Schlechter Ruf: Bomben, Terror und Chaos?

Nr. 28 –

Im allgemeinen Sprachgebrauch steht Anarchie für Unordnung und Willkür. Also für das Gegenteil dessen, was weite Teile der anarchistischen Bewegung anstreben.

«Streik oder Anarchie? Aufstände in Deutschland und Frankreich». «Chaos, Gewalt und Anarchie: Die Lage in Haiti ist komplett verfahren». «Aufstand in Brasilien: Bilder reiner Anarchie». So lauten einige Schlagzeilen der letzten Monate.

Bricht irgendwo auf der Welt die Ordnung zusammen, ist schnell von Anarchie die Rede. Dabei meint der Begriff das Gegenteil von Chaos und Gewalt, nämlich Freiheit von Herrschaft und Zwang, wie diverse Denker:innen argumentiert haben: Der deutsche Philosoph Immanuel Kant etwa definierte Anarchie als «Gesetz und Freiheit ohne Gewalt», der französische Geograf Élisée Reclus als «die höchste Form der Ordnung».

Wie aber kam es zur offenkundig erfolgreichen Umdeutung und Abwertung des Begriffs? Die Denunzierung des Anarchismus ist fast so alt wie dieser selbst – wobei in den letzten Jahrzehnten eine bemerkenswerte Wiederentdeckung stattfand.

Neben den Rechten und den Konservativen wirkten an der Diffamierung des Begriffs auch die Sozialdemokrat:innen und die Kommunist:innen mit. Ein Beispiel: Unter dem Druck von Bismarcks «Sozialistengesetz» entledigte sich die deutsche Sozialdemokratie ihres anarchistischen Flügels. An der Gleichsetzung von Anarchie und Gewalt waren allerdings auch die Anarchist:innen selbst nicht unschuldig. Der italienische Anarchist Errico Malatesta (1853–1932) äusserte etwa den programmatischen Satz: «Die anarchistische Idee ist ebenso wenig gegen Entstellung gefeit, wie es die liberale Idee erwiesenermassen war, doch wir können eine solche Entstellung schon in den Anfängen feststellen, wenn wir die von manchen Anarchisten an den Tag gelegte Verachtung der Massen, ihre Intoleranz und ihren Drang, Terror zu verbreiten, wahrnehmen.»

Verfolgt und verfemt

Als die Bewegung im 19. Jahrhundert das Konzept der «Propaganda der Tat» entwickelte, sollten nicht bloss Worte, sondern in erster Linie vorgelebte Praxis anarchistischen Ideen zum Durchbruch verhelfen und zum Sturz der bestehenden staatlichen Ordnung beitragen. Manche befürworteten den Einsatz von Gewalt. Die grosse Mehrheit der Anarchist:innen lehnte dies jedoch schon früh ab, darunter einer der bedeutendsten Denker der Bewegung, Pjotr Kropotkin.

Bis in die zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts verfestigten zahlreiche Attentate gegen Monarchen, Staatsoberhäupter, Justizbeamte und Wirtschaftsvertreter in Griechenland, Frankreich, Italien, Spanien, den USA oder der Schweiz das Bild vom gewalttätigen Anarchisten. In Genf fiel Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn (1898), in Italien König Umberto I. (1900) oder in den USA Präsident William McKinley (1901) Attentaten zum Opfer. McKinleys Mörder Leon Czolgosz behauptete, er sei von der Anarchistin und Feministin Emma Goldman beeinflusst worden.

Dieses Beispiel zeigt, wie die Verunglimpfung von Anarchist:innen und ihrer politischen Philosophie funktionierte: Czolgosz war nie in einer anarchistischen Verbindung aktiv, sondern, wie sich herausstellte, Mitglied der Republikaner. Die Methode lässt sich aber auch an einem anderen Fall veranschaulichen: den Justizmorden an Ferdinando Sacco und Bartolomeo Vanzetti. Die Polizei von Boston legte den beiden italienischen Immigranten, die sich in den USA der anarchistischen Bewegung anschlossen, 1920 die Morde an einem Buchhalter und einem Wachmann zur Last. Im rassistisch unterlegten Prozess verurteilten die Geschworenen die beiden schliesslich zum Tod.

Das Urteil löste weltweit Proteste aus, auch in Genf, Zürich und Basel gingen Tausende Menschen auf die Strasse, in Basel waren es gar 12 000 Personen – was zeigt, wie breit die anarchistische Bewegung damals gesellschaftlich verankert war. Upton Sinclair schildert diese Geschichte im 1928 publizierten, noch heute lesenswerten Roman «Boston» – eigentlich eine monumentale Reportage über die politischen Verhältnisse und die sozialen Gegensätze in den Staaten.

Wiederentdeckt und erforscht

In der Zeit vor und während des Zweiten Weltkriegs – in Deutschland verschwanden zahlreiche Anarchist:innen in den Konzentrationslagern der Nazis – verlor die politische Denkrichtung an Einfluss. In Spanien wurde sie während des Bürgerkriegs von Franco zerschlagen. In der Sowjetunion haben die Stalinist:innen sie ihres Einflusses beraubt.

Eine Wiederentdeckung erlebten anarchistische Philosophie und Praxis erst wieder im Aufbruch der sechziger Jahre. Ihre Vielfalt machte sie für zahlreiche Strömungen anschlussfähig. Die Gedanken anarchistischer Denker:innen wie Gustav Landauer (Ökologie), Emma Goldman (Feminismus) oder Michael Bakunin (individuelle Freiheit und Kollektiv schliessen sich nicht aus, sondern bedingen sich) beeinflussten ab den sechziger Jahren die Neue Linke. Auch spätere Bewegungen dockten an das Ideenreservoir an: Dazu gehörten Aufstände wie die Schweizer Jugendbewegung, Hausbesetzer:innen, Basisgewerkschaften, die Umwelt- oder die Antiglobalisierungsbewegung.

Bemerkenswert auch: Der Anarchismus wurde an den Universitäten entdeckt, wo Forschung zum Thema bis vor wenigen Jahrzehnten praktisch inexistent war. Der deutsche Historiker Fabian Lemmes hat dazu im deutschen Archiv für Sozialgeschichte eine Übersicht publiziert. Er schreibt: «Der Anarchismus spielte in der historischen Forschung lange nur eine marginale Rolle. Selbst in der Historiografie zur Arbeiterbewegung war er, von Spanien abgesehen, ein Nischenthema.» In den letzten Jahren habe sich dies wesentlich geändert.

Von der Uni auf die Strasse?

Das erstarkte Forschungsinteresse sei teilweise auf eine neue politische Aufmerksamkeit für anarchistische Ideen und Praktiken seit der Jahrtausendwende zurückzuführen. Interesse wecke der Anarchismus aber auch als Bewegung, die wie kaum eine andere «transnational und global agierte», was sie zu einem «Sujet für die boomende transnationale und Globalgeschichte macht». Anders als in Mitteleuropa erfreue sich die Anarchismusforschung besonders in der englischsprachigen Wissenschaft seit zwanzig Jahren eines steigenden Interesses, was nicht zuletzt mit neoanarchistischen Strömungen und Bewegungen in Grossbritannien, den USA und Kanada zusammenhänge.

Von einem «anarchist turn» ist man in Europa gemäss Lemmes noch weit entfernt. Allerdings nehme auch hier das Interesse zu. Dies gelte besonders für die romanischsprachigen Länder, wo die Aufmerksamkeit für den Anarchismus wegen seiner grösseren historischen Bedeutung schon immer höher gewesen sei. Als Beispiel für das gestiegene Forschungsinteresse referiert Lemmes ausführlich auch die Doktorarbeit «Anarchisten!» des vor zehn Jahren bei einem Verkehrsunfall verstorbenen Zürcher Historikers und Musikers Nino Kühnis.

Ein Diagramm von Lemmes zeigt: Zwischen 1967 und 2017 nahm die Zahl von Arbeiten zum Anarchismus zu. Ob und in welcher Form die anarchistischen Ideen von den Universitäten wieder auf die Strasse zurückkehren, wird sich erst weisen.

Führt der Anarchismus zur höchsten Form der Ordnung? www.woz.ch/debatte

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