Pinocchio: Der Holzbengel gibt einfach keine Ruhe

Nr. 43 –

Immer wieder Pinocchio: Ist der anarchische Lügenbold der Held, den unsere Zeit verdient? Das Kinderbuch von Carlo Collodi schillert viel zu ambivalent, als dass man es in simple politische Analogien einpferchen könnte.

Schwarze Pädagogik oder doch eher ein mehr oder weniger verstecktes Plädoyer für das Lustprinzip? Das ist die Frage, die sich bei der Lektüre von Carlo Collodis «Pinocchio» seit bald 150 Jahren immer wieder neu stellt. Der Roman, erstmals 1881 in einer italienischen Wochenzeitung als Fortsetzungsgeschichte und 1883 als Buch erschienen, ist in dieser Hinsicht unter den Klassikern der Kinderliteratur einzigartig. Auch wenn viele von diesen aus heutiger Sicht problematische Elemente aufweisen – koloniale und rassistische Stereotype wie etwa in Astrid Lindgrens «Pippi Langstrumpf» oder Michael Endes «Jim Knopf» –, herrscht doch mehr oder weniger Konsens darüber, dass diese Texte in ihrer Verspieltheit insgesamt für kindliche Autonomie und gegen autoritäre Machtverhältnisse und Unterdrückung jeder Art einstehen.

Wenn Pippi Langstrumpf das Kaffeekränzchen der feinen Damen bei Frau Settergren mit ihrem Auftritt als groteske Karikatur einer Dame ordentlich aufmischt, ist das nicht nur ein Riesenspass, sondern sie stellt dabei auch die Klassenverhältnisse aus, die überhaupt so etwas wie Dienstmädchen, feine Damen und brave Kinder hervorbringen. Aus heutiger Sicht liegt der Widerspruch zwischen dem gesellschaftskritischen Anliegen und der kolonialistischen Haltung des Textes klar auf dem Tisch; sie drückt sich etwa darin aus, dass Pippis Vater als «Südseekönig» über eine exotisierte Insel herrscht. Wer Kindern die Geschichten von Pippi vorlesen möchte, kommt nicht darum herum, mit ihnen auch über die problematischen Aspekte zu reden.

Bei «Pinocchio» hingegen ist es die Hauptfigur selbst, der es an den Kragen geht. Die Kinderliteratur des 19. Jahrhunderts war geradezu besessen von wilden und frechen Kindern, die unter keinen Umständen brav sein wollten, doch am Ende der Geschichten gab es kein Pardon: Die Kinder mussten sich anpassen. Darüber macht sich Collodi in «Pinocchio» lustig – gleichzeitig weiss man beim Lesen nie so genau, ob er es mit den Erziehungsmassnahmen vielleicht doch ernst meint.

Die Lügen der Grossen

Pinocchio ist herrlich frech und lässt keine Gelegenheit für einen Streich aus; schliesslich ist er aus Holz gemacht und kann es nicht besser wissen. Schon bevor der Tischler Geppetto ihn überhaupt fertig geschnitzt hat, treibt das sprechende Holzscheit den armen Mann fast in den Wahnsinn. Seine schelmische Energie erlaubt es Pinocchio, in jeder Situation das maximale Potenzial für Dummheiten zu erkennen – und sofort in die Tat umzusetzen. Doch die Massnahmen, mit denen er für sein unbotmässiges Verhalten bestraft wird, sind noch viel exzessiver als seine Neigung zu unartigem Verhalten: Als er seine Füsse am Feuer wärmen will, brennen sie ab; der Fuchs und die Katze betrügen ihn nicht nur um seine Goldstücke, sondern hängen ihn auch an einem Baum auf. Weil er die bittere Medizin nicht schlucken will, droht ihm der Doktor mit dem Tod, und der Sarg steht schon bereit. Weil er lieber Spass hat, als brav ist, wird er zur Strafe in einen Esel verwandelt und muss Zwangsarbeit leisten, und zu guter Letzt frisst ihn ein Haifisch.

Die anarchische Kraft des Romans wäre ohne die Erziehungs­­massnahmen nicht zu haben.

Kommt hinzu, dass sein eigener Körper Pinocchio verrät: Sobald er lügt, wächst ihm die Nase in die Länge; bei wiederholtem Lügen wird sie so lang, dass er sich nicht mehr frei bewegen kann, weil er überall damit anstösst. Die Fee mit den blauen Haaren, die sich um die Erziehung des wilden Lausebengels bemüht, erklärt dem verwirrten Jungen, was ihm widerfährt: «Die Lügen, mein Junge, erkennt man sofort, es gibt nämlich zwei Arten: Es gibt Lügen, die haben kurze Beine, und solche, die haben lange Nasen. Die deinen gehören zu denen, die eine lange Nase haben.»

Aufmerksame Leser:innen stellen aber fest, dass es noch keine fünf Seiten her ist, dass die Erwachsenen Pinocchio ihrerseits schon angelogen haben – mit der Behauptung, er müsse sofort sterben, wenn er seine bittere Medizin nicht schlucken wolle. Der Erzähler scheint zwar, wenn man seine moralinsauren Kommentare liest, mit den Erwachsenen unter einer Decke zu stecken, aber eben nur auf den ersten Blick. In Wahrheit deckt er auf, dass sie sich schamlos derselben unlauteren Mittel wie das Kind bedienen, um ans Ziel zu kommen. Der Unterschied ist einzig, dass sie für Pinocchio «nur das Beste» wollen – während dieser radikal und ohne jede Einschränkung dem Lustprinzip folgt. Um das zu tun, was Spass macht, sind ihm alle Mittel recht. Und genau wie die Erziehungsinstanzen ist auch er der Meinung, dass der Zweck die Mittel heiligt.

Immer wieder eskalieren

Auf der Ebene der Handlung geschieht das Wechselspiel von Über-die-Stränge-Hauen und Bestraftwerden aus einem einzigen Grund: Aus dem hölzernen Lausebengel soll am Ende ein «richtiger Junge» werden. Und zum Schrecken aller – nicht nur kindlichen – Leser:innen gelingt das am Ende auch wirklich. Den letzten Satz des Romans legt der Erzähler dem Protagonisten, nun aus Fleisch und Blut, in den Mund. Anstelle der geistreichen und frechen Bemerkungen, mit denen er seine Umgebung gut 200 Seiten lang auf Trab gehalten hat, sagt er nur: «Wie töricht war ich doch, als ich noch ein Holzbube war! Und wie glücklich bin ich, nun ein richtiger Junge geworden zu sein!» Und damit endet das Buch – von braven Jungen gibt es, so liesse sich der Schluss auslegen, nichts zu erzählen.

 

 

Die Erkenntnis, dass artige Kinder eben langweilige Held:innen sind und dass «Pinocchio» nicht nur ein Buch über Erziehung ist, sondern auch eins über das Erzählen, schwingt schon von Anfang an mit, wenn sich Pinocchios Streiche und die Strafen, die ihnen auf dem Fuss folgen, gegenseitig hochschaukeln. Wie weit, fragt man sich beim Lesen, lässt sich das weitertreiben? Fällt dem Erzähler noch etwas ein? Darin liegt die anarchische Kraft des Romans, die aber ohne die Erziehungsmassnahmen nicht zu haben wäre.

Es ist auch nicht so, dass Pinocchio am Ende wirklich ein «echter Junge» wird und bleibt. Schon der Illustrator der Originalausgabe von 1883, Enrico Mazzanti (1850–1910), lässt das Ende nicht so stehen, sondern fügt dem letzten Satz ein Bild hinzu, das dazu animiert, die Holzpuppe wiederzubeleben, also weiterzuerzählen. Auf der Zeichnung ist ein ganz gewöhnlicher Junge aus Fleisch und Blut zu sehen, der die nun leblos an einen Stuhl gelehnte Holzpuppe betrachtet – allerdings nicht etwa glücklich oder triumphierend, sondern eher mit einem melancholischen Blick. Die ausgemusterte Holzpuppe lädt förmlich dazu ein, mit ihr zu spielen und neue Abenteuer und Streiche zu erfinden.

Holzbuben in Serie

Und genau dies sollte in der Rezeption von ­«Pinocchio» auch geschehen: Namhafte Künstler:innen wie Roberto Innocenti, Fulvio Testa oder Robert Ingpen illustrierten den Roman neu, gern auch als grossformatiges Bilderbuch, und immer wieder wird er neu für die Bühne, fürs Kino und fürs Fernsehen adaptiert – bisher gibt es über dreissig Verfilmungen, und jedes Jahr kommen neue dazu. Der freche Holzbengel bleibt also nicht leblos in der Spielzeugkiste liegen, sondern gibt keine Ruhe. Umberto Eco, einer der grössten Fans von Collodis Roman, fragt sich in seinem Vorwort zur englischen Ausgabe, woran es wohl liege, dass die Holzpuppe mit ihren Streichen nicht umzubringen sei. Er sieht den Grund in der Vieldeutigkeit des Textes: «Pinocchio», schreibt Eco, beschränke sich nicht auf eine simple Moral, sondern sei als Auseinandersetzung mit vielen Moralvorstellungen zu verstehen.

Die Rezeptionsgeschichte gibt Eco recht. Selbst wenn viele Interpretationen und Adaptionen die Ambivalenz nicht aushalten und sich für eine einfachere Variante entscheiden: Entweder machen sie aus Pinocchios Abenteuer die Geschichte einer erfolgreichen Sozialisation, oder sie lesen «Pinocchio» überhaupt nicht als Kinderbuch, sondern als vielschichtigen postmodernen Text avant la lettre.

Disneys Pinocchio von 1940
Nichts als Grillen im Kopf: Disneys Pinocchio von 1940 lässt sich von seinem Spieltrieb leiten, selbst die sprechende Grille kann ihn nicht zur Vernunft bringen. Foto: Alamy

Die erste Version findet sich in Disneys Animationsfilm von 1940. Hier verkörpert Pinocchio das unschuldige, staunende Kind, das sich von seinem Spieltrieb leiten lässt und so ganz ohne bösen Willen in dumme Situationen gerät. Am Ende, als er glaubt, sein Vater Geppetto sei durch seine Schuld gestorben, bereut er seine Streiche so sehr, dass ihn die innere Umkehr im Handumdrehen zu einem echten Jungen macht. Die neuste Disney-Variante von Robert Zemeckis (2022) bleibt bei der inneren Umkehr, lässt Pinocchio aber am Ende – ganz im Sinne der neuen diversitätsfreundlichen Hauspolitik – seine Existenz als Holzpuppe. Die Jahrringe sind auf seiner Haut zart sichtbar, als Geppetto ihm versichert, dass er ihn genau so liebt, wie er ist. Ähnlich ging Matteo Garrone in seinem Film von 2019 vor, der Pinocchio zu einer psychologischen Figur macht, die in einer von Armut geprägten sozialen Wirklichkeit lernen muss, anderen zu vertrauen.

Der Schatten lebt weiter

Weil Pinocchio die ganze Familie ins Kino locken soll, gibt es nicht viele Filme, die Collodis Ambivalenzen mitsamt der spielerisch-grotesken Eskalationslogik aufgreifen. Am besten ist dies Roberto Benigni in seiner Adaption von 2002 gelungen. Pinocchio, gespielt vom damals fünfzigjährigen Benigni selbst, ist ein ewiger Kindskopf, der, wenn es nach Geppetto, der sprechenden Grille, die für die Verkündigung der moralischen Werte zuständig ist, und der Fee mit den blauen Haaren geht, erwachsen und vernünftig werden soll. Nachdem der Film das Lustprinzip hundert Minuten lang bis zum Exzess ausgekostet hat, verwandelt sich Pinocchio anscheinend auch wirklich in einen braven Jungen: In der letzten Einstellung sieht man ihn zur Schule gehen und dem Lehrer eifrig die Hand schütteln. Sein Schatten aber hat immer noch das Kostüm der Holzpuppe an und scheint von der neuen Aufgabe wenig begeistert. Während der artige Junge zur Schule geht, bleibt der Schatten vor der Tür und jagt lachend und jauchzend einem blauen Schmetterling nach, der am Horizont verschwindet.

Indem er Figur und Schatten voneinander trennt, findet Benigni in seiner Verfilmung ein präzises Bild für das, was den Roman an- und seine Leser:innen umtreibt: Die beiden Wertsysteme – angepasstes Verhalten gegen radikales Lustprinzip – bleiben nur so lange verbunden, wie sie miteinander im Clinch liegen. Und was einen beim Lesen des «Pinocchio» so nervös macht, ist, dass man sich weder endgültig auf die Seite der Erwachsenen noch auf die Seite des Lausebengels schlagen kann; der Text will uns zwingen, eine Seite zu wählen, lässt aber genau das gleichzeitig nicht zu.

Christine Lötscher ist Professorin für Populäre Literaturen und Medien an der Universität Zürich.

Lauter lange Nasen

Eröffnet wurde der diesjährige Pinocchio-Reigen von Oscar-Preisträger Robert Zemeckis, mit Tom Hanks als Geppetto: «Pinocchio», Disneys Spielfilmupdate des Trickfilmklassikers von 1940, landete im September direkt auf dem hauseigenen Streamingdienst Disney+. Die Kritiken waren einigermassen vernichtend ­(«Pinocchios Nase ist nicht das Einzige, was hier hölzern und zu lang ist», hiess es, noch relativ milde, im «Boston Globe»).

Verheissungsvoller klingt da die Vision eines anderen Oscar-Preisträgers: Bei Guillermo del Toro («Pan’s Labyrinth») spielt die Geschichte vom Holzjungen im faschistischen Italien. Vor fünf Jahren hatte del Toro seinen Stop-Motion-«Pinocchio» schon fast abgeschrieben, als Netflix einstieg und das Projekt wieder auf die Bahn brachte. Nun kommt der Film am 24. November ins Kino, zwei Wochen später läuft er bei Netflix.

Davor, ab 12. November, landet der Holzbengel auch noch auf der Bühne: Im diesjährigen Familienstück des Zürcher Schauspielhauses fragen Wu Tsang und Moved By Motion mit ihrer Bearbeitung des «Pinocchio», was es eigentlich bedeutet, ein «echter Junge» zu werden.