mit den Opfern des NSU: Bis die Terrorbande im Jahr 2011 aufflog, stocherten die Behörden jahrelang im Umfeld der Ermordeten, schrieben die Taten wahlweise der türkischen Mafia oder der Kurdischen ArbeiterInnenpartei (PKK) zu, die Medien prägten den Begriff «Dönermorde». Dabei hatten die Angehörigen der Opfer immer auf den rechtsextremen Hintergrund der Taten hingewiesen. «Jahrelang und selbst nach der Selbstenttarnung wurden diese Stimmen ignoriert oder als Verschwörungstheorien abgetan», schreibt der Historiker Massimo Perinelli im Sammelband «Erinnern stören».

Solidarische Gegenstrukturen

Parallel zu dieser Geschichte von Verharmlosung, Untätigkeit und Kriminalisierung – oder genau wegen ihr – entstanden in Deutschland über die Jahre aber auch schlagkräftige solidarische Strukturen. Eine wichtige Rolle spielten dabei die vom Staat nur dürftig finanzierten Opferberatungsstellen, die seit Ende der neunziger Jahre in diversen Bundesländern entstanden und von Gewalt Betroffene unterstützen – sei es, indem sie ihnen AnwältInnen in den Prozessen gegen die Täter zur Seite stellen, dabei helfen, bei Polizei und Staatsanwaltschaften der Opferperspektive Gehör zu verschaffen, bei Problemen mit Behörden zu beraten oder therapeutische Angebote zu vermitteln. Konkrete Arbeit mit grosser Wirkung.

Wo der Staat versagte und die Betroffenen im Stich liess, sprangen zudem selbstorganisierte, migrantisch geprägte Gruppen und antifaschistische Kollektive ein, die sich in Zusammenarbeit mit Überlebenden und Angehörigen um Aufklärung der Taten und das Gedenken daran bemühten – und beides immer wieder mühselig gegen den Staat erkämpfen mussten. Erinnerung als gelebte politische Praxis. Dazu gehören Projekte wie «Pogrom91», das mit Filmen oder Ausstellungen an die Ausschreitungen von Hoyerswerda erinnert, Gruppen wie «Keupstrasse ist überall» (der Name bezieht sich auf einen NSU-Anschlag in Köln) und NSU-Watch, die den Prozess gegen die NSU-Terroristin Beate Zschäpe akribisch dokumentierten und selbst recherchierten – und viele weitere, die die Erinnerung wachhalten: Nach fast jedem Anschlag bildete sich eine solidarische Struktur.

Die bisher letzte ist die Initiative 19. Februar. Gegründet nach dem Anschlag von Hanau im Februar 2020, streitet die Gruppe seither für Antworten auf die vielen offenen Fragen. Und dafür, dass politische Konsequenzen gezogen werden. Wie bei vielen anderen Fällen rassistischer Gewalt ist das meiste, das inzwischen über die Morde an neun jungen Menschen in der hessischen Stadt bekannt ist, nicht den Behörden zu verdanken, sondern dieser hartnäckigen Arbeit. Auch hat die Gruppe in Hanau einen physischen Raum geschaffen, der dem Vernetzen und Gedenken dient – eine Erweiterung der Strategie.

«Ein Teil der Erinnerungspraxis ist die Sichtbarmachung der Namen und Geschichten der Opfer, der Angehörigen und Überlebenden. Sie müssen gelesen, müssen gelernt und gelehrt werden», schreiben die Hanauer Aktivistin Newroz Duman und Ibrahim Arslan, der den Brandanschlag von Mölln überlebte, in einem Beitrag für die Heinrich-Böll-Stiftung. In den achtziger und neunziger Jahren habe es für Angehörige kaum Solidarität und Hilfe gegeben, keine Opferverbände, die Betroffene unterstützt hätten. Das habe sich inzwischen geändert. «Betroffene werden zu AktivistInnen, die als HauptzeugInnen Wissen haben, das sie effektiv einzusetzen wissen.» Dies ist nicht zuletzt den antirassistischen Kämpfen der letzten Jahrzehnte zu verdanken, in deren Verlauf auch eine neue Sprache gefunden wurde.

Was noch im NSU-Komplex Jahre des Empowerment gebraucht habe, in anderen Fällen gar Jahrzehnte, sei in Hanau innert weniger Stunden gelungen, schreibt auch der Historiker Massimo Perinelli, der zu den MitbegründerInnen des postmigrantischen Kollektivs Kanak Attak gehört und die rassistischen Begebenheiten also bestens kennt. Obwohl die Politik auch diesmal versucht habe, den Betroffenen «in alter Manier den Platz der StatistInnen zuzuweisen», indem sie etwa an der politischen Gedenkveranstaltung dem Vater des ermordeten Ferhat Unvar den Zutritt zur Bühne verwehrte, sei ihnen rasch eine zentrale Bedeutung zugesprochen und ihrem Schmerz Gehör verschafft worden.

Perinelli stellt eine weitere Veränderung fest: dass Rassismus erstmals auch offiziell als Tatmotiv benannt wurde. «Dies markiert ein gesellschaftliches Bewusstsein, das die Keupstrasse und alle anderen sich organisierenden Betroffenen von Rassismus gegen diese Strukturen und ihre Verantwortlichen erkämpfen mussten, und das PolitikerInnen und Behörden nun nicht mehr ohne Weiteres übergehen konnten.» Dreissig Jahre nach Hoyerswerda sind die Kontinuitäten rechtsextremer Gewalt in Deutschland offensichtlich. Doch der Kampf dagegen findet heute immerhin Gehör.

Literatur:

Antonia von der Behrens (Hrsg.): «Kein Schlusswort. Nazi-Terror, Sicherheitsbehörden, Unterstützernetzwerk. Plädoyers im NSU-Prozess». VSA Verlag. Hamburg 2018. 328 Seiten. 30 Franken.

Harpreet Kaur Cholia, Christin Jänicke (Hrsg.): «Unentbehrlich. Solidarität mit Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt». Edition Assemblage. Münster 2021. 248 Seiten. 26 Franken.

Heike Kleffner und Anna Spangenberg (Hrsg.): «Generation Hoyerswerda. Das Netzwerk militanter Neonazis in Brandenburg». be.bra Verlag. Berlin 2016. 304 Seiten. 29 Franken.

Lydia Lierke und Massimo Perinelli (Hrsg.): «Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive». Verbrecher Verlag. Berlin 2020. 540 Seiten. 32 Franken.

Roger Willemsen: «Verlegenheitsbewältigung». In: Karsten Krampitz, Markus Liske, Manja Präkels (Hrsg.): «Kaltland. Eine Sammlung». Rotbuch Verlag. Berlin 2011. 256 Seiten. Derzeit nicht verfügbar.

Zu den Bildern

Die Fotos zu diesem Text sind Teil einer Arbeit von Martina Zaninelli (Mitarbeit: Thomas Jacobs). Unter dem Titel «Brotherland» befasst sich die italienische Historikerin und Fotografin mit den Lebensumständen von VertragsarbeiterInnen, die in den achtziger Jahren aus anderen sozialistischen Staaten in die DDR kamen.

Mit der Wiedervereinigung wurden die Verträge mit diesen Ländern aufgehoben – und die meisten ArbeiterInnen dazu gedrängt, in ihre Herkunftsländer zurückzukehren. Einige jedoch blieben – so auch in Eberswalde, einer Kleinstadt fünfzig Kilometer von Berlin entfernt, in der bis heute Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern leben (2). Am 6. Dezember 1990 erlag in Eberswalde Amadeu Antonio Kiowa, ein angolanischer Vertragsarbeiter, den schweren Verletzungen, die ihm Neonazis zugefügt hatten. Er war das erste Todesopfer der rassistischen Gewalt nach der Wende, die in den Pogromen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen gipfelte. Zum dreissigsten Todestag im vergangenen Dezember gedachten Opferinitiativen seiner mit einer Strassentafel (3). Bis heute ist die Polizei in Eberswalde überaus präsent, insbesondere in Eberswalde-Finow, das als «Problemviertel» gilt (4). Und auch in Hoyerswerda zeigt sich ein tristes Bild: Das Quartier Neustadt hat seit der Wende sechzig Prozent seiner BewohnerInnen verloren. Durch den Rückbau sind riesige Brachen zwischen den Platten entstanden (5 und 6).  

Adrian Riklin

Samstag, 2., bis Sonntag, 10. Oktober 2021: «Brotherland» von Martina Zaninelli am Festival di Fotografia in Castelnuovo di Porto, Rom.