Schweizer Medien: Rechtsumkehrt

Nr. 34 –

Ohne genauen Plan, aber voller Absicht: Wie die Schweizer Medien politisch immer weiter nach rechts driften.

Rechtsumkehrt

Das Lob kommt von ganz oben. Von der Bühne des Schützenhauses Albisgüetli in Zürich, ausgesprochen von jenem Mann, der mit sehr viel Macht, noch mehr Geld und zuweilen auch mit dreisten Lügen die Medien in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten zu beeinflussen suchte: Christoph Blocher. Es ist der 20. Januar 2023, das Wahljahr hat gerade begonnen, und die SVP will mit einer nächsten Initiative die Migration beschränken. Die mediale Themensetzung scheint zu funktionieren: «Es gibt Lichtblicke, das ist schön», zeigt sich Blocher zufrieden.

«Der NZZ-Chefredaktor, schauen Sie mal diesen Lichtblick an!» Er zitiert einen Artikel, in dem Eric Gujer die gescheiterte Integration von Migrant:innen in Berlin beklagt. «Es ist ein Anfang, dass es die Journalisten zugeben.» Dann erwähnt Blocher einen doppelseitigen Artikel aus der «SonntagsZeitung» mit dem Titel «Willkommen in der 9-Millionen-Schweiz»: Hervorragend sei der Text, ganz sachlich. «Endlich erwachen sie!», ruft Blocher in den Saal.

Die Behauptung, dass fast alle Medien und die meisten Journalist:innen links ticken, ist in der Schweiz eine Selbstverständlichkeit. Sie hat auch den Aufstieg von Multimilliardär Blocher und der SVP begleitet, ähnlich wie die Attacken gegen die vermeintliche Classe politique.

Doch ausgerechnet das Lob von Blocher im Albisgüetli zeigt, dass eine Veränderung in Gang ist. Die Medien – so zumindest der subjektive Leseeindruck – sind im Wahljahr vollgestellt mit SVP-Interpretationen. Zuwanderung und Wokeness erscheinen als die grossen Übel der Zeit, während soziale Entwicklungen wie etwa steigende Preise und Mieten deutlich weniger Beachtung finden. Auch die CS-Rettung wirkt schon wieder wie eine ferne Episode, trotz immenser Risiken für die Volkswirtschaft durch die neue Megabank UBS.

Ist tatsächlich ein Rechtsruck der Medien in Gang? Eine Entwicklung in dem Sinn, dass die Themen und Denkarten rechter Parteien mehr Platz finden als linke?

Ein Jongleur wird Journalist

Den Artikel über die «9-Millionen-Schweiz» hat Rico Bandle geschrieben. In der kleinräumigen Schweiz kennt man sich bekanntlich meist von irgendwo, Rico kenne ich aus der Jongliergruppe der Kantonsschule St. Gallen. Er war beim Schultheater der Star der Gruppe, ging später mit einem Zirkus auf Tournee. Für die richtige Wirkung beim Jonglieren braucht man nicht nur Geschicklichkeit, sondern muss auch eine Unschuldsmiene aufsetzen können: Hoppla, ein neuer Ring ist im Spiel! Wo kommt denn der plötzlich her?

Spricht man Bandle beim Treffen in einem Zürcher Café auf den Artikel zur «9-Millionen-Schweiz» an, zeigt er sein unschuldiges Artistengesicht von früher. «Null Absprachen» habe er mit der SVP gehabt, als er den Artikel vorbereitete, den er pünktlich aufs neue Jahr veröffentlichte. Er habe SVP-Parteisekretär Peter Keller, der früher mit ihm auf der «Weltwoche»-Redaktion arbeitete, sogar um den Initiativtext angefragt, um ihn als Primeur bringen zu können. Doch Keller habe abgewunken, man sei damit noch nicht so weit. Wie gesagt, keine Absprache. «Man muss als Journalist einfach die Nase im Wind haben. Die Migration und ihre Folgen sind ein Thema in der Bevölkerung. Und es war klar, dass die SVP mit ihrer Initiative kommt.»

Bandle definiert sich selbst politisch als «ultraliberal»: für Selbstverantwortung, Freiheit und möglichst wenig einschränkende Regeln. Den Eindruck, dass der Journalismus nach rechts rücke, teilt er nicht: «Dass einzelne Artikel wie meiner Beachtung finden, hat damit zu tun, dass der Mainstream weiterhin links steht», findet Bandle. «Die Behauptung, dass eine irgendwie orchestrierte Rechtswende stattfindet, tönt für mich wie eine Verschwörung.»

Tatsächlich ist die Medienproduktion im Alltag häufig sehr zufällig. Will man zeigen, ob und wie sich die Ausrichtung der Medien verschiebt, sucht man deshalb besser nicht nach einem grossen Plan. Sondern analysiert drei Ebenen: die Eigentumsverhältnisse der Medien, die persönlichen Seilschaften von Journalist:innen sowie die politischen Deutungsmuster, die sie verbreiten. Zu berücksichtigen ist auch, dass sich die Medien mit der Digitalisierung und den einbrechenden Werbeeinnahmen als Folge davon in einer tiefen Strukturkrise befinden, deren Ausgang weiterhin völlig offen ist.

Somms Werbeeinlage

Wie dramatisch diese Krise ist, zeigen zwei Zahlen: Der inflationsbereinigte Werbeumsatz ist gemäss einer Zusammenstellung des liberalen Thinktanks Avenir Suisse von 3,3 Milliarden Franken im Jahr 2000 auf heute lediglich 0,7 Milliarden gesunken. Gewiss, viel von diesem Geld fliesst über digitale Marktplätze, die Stellen vermitteln oder Autos verkaufen, weiterhin in die Medienkonzerne. Bloss steht es dort nicht mehr für die Finanzierung des Journalismus zur Verfügung, sondern für das Wohl der Aktionär:innen. Im Vergleich zur Situation vor zwanzig Jahren muss man deshalb von einem Rumpfmediensystem sprechen.

Die Abwärtsspirale von etablierten Medienmarken ermöglichte es wiederum rechten Financiers, ihren Einfluss zu vergrössern. Just um die Jahrtausendwende, als der Werbeboom der Medien in der Schweiz seinen Zenit erreichte, ritten sie ihren ersten erfolgreichen Angriff. Drei weitere sollten folgen. Bis heute werden diese Angriffe viel zu selten im Kontext erzählt.

Als Erstes kaufte der Tessiner Finanzspekulant Tito Tettamanti 2002 die Jean Frey AG, zu der die «Weltwoche» damals gehörte. Diese sollte vom liberalen Traditionsblatt erklärtermassen zum rechten Oppositionsorgan werden, mit Chefredaktor Roger Köppel an der Spitze. Später verkaufte Tettamanti die «Weltwoche» zu einem Spottpreis an Köppel weiter.

2010 folgte der zweite Angriff: Tettamanti schnappte sich die «Basler Zeitung», nach einem vierjährigen Versteckspiel trat Christoph Blocher offiziell als Miteigentümer in Erscheinung. Mit Lügen – «Ich bin weder direkt noch indirekt beteiligt» – hatte Blocher eine Beteiligung zuvor stets abgestritten. Auch bei der «BaZ» sollte ein publizistischer Rechtskurs eingeschlagen werden: Chefredaktor wurde der bisherige «Weltwoche»-Vize Markus Somm.

Der nächste grosse Angriff folgte 2014 auf die «Neue Zürcher Zeitung». Weil dort Aktionär:innen maximal ein Prozent der Aktien halten dürfen, ist eine Einflussnahme via Aktionariat kaum möglich. Um den gesellschaftspolitisch offeneren Kurs der damaligen NZZ zu beenden, versuchten rechtsliberale Kreise um den Verwaltungsratspräsidenten Etienne Jornod, Markus Somm als Chefredaktor zu installieren.

Der Putsch misslang, Eric Gujer kam stattdessen zum Zug – und sollte die rechten Erwartungen mehr als erfüllen. Dass sein von Christoph Blocher gelobter Leitartikel gegen Migrant:innen in Berlin spielt und nicht in Bern, ist kein Zufall: Zum Rechtsruck der NZZ trägt bei, dass man in Deutschland wachsen will und dort beispielsweise mit dem Newsletter «Der andere Blick» auch ein nationalistisches Publikum um die AfD adressiert.

2020 folgte der letzte Versuch: Markus Somm kaufte die Satirezeitschrift «Nebelspalter», unterstützt von siebzig reichen Geldgeber:innen, die je 100 000 Franken einschossen. Wie geht es Unternehmersohn Somm, der am liebsten über das freie Unternehmertum schreibt und unlängst ein Buch darüber veröffentlichte, wie das Unternehmen Schweiz so reich wurde?

Markus Somm gibt sich am Telefon erstaunlich gut gelaunt. Erstaunlich, weil er in einem Videopodcast mit «Inside Paradeplatz» zugab, dass er weder mit den Einnahmen noch mit der Wirkung des zum Politportal umgebauten «Nebelspalters» bisher zufrieden sei. Es zählt erst 4500 Abonnent:innen. Primeurs sind augenscheinlich Mangelware. Bereits spricht CH Media von Somms Scheitern als Publizist. Mit der WOZ unterhält sich Somm ausführlich über den «Nebelspalter», die Schweiz und die Welt. Leider will er beim Gegenlesen dann aber nur eine bestimmte Auswahl von Zitaten autorisieren. Hier also ein Memo von Somm, um den Titel seines Newsletters zu zitieren. Exklusiv in eigener Sache:

«Was in den Mainstreammedien zu lesen war, ist von A bis Z falsch: Wir sind sehr gut auf Kurs, unsere Abonnentenzahlen sind für ein digitales Bezahlmedium beachtlich, und wir haben Produkte, wie etwa den Podcast ‹Bern einfach› oder mein Memo, wo wir auf riesige Reichweiten kommen. ‹Bern einfach› bringt es auf 130 000 Downloads pro Monat. Die erreichten Zahlen entsprechen dem Businessplan, die Geldgeber sind äusserst zufrieden mit der Leistung. Dass es zu häufigen Personalwechseln kommt, ist doch ganz normal bei der Gründung eines Start-ups. Die politische Grosswetterlage ist auf alle Fälle sehr gut für dissidente Medien, wie der ‹Nebelspalter› eines ist. Im Übrigen freue ich mich, dass noch im September der ‹Nebelspalter› mit einer neuen Website erscheint: Wir stärken, wo wir gut sind.»

So weit dieser kurze Werbespot für den «Nebelspalter». Etwas Werbung können die Rechtsaussenblätter offenbar gebrauchen. Denn auch wenn ihre Chefredaktoren nichts lieber als den freien Markt predigen: Sie sind dort oft nicht besonders erfolgreich, trotz der Anschubfinanzierung schwerreicher Mäzen:innen.

Die «BaZ» mussten Blocher und Somm an die heutige TX-Gruppe verkaufen, nachdem der Rechtskurs zum Leser:innenschwund geführt hatte. Stieg die Auflage der «Weltwoche» nach dem Amtsantritt von Roger Köppel auf über 90 000 Exemplare, beträgt sie heute gemäss WEMF-Statistik lediglich noch 39 000. Vor diesem Hintergrund sind die Endlosselbstgespräche, die Köppel auf seinem Daily-Videokanal führt, wenig verwunderlich: Sie bringen immerhin noch Werbeeinnahmen.

Vielleicht liegt darin die Tragik von Somm und Köppel: Auch wenn sie sich weiterhin in einer Dissidenz wähnen – was angesichts der seit 175 Jahren bürgerlich regierten Schweiz schon immer eine etwas absurde Vorstellung war –, ist ihre Aufgabe erfüllt. Rechte Kampfblätter verlieren an Wirkung, wenn auch die grossen Medien ihren Ansätzen und Interpretationen mehr Raum geben. Dass dies passiert, hat auch mit dem eigenen Nachwuchs zu tun.

Wein trinken mit Faschisten

Rico Bandle arbeitete acht Jahre lang als Kulturredaktor für die «Weltwoche». «Roger Köppel hat mich sehr geprägt. Er war wahnsinnig fordernd – aber auch unglaublich inspirierend mit seiner Leidenschaft für den Journalismus», sagt er. Gelernt habe er von Köppel besonders eine Regel: «Dass das Kontraintuitive journalistisch das Interessante ist. Nicht das Bekannte bringen, sondern den Widerspruch dazu.» Und wie beurteilt er Köppels Mutation vom Journalisten zum SVP-Politiker und heutigen Putin-Propagandisten? «Ich bin nicht immer gleicher Meinung wie Köppel. Man kann mit ihm sehr gut streiten. Im Gegensatz zu anderen will ich nicht den Stab über ihn brechen.»

Bandle ist nicht der Einzige, der von der «Weltwoche» zur «SonntagsZeitung» gewechselt hat. Auch seine einstigen Kolleg:innen Andreas Kunz und Bettina Weber haben sich dort eingefunden. Und sie tun, was sie von Köppel gelernt haben. Sie frönen dem Kontraintuitiven. Diesen Sommer etwa machten sie Studien zu Schlagzeilen, wonach Studentinnen lieber reiche Männer heirateten, statt sich um eine Karriere zu bemühen, oder dass Linke in den Städten besonders intolerant seien.

Dass die erste Studie noch kein Peer-Review, also eine unabhängige Begutachtung, durchlaufen hatte und dass die zweite tendenziös interpretiert wurde, nahm die Redaktion offenbar bewusst in Kauf: Fehler führen erst recht zu Aufregung und damit zu noch mehr Klicks. Oder in den Worten eines Kommentars von Chefredaktor Arthur Rutishauser: «Da haben wir offensichtlich in ein Wespennest gestochen.»

Auch bei der NZZ machen Leute Karriere, die bei den Rechtsaussenblättern ihre Sporen abverdient haben. So etwa Benedict Neff, der von Somms «BaZ» nach Berlin geschickt wurde, dort später das Deutschlandbüro der NZZ mit aufbaute und von Eric Gujer schliesslich zum neuen Feuilletonchef gekürt wurde. Diesen Sommer besuchte er den faschistischen Vordenker Renaud Camus auf seinem Schloss in Frankreich. Statt einer scharfen Analyse über seine antisemitische Verschwörungserzählung von einem «Grossen Bevölkerungsaustausch» entstand ein einfühlsames Porträt. Beim Cabernet-Sauvignon gab man sich unter weissen Männern gemeinsam dem Weltzweifel hin. Diesem Tiefpunkt in der liberalen Publizistik der NZZ durfte Neff noch einen Leitartikel zur Migration mit antimuslimischen Ressentiments nachschicken.

Dass die Welt nicht nur in einzelnen Artikeln von rechts interpretiert wird, sondern auch der Gesamtsound einer Berichterstattung den Interessen der bürgerlichen Parteien und Wirtschaftsverbände folgen kann, zeigt das Thema der Altersvorsorge. Als im Herbst letzten Jahres die Rentenaltererhöhung der Frauen auf 65 Jahre zur Abstimmung kam, sprachen sich alle grossen Medien dafür aus: «Starke Frauen sagen Ja», kommentierte der «Tages-Anzeiger» vor der Abstimmung, und der «Blick» meinte zur Annahme: «Heureka, die Schweiz ist reformfähig! Das Ja zur AHV-Reform bricht den linken Nimbus der Unbesiegbarkeit in Sozialfragen.»

Der Politologe Marco Jeanmaire hat die Berichterstattung zur AHV untersucht – nicht nur zu einer einzelnen Abstimmung, sondern in einem längeren Zeitraum: zwischen den Jahren 2017 und 2022. Er kommt in seiner Masterarbeit an der Universität Fribourg zu einem klaren Schluss: Der Fokus der Berichterstattung in diesen Jahren lag stärker auf den Finanzierungsproblemen der AHV, die häufig von der rechten Seite thematisiert werden.

Fragen zur Rentenleistung oder Altersarmut, die von den Gewerkschaften forciert werden, fanden hingegen weniger Eingang in die Medien. Und vor allem: Frauen, deren Rentenalter in dieser Phase erhöht werden sollte, waren in der Debatte unterrepräsentiert. Das Fazit von Jeanmaire: Die Berichterstattung zur AHV war insgesamt unausgewogen. Die Sichtweisen der Befürworter:innen einer Rentenaltererhöhung – und damit auch die Kapitalinteressen der Privatversicherer – könnten als hegemonial bezeichnet werden.

Der «Tagi» misst die Temperatur

Dass der «Tages-Anzeiger» in seinen Kommentaren die Rentenaltererhöhung begrüsste und in diesem Jahr kritisierte, der Frauenstreik sei von links gekapert worden, hat auf Twitter viele Feminist:innen verärgert. Kippt nun auch der «Tagi»? Das wäre besonders fatal. Im Gegensatz zur NZZ, die schon immer rechts orientiert war, verstand sich der «Tages-Anzeiger» nach dem gesellschaftspolitischen Aufbruch von 1968 schliesslich einmal als linksliberale Zeitung. Oder wie es in der Unternehmensgeschichte zum Hundert-Jahr-Jubiläum von 1993 schwarz auf weiss heisst: «Der Tages-Anzeiger bleibt ein liberales Blatt, mit Standort etwas links von der Mitte.»

Es lohnt sich überhaupt, dieses Buch in die Hände zu nehmen, um die Veränderungen im Schweizer Journalismus in einem noch längeren Bogen zu verstehen. Fern vom TX-PR-Sprech, wie er unter dem heutigen Verwaltungsratspräsidenten Pietro Supino etabliert wurde, behandelt es die eigene redaktionelle und wirtschaftliche Entwicklung kritisch.

In einem 200-seitigen Report wird die Entlassung von Chefredaktor Viktor Schlumpf Anfang der neunziger Jahre aufgearbeitet, die eine Folge des Wirkens des damaligen Generaldirektors Heinrich Hächler war: Dieser trieb die Kommerzialisierung des «Tages-Anzeigers» voran und wollte die Redaktion disziplinieren. Dafür lancierte er die «SonntagsZeitung», die von Beginn weg seichter und rechter berichtete – und wollte neu Ressortchef:innen in der Redaktion einführen. Diese leistete kollektiv Widerstand. Man stelle sich das vor: Bis auf die Chefredaktion gab es damals keine offiziellen Hierarchien, während das aktuelle TX-Organigramm ein einziges Wimmelbild von Chef:innen und Subchef:innen ist.

Hört man sich heute unter den Tamedia-Mitarbeiter:innen um, sehen viele das grösste Problem weniger im politischen Kurs des Medienkonzerns als in seinen Strukturen: In den neoliberalen Hierarchien sei die Empathie völlig verloren gegangen. Die einzige Temperatur, die beständig vermessen werde, sei die Klickrate einzelner Artikel. Nur wenn ein Thema «Temperatur» habe – so der intern verbreitete Ausdruck –, werde es weiterverfolgt. Die Aufklärung und die Differenzierung blieben dabei oft auf der Strecke.

Dieses Jahr wurde Raphaela Birrer zur neuen Chefredaktorin des «Tages-Anzeigers» gekürt. Durch die Redaktion, so heisst es, sei ein hörbares Aufatmen gegangen: Endlich eine Leiterin mit Empathie! Birrer hat die erwähnten Kommentare zur AHV oder zum Frauenstreik geschrieben. Wo sie politisch steht, daraus macht sie im Gespräch keinen Hehl. Nicht etwas links von der Mitte, sondern ganz genau in der Mitte. In der Zeitung ist denn auch ihre Vorliebe für Gerhard-Pfister-Interviews erkennbar. «Meine Haltung ist seit vielen Jahren bekannt. Man kann sie in meinen Kommentaren nachlesen oder auch in unseren Podcasts nachhören», sagt Birrer. Nach ihrer politischen Haltung sei sie bei der Ernennung im Übrigen nie gefragt worden.

Birrer ist es wichtig zu betonen, dass sie keinen politischen Kurs vorgeben möchte. «Der ‹Tages-Anzeiger› soll die Summe der Meinungen seiner Mitarbeiter:innen bleiben», sagt sie. Sie wolle das Medium noch stärker als bisher zu einer Forumspublikation machen, in der eine breite Debatte stattfinde. Deshalb habe sie gerade das Meinungsressort gestärkt. Was ihr dabei am meisten Sorgen macht: wie stark der Clickbait einzelne Themen verstärkt. «Kulturkampfthemen sind in der Leser:innenschaft stark nachgefragt.» Woraus sich folgern lässt: Die Orientierung an den Klicks bewirkt eine thematische Engführung – und fördert den Regress gegen gesellschaftspolitische Veränderungen.

Zielen auf die SRG

Die Geschichte des Rechtsrucks der Schweizer Medien handelt von strategischen Investoren, die geschickten Jongleuren die Manege bauten. Von Vorturnern, die sich so weit aus der Manege hinaus radikalisierten, dass sie sich längst nicht mehr an die berufsethischen Regeln halten. Von einem einst stolzen Wirtschaftsblatt, das mittlerweile die AfD bedient. Von einer «SonntagsZeitung», die schludrige Thesen fabriziert, die von anderen Medien wegen der hohen «Temperatur» weitergeschmiedet werden. Von einem Clickbait fern jeder Aufklärung, bei dem auch viele Linke in Dauerempörung Artikel teilen, auch wenn es beim ganzen Rechtsdreh um eine Diffamierung von linken Ideen geht. Warum diese Texte eigentlich ständig verbreiten?

Die Geschichte des Rechtsrucks dauert schon mehrere Jahrzehnte, aber sie ist noch lange nicht fertig erzählt. Es gäbe noch von der Ringier-Familie zu berichten, wo beim «SonntagsBlick» gerade der Chefredaktor gegangen ist. Sein Kurs war – beinahe ein Unikum in der heutigen Medienlandschaft – sozial und ökologisch. Auch von den CH-Medien könnte man erzählen, die als Regionalzeitungsverbund von vielen unbemerkt zu einer potenten Privatfernsehgruppe gewachsen sind. Wenn es in den kommenden Jahren um die SVP-«Halbierungsinitiative» gegen die SRG geht, darf man gespannt sein, ob sich die Gruppe von Peter Wanner als Nutzniesser eines Abbaus in Stellung bringt. Bloss ein Argument möchte man in dieser ganzen Debatte dann nicht mehr hören: dass die Medien doch viel zu links seien.

WOZ Debatte

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Kommentare

Kommentar von Philipp Horn

Fr., 25.08.2023 - 17:40

Deshalb ist es gut dass es Euch gibt . Journalismus mit Haltung ! Danke

Kommentar von eggera01

Fr., 25.08.2023 - 20:34

Da hat es Rico Bandle mal wieder geschafft: Schön ins Wahljahr und im Vorlauf einer SVP-Anti-Migrations-Initiative irgendeinen Stuss zusammeninterpretieren. Gleiches hat er bereits 2020 kurz vor der Begrenzungsinitiative gemacht (hier nachzulesen: https://www.tagesanzeiger.ch/wie-die-migration-die-schweiz-veraendert-765345055309).

Kommentar von fredi141

So., 03.09.2023 - 21:35

eggera01 Können Sie belegen, dass Sie besser recherchieren und mehr wissen, warum diese fragwürdige SVP Initiative für unsere Gesellschaft Sinn macht.

Kommentar von Rolf Zimmermann

So., 27.08.2023 - 15:31

Danke für die einmal mehr bestens faktenbasierte hervorragende Analyse! Ein Fortsetzungsartikel mit etwas mehr zur Situation bei Ringier und den zunehmend klick-orientierten Formaten der öffentlichrechtlichen Medien sollte das Bild noch ergänzen.

Kommentar von RightIsWrong

Di., 29.08.2023 - 08:58

Die Verbreitung von Information unterliegt nunmal Marktkräften. Je nach Inhalt und Urheber:in ergibt sich eine grössere Verbreitung. Ideale Kriterien für die Selektion sind Wahrheit, Relevanz und Vertrauenswürdigkeit. In der Realität sind es die Kriterien Sensationslust, Unterhaltungswert, aber vor allem Geld. Dient der Inhalt der Information Ausbeutungsinteressen oder jemand mit Geld hat ein Verbreitungsinteresse, ergibt sich leicht eine hohe Verbreitung. Dies analog politischer Massnahmen.

Die Information zeigt durch diese Marktkräfte eine krass verzerrte Realität. Bei den klassichen Medien ist das eher simpel und das Ergebnis transparent. Viel schlimmer ist es bei den Feeds der Social Media. Intransparente, komplexe, hochpersonalisierte und nicht nachvollziehbare Algorithmen sind perfekte Manipulationsmaschienen. Musk, ein Republikaner, hat Twitter für diesen Zweck.
Abhilfe würde in erster Linie die Anpassung der Ausangslage schaffen: gar keine Individuen sollen viel mehr Mittel als andere haben.

Kommentar von HaeHu

Mi., 30.08.2023 - 09:20

Das 'revealed preferences' denken von Frau Birrer scheint mir ebenso verbreitet wie problematisch. Dass kulturkämpferische Clickbait Artikel hohe Klickzahlen erzielen erstaunt nicht. Aber daraus muss nicht folgen, dass Leser:innen das auch tatsächlich lesen wollen. Es ist ja wohl bekannt, dass die Aufmerksamkeitsökonomie des Internets uns zu Verhalten verleiten kann, dem wir eigentlich nicht zustimmen. D.h. es kann gut sein das viele Leser:innen die Clickbait Artikel lesen und sich gleichzeitig eine andere Berichterstattung wünschen würden. In Zeiten der algorhythmenbasierten Selbstentfremdung kann nicht mehr einfach so vom Verhalten auf Präferenzen geschlossen werden. Ein subtileres Mass—subtiler als allein Klickzahlen—ist nötig um herauszufinden welche Themen wirklich gewünscht sind.

Kommentar von Patrick Vögelin

Do., 31.08.2023 - 11:50

Ich finde diesen Rechtsdrall in der Presse sehr gefährlich danke das ihr wenigsten ehrlich seit . Leider ist auch der Presserat sehr geschwächt