Bertolt Brecht: Wer seine Lage erkannt hat

Nr. 6 –

Die Begriffe in Bewegung bringen, und zwar heute noch: Der junge Schriftsteller Mesut Bayraktar zum 125. Geburtstag von Bertolt Brecht.

Ratgeber muss man sorgfältig auswählen. Wenn ich am Schreibtisch nicht weiterweiss, sehe ich über meinem Bildschirm auf ein zerknittertes Stück gelbes Papier, das an der Wand klebt und mich seit Jahren begleitet. Es ist bedruckt mit dem Gedicht «Lob der Dialektik». Im Hintergrund ist das Gesicht eines jungen Mannes, die Haare kurz geschoren, die Augen illusionslos auf mich gerichtet, der Ausdruck verletzlich. Die Zeilen fahren über eine noch faltenlose Stirn.

Texte von Bertolt Brecht setzen sich einem im Kopf fest. «Seine Stücke, seine Verse gehen den Menschen ein», resümiert der marxistische Philosoph Hans Heinz Holz über die Wirksamkeit von Brechts Dichtung im klugen Aufsatz «Der Pflaumenbaum und der Kommunismus» aus dem Jahr 2007. Vom Standpunkt der Armen und Ausgegrenzten aus das Poetische zu entfalten, mag dabei Brechts Geheimnis gewesen sein. Um sein Werk kommt man jedenfalls nicht herum, will man Literatur produzieren, die strenge Massgaben der Kunst mit politischer Mitteilung zusammenbringt. Wer dabei den Dichter vom Kommunisten trennt, spricht am Ende über einen schlechten Dichter und einen schlechten Kommunisten, nicht aber über Bertolt Brecht, geboren am 10. Februar 1898 in Augsburg.

Im Exil zur Dialektik

Die Schlusszeilen des Gedichts bilden das Ende seines Stücks «Die Mutter». Niedergeschlagen verkündet ein Dienstmädchen: «Was wir wollen, geht niemals.» Dagegen rezitiert die Revolutionärin Pelagea Wlassowa: «Wer wagt zu sagen: niemals?» Ebenso ist auch das «Lob der Dialektik» angeordnet. In der ersten Strophe dekretiert das Sein die Ewigkeit der Ausbeuterordnung, doch in direkter Konfrontation folgt in der zweiten der Widerspruch: «So, wie es ist, bleibt es nicht.» Das Sein schlägt um in ein Werden entlang des Klassenkampfs, worin das verändernde Subjekt das Moment der Wirklichkeit ist. Mutlose Passivität schlägt in revolutionäre Aktivität um: «Und aus Niemals wird: Heute noch!» Aus der Welt, wie sie ist, kann eine andere hervorkommen, ohne Ausbeutung und Klassen. Sie muss erst gemacht werden.

Ein unterbödiger Bass verwebt die reimlosen Zeilen und das Nebeneinander der gegensätzlichen Strophen zu einer offensiven Rhythmik. Meine Zweifel greift das Gedicht mit Fragen auf, meiner Wut tritt es mit Klarheit entgegen. Mit Wlassowa stelle ich fest, «wer seine Lage erkannt hat», der ist nicht aufzuhalten.

Erst im Exil hat Brecht die zentrale Bedeutung der Dialektik als Grundmethode seiner eigenen Literatur entdeckt und sein ästhetisches Konzept systematisch ausgearbeitet. Während er in seinem Frühwerk bloss das Unrecht denunzierte, zog er schon Ende 1920 die Konsequenz, zu der ihn seine Dichtung drängte. Aufgrund des Plans, ein Stück über die Börse zu schreiben, las er Marx. 1928 notierte er: «Als ich ‹Das Kapital› von Marx las, verstand ich meine Stücke.» Durch historische Genauigkeit rückte die Solidarität mit dem geschundenen Menschen ins Zentrum.

Brecht erkannte im Studium der kapitalistischen Produktionsweise, dass die historische Alternative zur bürgerlichen Gesellschaft die sozialistische ist. Die abstrakt antibürgerliche Haltung wurde von einer konkreten abgelöst. Im Schlechten war etwas Gutes vorhanden: die Arbeiterklasse. Im Exil ab 1933 vollzog sich endgültig der Paradigmenwechsel, und die grossen Werke entstanden, ebenso die Kompendien zum epischen Theater. In den fünfzehn Jahren als Flüchtling in verschiedenen Ländern schrieb Brecht unnachgiebig gegen die kapitalistischen Gräuel und die faschistische Barbarei an, ergänzt um die Perspektive eines konkreten Auswegs.

Nirgends ist Brechts Gedankenwelt im Exil besser dokumentiert als im «Arbeitsjournal». Alle Einträge sind mit Kleinbuchstaben getippt, die ersten beginnen 1938, kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Es ist aber auch das Jahr, in dem er das Studium von Hegels Philosophie aufnimmt, in einer Situation, die der von Marx im Londoner Exil nach der gescheiterten Märzrevolution 1848 und der von Lenin im Zürcher Exil nach dem Zusammenbruch der Zweiten Internationale und dem Beginn des imperialistischen Weltkriegs 1914 ähnelt. Auch sie studierten in einer Phase der Niederlage und äusserster Spannung die Philosophie Hegels.

Ein «unheimliches werk», notiert Brecht im Februar 1939. Bei Hegel findet Brecht ein Arsenal von Begriffen, um die enormen Fortschritte in Technik und Naturwissenschaften, die geschichtliche Dynamik des internationalen Klassenkampfs, die faschistische Kriegsmaschine und die sozialistische Weltrevolution im Zusammenhang mit ästhetischen Fragen und seiner Arbeit zu sortieren. Im Januar 1940 schreibt er, «dass die dialektik immer mehr die einzige möglichkeit wird, sich zu orientieren». Auch den Krieg begreift er als einen dialektischen Prozess, der in sich seine eigene Aufhebung erzeugt, gerade weil die Nazis auf Grundlage «der staatlichen monopole neuer prägung» den Blitzkrieg perfektioniert haben. Und im März 1942 beklagt er den mangelnden Sinn für Dialektik bei den Philosoph:innen. Im Gegensatz zu den Physiker:innen bringen sie den «logischen sprung» nicht fertig, die Negativität – zusammengezogen im Zeichen 0 – als realdialektisches Moment der Bewegung in der Natur zu begreifen.

Der Schlüssel zur Praxis

Die gewonnenen Einsichten machen nicht vor der eigenen Arbeit halt. Die Dialektik wird ein Ordnungsprinzip für seine ästhetischen Überlegungen. Sie gibt Brecht den Schlüssel dafür in die Hand, das Publikum aus der passiven Rolle des gedankenlosen Gefühlsautomaten zu befreien. Nicht ertragbar soll die Realität durch Kunst werden, sondern Gegenstand revolutionärer Praxis. Mit dem epischen Theater wird «in jeder beziehung […] der zuschauer zum dialektiker», wie Brecht 1940 schreibt. Rigoros ordnet sich nun seine poetische Strategie neu, eben weil er das Kunstbedürfnis der Unterdrückten ernst nimmt, in der Kunst die Realität als veränderbar zu erfahren. «wann», so fragt er 1941, «wird die zeit kommen, wo ein realismus möglich ist, wie die dialektik ihn ermöglichen könnte?» Das ist Literatur im Einklang mit der elften Feuerbach-These von Marx.

Diese Zeit schlug mit der Befreiung Europas vom Faschismus an. Mit Blick auf Westdeutschland findet Brecht «niemanden, der sich um die materialistische dialektik kümmert». Sie sei «absolut nötig», denn «das deutsche bürgertum ‹entnazen› heisst, es entbürgern. […] nur wenn er kein bürger mehr ist, ist er kein nazi mehr.» Nur durch die Abschaffung des Kapitalismus wird der Faschismus historisch unmöglich. Folgerichtig kehrte Brecht in den sozialistischen Teil Deutschlands zurück, der mit dem langfristigen Ziel einer klassenlosen Gesellschaft die Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft begann. Der Widerspruch blieb damit nicht aus. Wieder legt die Dialektik den roten Faden frei: Deutschland kann «gar nicht mehr begriffen werden ohne dialektik, denn seine einheit muss es durch weitere zerreissung erkämpfen».

Der letzte Eintrag ist vom Juli 1955 als Leiter des Berliner Ensembles, ein Jahr vor seinem Tod: «einige beispiele für DIALEKTIK AUF DEM THEATER entwerfend». Ob in den grossen gesellschaftlichen Konflikten oder auf der Theaterbühne an der Spree – ohne Dialektik wird nichts gehen. Das ist die Bilanz, die man mit Brecht und seinen Ratgebern ziehen muss.

Was aber ist denn nun das Besondere am dialektischen Denken? Antworten darauf finden sich in Brechts «Flüchtlingsgesprächen», einem Meisterwerk seiner Prosa, zu dem er 1940 von Diderots «Jacques der Fatalist» angestossen wurde. In einem Bahnhofsrestaurant von Helsingfors (Helsinki) führen Ziffel, ein Physiker, und Kalle, ein klassenbewusster Arbeiter, mitten im Zweiten Weltkrieg eine Reihe von Gesprächen. Im zehnten Kapitel kommen sie auf die Dialektik zu sprechen. «Die schärfsten Dialektiker», stellt Ziffel fest, als würde Brecht seine Haupterkenntnis im Exil zusammenfassen, seien die Flüchtlinge: «Wenn ihre Gegner siegen, rechnen sie aus, wieviel der Sieg gekostet hat.» Das «Arbeitsjournal» lässt die Buchführung erahnen, die Brecht täglich über die Siege des Gegners geführt hat.

Hegel nenne den «Witz einer Sache», so Ziffel, Dialektik – und weil er es mit todernstem Gesicht vorgebracht habe, mache das Hegel «zu einem der grössten Humoristen unter den Philosophen». Kalle dehnt die Dialektik auf das Gebiet der Politik aus. Nur hier habe er von Hegel gehört, sonst scheint ihn weder Hegel noch die Dialektik zu interessieren. Der Witz liegt darin, dass jede Sache – auch in der Politik – zugleich sie selbst und nicht sie selbst ist, sich ständig wandelt, manchmal rasch und augenscheinlich, manchmal langsam und kaum wahrnehmbar, sodass in dem Augenblick, wo wir die Sache mit unseren Begriffen zu fassen meinen, die Sache unseren Begriffen entkommt und etwas zu lachen hat. Die Sache verändert sich. Daraus folgt, dass unsere Begriffe auch in Bewegung gebracht werden müssen, und zwar mit Methode. Stimmen schon unsere Begriffe nicht, ist die Praxis der Ausgebeuteten erst recht blind, im Leerlauf gefangen.

Diesen Witz auf die Füsse zu stellen, war Brechts Kunst. Die Dialektik loben heisst die Augen gegenüber einer von Klassen umkämpften Realität öffnen lernen, um den Widerspruch in der Praxis lebendig werden zu lassen. Nicht morgen. Heute. Brechts Werk vergegenwärtigt noch immer: Rettung liegt darin, dass nichts mit sich identisch ist, allen voran der Mensch nicht.

Mesut Bayraktar (33) lebt als Schriftsteller in Hamburg. Zuletzt ist von ihm der Roman «Aydin. Erinnerung an ein verweigertes Leben» (2021) im Unrast-Verlag erschienen.