Antirassismus: Selbst Olaf denkt nun intersektional

Nr. 45 –

Jenseits von Sprechhierarchien und «Allyship»: Der Sammelband «Die Diversität der Ausbeutung» beleuchtet blinde Flecken der Identitätspolitik.

Zürcher Black-Lives-Matter-Demonstration im Juni 2020
Es muss um mehr gehen als um einen lediglich etwas bunter daherkommenden Kapitalismus: An der Zürcher Black-Lives-Matter-Demonstration im Juni 2020. Foto: Ursula Häne

Neulich in Berlin: Auf der Strasse nahe des Ostbahnhofs bildete sich eine lange Schlange; auf Twitter fühlte sich jemand an Szenen wie vor dem berüchtigten Club Berghain erinnert, der gleich um die Ecke liegt. Der Andrang galt aber nicht einer Technoparty, sondern einer Buchpräsentation. Die marxistischen Sozialwissenschaftlerinnen Bafta Sarbo und Eleonora Roldán Mendívil stellten in den Räumen der Rosa-Luxemburg-Stiftung einen von ihnen herausgegebenen Sammelband vor. Linke Theorie, die die Leute in Scharen herbeilockt – was war da bloss los?

Sprechposition und Kritik

Das Interesse dürfte vor allem dem polarisierenden Gegenstand geschuldet sein: Der schmale Band trägt den Titel «Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus» und ist ein weiterer Beitrag zur uferlosen Diskussion rund um die «Identitätspolitik». Diese sorgt zuverlässig für Aufregung, obsessiv geschürt von rechts, in der Regel mit dem Beweisziel, dass Bewegungen wie Black Lives Matter übers Ziel hinausgeschossen seien – siehe etwa die «Kontroversen» um Dreadlocks oder Winnetou – und eine Gefahr für die Meinungsfreiheit, die Demokratie oder gleich das ganze Abendland darstellten.

Der von Sarbo und Mendívil vorgelegte Band dagegen nähert sich dem Thema von links. Ausgangspunkt ist die Diagnose, dass im gegenwärtigen Antirassismus tatsächlich etwas im Argen liegt. Dieses Urteil kommt nicht von ungefähr, Mendívil und Sarbo, beide um die dreissig, engagieren sich in Berlin selbst antirassistisch. Mit der Zeit sei bei ihnen, wie sie schreiben, «die Frustration über die Dominanz von liberalen und identitätspolitischen Ansätzen» gewachsen – befeuert durch Situationen beispielsweise, in denen «die soziale Sprechposition einer Person und nicht der politische Inhalt ihrer Aussagen zum Gradmesser ihrer Radikalität wurde».

Die Herausgeberinnen nehmen dies aber gerade nicht zum Anlass, antirassistische Praxis als solche zum Problem zu erklären. Vielmehr gelte es, erst einmal einen präzisen Rassismusbegriff zu entwickeln und sich um eine wirkliche Gesellschaftskritik zu bemühen. Dann liessen sich auch politische Gegenstrategien ausarbeiten, die auf mehr abzielen als einen lediglich etwas bunter daherkommenden Kapitalismus (worauf der doppeldeutige Titel des Bands polemisch anspielt).

Ein Beispiel für gut gemeinte, aber letztlich zu kurz greifende Ansätze wäre den beiden Sozialwissenschaftlerinnen zufolge die bereits erwähnte Praxis, dass in antirassistischen Räumen häufig den Wortmeldungen nichtweisser Personen mehr Gewicht beigemessen werde als denjenigen weisser. Mendívil betonte kürzlich im Podcast «99 zu eins», dass sie selbst dies zunächst als enorm ermächtigend empfunden habe: Plötzlich erfährt die eigene Stimme gerade wegen der persönlichen oder familiären Unterdrückungsgeschichte Wertschätzung. Zugleich aber seien bald neue Hierarchien oder Kämpfe um Sprechpositionen entstanden, zumal sich die persönlichen Umstände auch Nichtweisser enorm unterscheiden könnten. Diese Erfahrung der Grenzen einer «Politik der ersten Person» sei der Anstoss gewesen für den Versuch, identitätspolitische Konzepte einer kritischen Revision zu unterziehen.

Pädagogik allein reicht nicht

Sarbo und Mendívil problematisieren antirassistische Ansätze, die das Individuum und seine Identität ins Zentrum rücken: Konzepte wie «Intersektionalität» etwa oder «Allyship». Letzteres beschreibt Allianzen weisser und nichtweisser Personen. «Allyship» soll es ermöglichen, Leute jenseits der eigenen Community zu erreichen, allerdings unter der Prämisse, dass ein gemeinsames politisches Handeln von Leuten, die von Rassismus betroffen sind, und Nichtbetroffenen per se limitiert sei. Daher handelt es sich meist um temporäre Zweckbündnisse. Die Autorinnen plädieren stattdessen – in Anlehnung an die US-Politologin Jodi Dean – für eine Erneuerung des Konzepts der «Genossenschaftlichkeit», das sich nicht über «Identitätskategorien» definiere, sondern ein «langfristiges gemeinsames Kämpfen mit einer gemeinsamen Vorstellung von Gesellschaft» zum Ziel habe.

Man mag sich trotzdem fragen, ob denn die Rede von einem «herrschenden Antirassismus» im Titel des Bandes angemessen ist, schliesslich dürften Sprechhierarchien oder Safer Spaces im Alltag der Masse kaum eine Rolle spielen. Andererseits: Selbst der deutsche Kanzler Olaf Scholz bezeichnete sich unlängst als «intersektionalen Feministen», und auch Grosskonzerne bekennen sich mittlerweile zu einer diversen Gesellschaft. Das belegt, dass sich etwas bewegt – aber womöglich auch, dass Antirassismus in einer Weise verhandelt wird, die nicht allzu subversiv ist.

Hierzu sind Sarbos Überlegungen zum Rassismusbegriff, die sie in einem weiteren Beitrag darlegt, aufschlussreich. Worüber redet man überhaupt, wenn es um «Rassismus» geht? Allzu häufig werde dieser auf ein «Bewusstseinsproblem» reduziert, schreibt sie, also unterstellt, dass Menschen rassistisch handelten, weil sie bestimmte Vorstellungen im Kopf hätten. Dem entspreche «ein Antirassismus, der Rassismus hauptsächlich im Bewusstsein dekonstruieren will» – durch eine «Anti-Vorurteilspädagogik» etwa oder Eingriffe in den alltäglichen Sprachgebrauch.

Folgt man Sarbo, zeugt dies letztlich von einem liberal-idealistischen Rassismusbegriff: Man geht davon aus, dass die Gesellschaft so ist, wie sie ist, weil Menschen auf eine bestimmte Art denken. Rassismus sei aber nicht «nur ein Vorurteil gegenüber ‹den Anderen›», sondern auch «ein gesellschaftliches Verhältnis zwischen Menschen».

Zur Entstehungsgeschichte dieses Verhältnisses zitiert Sarbo den guayanischen Historiker Walter Rodney: «Gelegentlich besteht das Missverständnis, die Europäer hätten die Afrikaner aus rassistischen Gründen versklavt.» Zu verstehen ist das Bonmot so: Im Zeitalter des Kolonialismus glich die Lage der Arbeiter:innen im Globalen Norden derjenigen im Süden zunächst insofern, als sie hier wie dort ausgebeutet wurden. Zugleich aber verbesserte sich die materielle Situation im Norden infolge gewerkschaftlicher und politischer Kämpfe, während in den Kolonien ein System der «Überausbeutung» mit extremer Gewalt aufrechterhalten wurde.

Diese Zustände widersprachen schon damals offensichtlich den bürgerlichen Werten von Freiheit und Gleichheit, was eine «ideologische Rationalisierung» erforderte. Hier liegt Sarbo zufolge der Keim des modernen Rassismus: Man erklärte die Kolonisierten für minderwertig und spaltete die «Weltarbeiterklasse» durch «Ethnisierung». Zwar mag heute ein biologistisch begründeter Rassismus eher selten sein und von einem «Rassismus ohne Rasse» ersetzt worden sein, der auf vermeintliche Abgründe zwischen den «Kulturen» verweist. Aber nach wie vor dürfe diese Verzahnung von ökonomischer Ausbeutung und rassistischer Ideologie nicht ausgeblendet werden, soll antirassistische Praxis, wie Sarbo schreibt, nicht «Sisyphusarbeit» bleiben.

Kriminalisierung von Armut

Ähnlich verfährt Lea Pilone in ihrem Beitrag, der den Rassismus in der deutschen Polizei beleuchtet. Auch hier liege oft das Missverständnis vor, dass die Überzeugungen einzelner Polizist:innen das Problem seien. Die Historikerin arbeitet dagegen heraus, dass schon die «Polizeyordnungen» im 17. und 18. Jahrhundert die Kriminalisierung von Armut bezweckten, um so die Besitzlosen zur Lohnarbeit zu disziplinieren – was bald gerade Rom:nja und Sinti:zze treffen sollte. Von dort ist es nicht mehr weit zum gegenwärtigen Rechtspopulismus, wenn man an die Polemik gegen «Bettelbanden» denkt.

Heisst also: Ohne Blick auf das gesellschaftliche Ganze bleibt Antirassismus verkürzt. Theoretisch ist das alles anregend, was gerade auch für den Beitrag von Sebastian Friedrich gilt, der den Aufstieg der AfD im Kontext inklusiverer, aber auch immer ungleicherer Verhältnisse analysiert. Immer wieder wird ja beschworen, dass es die verschiedenen Kämpfe der Gegenwart zusammenzudenken gilt, was oft eine Phrase bleibt. Bei Sarbo und Mendívil findet man unbequeme Anstösse dazu, wie ein Spaltungen überwindender Universalismus von unten aussehen könnte. Nur: Was macht man damit nun in der Praxis? Wenn Mendívil im Nachwort «die Notwendigkeit klassenbasierter Organisierung» betont, klingt das recht diffus. Vielleicht wäre das ja Stoff für die nächste Buchpräsentation.

Buchcover von «Die Diversität der Ausbeutung»

Eleonore Roldán Mendívil / Bafta Sarbo (Hrsg.): «Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus». Dietz Verlag. Berlin 2022. 195 Seiten. 26 Franken.