Restriktive Gesetze: «Arme Personen leiden ganz besonders»

Nr. 51 –

Dinah Riese recherchiert intensiv zum Thema Abtreibung. Auch in ihrer Heimat Deutschland führen Ärzt:innen immer weniger Abbrüche durch.

Dinah Riese, Autorin
Dinah Riese, Autorin
 
Foto: Sonja Trabandt

WOZ: Frau Riese, im Sommer hat der Supreme Court in den USA das landesweite Recht auf Abtreibung aufgehoben. War 2022, auch international betrachtet, ein schwarzes Jahr für die Selbstbestimmungsrechte der Frauen?

Dinah Riese: Auf jeden Fall. Die Entscheidung hat nicht nur für die USA extreme Auswirkungen, sie hat auch international enorme Strahlkraft. Für Länder mit restriktiven Abtreibungsgesetzen, etwa Polen, war das eine Sternstunde. Sie können bei Kritik nun darauf verweisen, dass selbst die grosse liberale Demokratie der USA das Recht auf Abtreibungen nicht mehr schützt. Es gab in diesem Jahr international auch positive Entwicklungen, doch sie kommen in ihrer Tragweite bei weitem nicht gegen das verheerende Urteil in den USA an.

Dreizehn US-Bundesstaaten haben mittlerweile ein weitgehendes Abtreibungsverbot erlassen, weitere könnten nachziehen.

Andere haben zum Teil sehr kurze Fristen beschlossen. Und in zehn Gliedstaaten werden Verbotsversuche noch vor Gericht ausgefochten. Zählt man all das zusammen, ist etwa die Hälfte der US-amerikanischen Bundesstaaten betroffen. In den vergangenen Monaten wurden bereits Geschichten bekannt, die zeigen, welche Folgen das für die Lebensrealität vieler Frauen hat: für ein zehnjähriges Mädchen, das nach einer Vergewaltigung schwanger wurde und für einen Abbruch von Ohio in den benachbarten Gliedstaat Indiana reisen musste. Für eine Frau in Texas, die achtzehn Stunden reisen musste, um eine Eileiterschwangerschaft zu beenden. Oder für eine Frau in Wisconsin, die mit Blutungen nach einer Fehlgeburt ins Spital kam und wieder weggeschickt wurde.

Diese Gesetze haben nicht nur Folgen für alle Menschen, die ungewollt schwanger werden, sondern auch für Schwangere, die Komplikationen erleben. Ganz besonders leiden arme Personen unter ihnen. Sie haben nicht die Möglichkeit, sich heimlich in Privatkliniken für viel Geld behandeln zu lassen oder für einen Schwangerschaftsabbruch weit zu reisen.

Am Tag des Supreme-Court-Urteils gab es auch in Deutschland einen Wendepunkt: Ein Gesetzesparagraf, der Ärzt:innen verbot, für Schwangerschaftsabbrüche zu werben, wurde gekippt. Wie bedeutend ist das?

Für Deutschland war das sehr bedeutend – und zugleich ein Armutszeugnis. Beim «Werbeverbot» ging es schlicht darum, dass Ärzt:innen nicht öffentlich darüber informieren durften, dass sie Schwangerschaftsabbrüche vornehmen und auf welche Weise sie das tun. Sie durften zum Beispiel nicht auf ihre Website schreiben: «Bei uns ist ein medikamentöser Schwangerschaftsabbruch bis zur zehnten Woche möglich.» Und das, wo es hier ohnehin schwierig ist, eine Ärzt:in zu finden, die einen Abbruch vornimmt.

Weshalb?

Es gibt im ganzen Land nur knapp 1100 Stellen dafür. Ungewollt Schwangere müssen oft lange nach einer Anlaufstelle suchen und in manchen Gegenden auch mal 150 Kilometer fahren. Es gibt kein vollständiges und öffentliches Verzeichnis dieser Stellen, und ihre Zahl sinkt seit Jahren stark.

In Deutschland können Ärzt:innen, wie etwa auch in Italien, frei wählen, ob sie Abtreibungen durchführen. Warum sind immer weniger von ihnen dazu bereit?

Viele der Ärzt:innen, die Schwangerschaftsabbrüche durchführen, gehören zur 68er-Generation und wurden entsprechend politisiert. Sie gehen nach und nach in Rente. Dass kaum Jüngere nachfolgen, liegt unter anderem an der Kriminalisierung. Schwangerschaftsabbrüche sind in Deutschland grundsätzlich verboten. Sie sind eine Straftat gegen das Leben, geregelt im Strafgesetzbuch kurz hinter Mord und Totschlag. Nur in klar definierten Ausnahmefällen sind sie straffrei: Wer abtreiben will, muss eine anerkannte Beratungsstelle aufsuchen, eine dreitägige Wartefrist verstreichen lassen und den Abbruch in den ersten zwölf Wochen nach der Befruchtung vornehmen lassen. Bis heute ist das stark stigmatisiert. Ärzt:innen, die Abtreibungen anbieten, haben mir erzählt, Kolleg:innen würden ihnen auf Kongressen nicht die Hand geben. Schwangerschaftsabbrüche werden als etwas Schmuddeliges angesehen und nicht als Teil des selbstverständlichen Leistungsspektrums.

Missstände gibt es auch bei der Ausbildung.

Ja, dort sind Schwangerschaftsabbrüche in den letzten Jahrzehnten kaum vorgekommen. Im Medizinstudium werden sie nur am Rand thematisiert, dabei geht es vor allem um die ethischen und strafrechtlichen Aspekte. Auch in der Praxis kommen Studierende damit häufig nicht in Berührung, denn viele Spitäler führen keine Abtreibungen durch.

Sie machen sich dafür stark, dass der Zugang zu Abtreibungen in Deutschland nicht mehr im Strafgesetzbuch geregelt wird. Auch in der Schweiz und einigen anderen Staaten ist das der Fall. Warum ist das ein Problem?

Das Strafgesetz sollte immer nur die Ultima Ratio sein, das schärfste Schwert des Staates. Will man Abtreibungen nach einer gewissen Frist verbieten, geht das auch, ohne dass man sie als Straftat gegen das Leben ahndet. Nur so können sie als ganz normale Gesundheitsleistung verstanden werden und der Zugang zu ihnen als Teil der Menschenrechte von Frauen.

Welche Länder sehen Sie beim Umgang mit Abtreibungen als Vorbilder?

Kanada hat seit mehreren Jahrzehnten gar kein Abtreibungsgesetz mehr auf Bundesebene. Die Provinzen regeln, wie sie damit umgehen wollen, mit unterschiedlichen Fristen. Seit der Legalisierung ist die Zahl der Abtreibungen stabil geblieben. Der allergrösste Teil findet im ersten Trimester statt. Fast alle sehr späten Abbrüche erfolgen wegen Anomalien des Fötus. Das widerlegt das Argument von Abtreibungsgegner:innen, bei einer Legalisierung würden Frauen noch kurz vor der Geburt in die Abtreibungskliniken rennen.

Gibt es noch andere Beispiele?

Auch die Entwicklung in Irland ist interessant. Das Land hatte bis vor wenigen Jahren eines der striktesten Abtreibungsgesetze in Europa. Nun sind Schwangerschaftsabbrüche als Gesundheitsthema geregelt und werden, anders als in Deutschland, von der Krankenkasse übernommen. Und in Spanien hat das Unterhaus eben in erster Lesung einen Gesetzentwurf gebilligt, der ganz viele Aspekte der reproduktiven Gesundheit zusammenfasst. Dazu zählt, dass es künftig bei Abbrüchen keine Wartefrist mehr geben soll und Minderjährige ab sechzehn Jahren nicht mehr die Zustimmung der Eltern brauchen. Auch freie Tage mit Lohnfortzahlung bei starken Regelschmerzen sieht der Entwurf vor.

Sie haben mit zwei Kolleginnen ein Buch publiziert, in dem Sie sich für «reproduktive Rechte» starkmachen. Was genau ist damit gemeint?

Das Recht von Menschen, selbst darüber zu entscheiden, ob und wann sie Kinder bekommen wollen. Dazu zählen neben dem Recht auf Abtreibungen auch der Zugang zu Verhütungsmitteln, sexuelle Aufklärung, gute medizinische Versorgung während der Schwangerschaft und während der Geburt. «Pro Choice» wird meist als Kampf für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch verstanden. Dieser ist wichtig. Aber es gibt zugleich auch Frauen, die dafür kämpfen, Mutter sein zu dürfen. Wollen wir reproduktiver Gerechtigkeit näher kommen, dann ist es wichtig, diese Dinge zusammenzudenken.

Dinah Riese ist Redaktorin bei der «taz». Für ihre Arbeit zum Abtreibungsrecht in Deutschland wurde sie mehrmals ausgezeichnet. Im März hat sie gemeinsam mit Gesine Agena und Patricia Hecht das Buch «Selbstbestimmt. Für reproduktive Rechte» veröffentlicht.