Pakistan nach der Flut: Keine Zeit zur Erholung

Nr. 35 –

Was blieb, ist die Verschuldung: Nach den Überschwemmungen vom letzten Jahr stehen in Pakistan Millionen Menschen vor dem Nichts. Ihr Schicksal wird zum globalen Testfall für die Klimagerechtigkeit.

Doktor Taimor Quazi behandelt Dorfbewohner:innen von Ali Jan Magsi.
Viele Familien können sich seit der Flut nicht ausreichend ernähren: Doktor Taimor Quazi behandelt Dorfbewohner:innen von Ali Jan Magsi.

Doktor Quazi sitzt auf dem Beifahrersitz eines Minivans und schaut durchs Fenster. Der Weg führt durch eine kahle Landschaft, Wasserbüffel grasen auf einer kargen, fleckig bewachsenen Steppe, bunte Traktoren kreuzen die Strasse. Daneben rauschen die Überbleibsel einer vergangenen Katastrophe vorbei: umgeknickte Strommasten, an deren Enden lose Kabel baumeln, Zeltplanen, die hell in der Sonne leuchten. «Bis hier stand das Wasser», schreit der Doktor gegen den Fahrtlärm an.

Quietschend hält der Bus vor einem grossen Metalltor. Die Mitarbeiter:innen von Doktor Taimor Quazi tragen Pappkartons mit Babynahrung und Medikamenten in einen kleinen Innenhof. Es ist noch früh am Morgen in Ali Jan Magsi, einem kleinen Dorf in der südpakistanischen Provinz Sindh. Die Sonne brennt bereits gnadenlos.

Taimor Quazi, ein klein gewachsener Mann, dreissig Jahre alt und mit freundlichem Gesicht, wirft sich einen weissen Kittel über die Schultern und nimmt auf einem Sessel Platz. Innerhalb von Minuten stürmen Dutzende Kinder und Frauen in den Hof. Sein Blick wandert über erschöpfte Gesichter. Hagere Menschen in schweissgebadeten Kleidern. Quazi stellt einen Akkuventilator auf den Tisch. «Los gehts», sagt er.

Wie ein grosses Binnenmeer

Quazi ist ein Kämpfer gegen Zahlen. Jeden Tag fährt er mit einem kleinen Team über holprige Strassen und Pisten zu jenen, die abseits der grossen Städte leben. Er behandelt Kinder und Frauen und verteilt Medikamente. Er hört zu, wenn sie von ihrem Schicksal erzählen. «Ich bin oft der einzige Arzt, den diese Menschen sehen», sagt Quazi. Er notiert Zahlen in einer Tabelle, die in den Pressemitteilungen von Hilfsorganisationen stehen werden. Über 500 Dörfer hat er seit Jahresbeginn besucht. Er ist zu einem Chronisten der Krise geworden.

Im Sommer letzten Jahres wurde es in Pakistan zuerst über mehrere Wochen immer heisser, bevor der strömende Regen kam, der ein Drittel des Landes überschwemmte. Das Wasser flutete die Dörfer von Millionen. Städte wurden zu Inseln, fast 2000 Menschen starben. Pakistan, das ohnehin schon finanziell und wirtschaftlich angeschlagen war, rutschte an den Rand der Zahlungsunfähigkeit. Gebannt blickte die Welt auf das Schicksal eines Landes, das auf Satellitenbildern plötzlich einem grossen Binnenmeer glich.

Karte Pakistan

Monate später floss das Wasser wieder ab – aber die Krise verschwand nicht. Im Gegenteil, für die meisten Menschen verschärfte sie sich noch. Die dramatischen Folgen der Überflutungen zeigen sich erst heute: Das Wasser vernichtete neben Häusern und Infrastruktur – etwa Schulen und Krankenhäusern – auch die Ernten. Und damit die Lebensgrundlage unzähliger Menschen. Hinzu kamen eine zerstörerische Wirtschaftskrise und eine nie da gewesene Inflation: Fast 38 Prozent betrug sie zwischenzeitlich. Ein Jahr nach dem grossen Regen stehen viele Menschen noch immer vor dem Nichts. Hunger und Krankheiten machen sich zunehmend breit.

Im Innenhof hält Doktor Quazi die Hand auf die Stirn eines Jungen. Er ist nicht älter als zwölf. Sein grüner Salwar Kamiz, das traditionelle pakistanische Gewand, hängt komplett nass geschwitzt an seinem Körper. «Hast du Fieber?», fragt Quazi und platziert ein Thermometer in seiner Achselhöhle.

Mehrere Monate habe das Wasser in der Landschaft gestanden, erklärt Quazi: die perfekte Brutstätte für Krankheiten wie Malaria und das Denguefieber. Dazu kamen Vergiftungen durch Schlangenbisse und Skorpione, die in Tümpeln und Seen ihr Zuhause fanden. Er zeigt auf die staubige Haut des Jungen, auf der sich kleine rote Flecken abzeichnen. Bis heute fehle es vielen Menschen noch immer an sauberem Wasser zum Trinken und Waschen. Die Konsequenz: Hautkrankheiten und Ausschläge.

Es piept. Quazi wirft einen Blick auf das Thermometer und nickt. «Malaria im Anfangsstadium», sagt er.

Dann legt eine Mutter ihre Tochter auf den Arzttisch. Das kleine Mädchen, wenige Monate alt, schaut gequält zur Seite. Seit Tagen streike ihr Magen, erzählt die Mutter. Der Arzt tastet die Rippen des Mädchens ab, macht ein Foto, notiert den Brustumfang auf ein kleines Stück Papier und reicht der Mutter eine kleine, rot-weisse Plastikverpackung mit der Aufschrift «RUTF+». «Ready-to-use therapeutic food»: ein Nahrungsergänzungsmittel aus Erdnusspaste, Milchpulver, Öl und Zucker. Sechzehn Mal wird Doktor Quazi heute in Ali Jan Magsi eine akute Unterernährung feststellen. Und er wird unzähligen Müttern dieses Mittel aushändigen.

Viele Familien könnten sich seit der Flut nicht ausreichend ernähren, erklärt Quazi, denn aufgrund der zerstörten Ernten fehle es in den betroffenen Gebieten nicht nur an Lebensmitteln, sondern auch an finanziellen Ressourcen. Und im Zuge der Wirtschaftskrise seien die Preise für Mehl, Öl, Reis und Gemüse im letzten Jahr beinahe auf das Doppelte gestiegen.

Bauern beim Anlegen neuer Reisfelder in der Provinz Sindh.
Das Wasser hat die Ernten zerstört: Bauern beim Anlegen neuer Reisfelder in der Provinz Sindh.

Die Provinz Sindh ist die zweitgrösste des Landes, hier sind die Hälfte des Reisanbaus und ein Viertel der Baumwollproduktion Pakistans angesiedelt. Gleichzeitig gehört Sindh zu den ärmsten Regionen, ein Grossteil der etwa anderthalb Millionen Einwohner:innen arbeiten in der Landwirtschaft oder in der Baubranche.

Die Auswirkungen der globalen Klimaerhitzung zeigen sich hier überdeutlich. Das eine sind die steigenden Temperaturen, das andere ist der Regen. Wissenschaftler:innen des Instituts World Weather Attribution schätzen, dass Hitzewellen in Pakistan künftig dreissig Mal wahrscheinlicher werden, als sie es vor Europas Industrialisierung waren. Zwischen Juni und August werden regelmässig Temperaturen von über fünfzig Grad erreicht, seit einigen Jahren gibt es immer neue Rekorde. Auch in Ali Jan Magsi wird das Thermometer im Lauf dieses Tages auf 47 Grad Celsius steigen.

Im Frühjahr, wenn die Luftmassen über dem heissen Boden aufsteigen, ziehen vom Indischen Ozean grosse Wolken über Pakistan. Im Norden treffen sie auf die Gebirgsketten des Himalaja und regnen ab. Steigende Temperaturen und Hitzewellen führen dazu, dass immer mehr feuchte Luft angesaugt wird. Die Folge: länger anhaltende und stärkere Niederschläge. Saisonbedingtes Wetter, aber durch die Klimaerhitzung ins Extreme getrieben.

«Können wir in zehn Jahren hier noch leben?», fragt Taimor Quazi, nachdem seine Mitarbeiter:innen die provisorische Krankenstation wieder abgebaut haben, um in das nächste Dorf zu fahren. Er weiss, dass sich die Hitzeperioden in Pakistan noch weiter ausdehnen dürften. Und dass Fluten darum noch wahrscheinlicher werden. Manchmal, sagt der Doktor, mache ihm das alles Angst. Dann könne er nachts nicht schlafen.

In der Schuldenspirale

Unterwegs in Richtung Süden am nächsten Tag. Entlang der Strasse ragen lange Erdwälle in die Höhe. Sie stammen von Gräben, die ausgehoben wurden, um die parallel laufenden Bewässerungssysteme zu entlasten, wenn der Regen kommt. Dann tauchen die Hütten von Bakhshal Khan Magsi auf. Oder vielmehr: das, was vom Dorf übrig geblieben ist. Knapp 200 Menschen leben hier, aber wo einst kleine Lehmhäuser standen, sind nun bloss noch Zeltplanen lose über Bambusstämme gespannt. Vögel zwitschern, ein heisser Wind bläst aus Süden.

Zahid Hussein, ein Bauer im hellblauen Salwar Kamiz, steht am Dorfrand und blickt auf die kleine, sandige Fläche, die er bis vor einem Jahr sein Zuhause nannte. Ziegelsteine liegen quer über den Boden verteilt. Als der Regen damals länger als gewöhnlich anhielt, hoffte Hussein täglich darauf, dass er bald enden würde. Doch es regnete weiter. Meter um Meter rückte das Wasser näher an sein Haus, das mit seinen dünnen Lehmwänden der Flut ausgeliefert war.

Die Familie von Zahid Hussein neben ihrem provisorischen Zelt, in dem sie seit der Flut lebt.
Die Familie von Zahid Hussein neben ihrem provisorischen Zelt, in dem sie seit der Flut lebt.

«Wir wollen das Haus wiederaufbauen, aber uns fehlen die Mittel», sagt Hussein. Neben den Häusern habe das Wasser nicht nur die Reisernte zerstört, sondern auch die darauffolgende Getreidesaat verunmöglicht. Für ihn bedeutete das vor allem: Schulden machen. Bis heute herrscht in der Provinz eine jahrhundertealte Form der Leibeigenschaft, an deren Spitze einige wenige Grossgrundbesitzer stehen. Landwirt:innen wie Zahid Hussein leihen sich bei ihnen Geld, um Saatgut kaufen zu können. Gibt es eine gute Ernte, teilen sie die Erträge. Läuft es schlecht, bleibt die Verschuldung.

Noch im Dunkeln verlässt Hussein nun jeden Morgen sein Zelt, um in den einzigen kühlen Stunden des Tages den verklumpten Boden aufzuhacken und Saatgut auszubringen. Falls die nächste Reisernte erfolgreich verlaufe, könne er die Schulden zurückzahlen und mit dem Neubau seines Hauses beginnen, sagt Hussein. Aber er habe wenig Hoffnung, genau wie alle andern im Dorf. Nachdem das Wasser fast ein halbes Jahr lang auf den Feldern gestanden habe, sei der Boden noch immer vollkommen ausgelaugt.

Hinzu kommt: Es fehlt derzeit an Wasser. Pakistans Bewässerungsanlagen beruhen noch immer auf einem Kanalsystem, das während der britischen Kolonialherrschaft angelegt und seither kaum ausgebaut wurde. Die Landwirt:innen sind der Willkür lokaler Behörden ausgeliefert: Während in nördlicheren Gebieten das Wasser gestaut wird, kommt im südlichen Sindh meist viel zu wenig an, um die Felder ausreichend zu bewässern. «Mit Glück bekommen wir vielleicht die Hälfte der normalen Erträge», sagt Hussein.

Angesprochen auf die Klimakrise, zuckt Hussein mit den Schultern. Er kennt den Begriff nicht, genau wie alle anderen Dorfbewohner:innen. Ihnen ist klar, was es bedeutet, wenn die Temperaturen steigen, der Monsun länger anhält und der Regen in zerstörerischem Ausmass kommt. Aber ihnen ist nicht bewusst, dass ihnen solche Katastrophen in Zukunft immer häufiger drohen. Vor ihrem Zelt hat Husseins Familie einen kleinen Baum gepflanzt, in einigen Jahren soll er Schatten spenden.

Seit Monaten wartet die ganze Dorfgemeinschaft vergeblich auf Hilfe. Einmal seien Mitarbeiter:innen des Welternährungsprogramms ins Dorf gekommen, um Säcke mit Reis und Öl zu bringen. Die Lebensmittel hätten nur für ein paar Wochen gereicht, sagt Hussein. Er fühlt sich von seiner Regierung im Stich gelassen. «Warum hilft uns niemand?»

Flutwasser im Dorf Bakhshal Khan Magsi
Es ist noch nicht vorbei: Die letzten Reste des Flutwassers im Dorf Bakhshal Khan Magsi.

Testfall von globaler Bedeutung

Während es in der Wissenschaft weitestgehend unumstritten ist, wer für die Klimakrise verantwortlich ist – die Industrienationen mit ihrer jahrzehntelangen Nutzung fossiler Energiequellen –, bleibt die Frage in der internationalen Politik umstritten. Jedes Jahr wird auf Klimagipfeln darüber diskutiert und verhandelt, aber Schuld einzugestehen, könnte für viele Länder sehr teuer werden.

Pakistans Flutkatastrophe wird damit auch zu einem Testfall von globaler Bedeutung. Denn das Land trägt nach Uno-Angaben weniger als ein Prozent zu den globalen Treibhausgasemissionen bei, gehört gleichzeitig aber zu den am stärksten von der Klimaerhitzung betroffenen Ländern der Welt. Zusammen mit weiteren Staaten kämpfte die Regierung letztes Jahr an der Klimakonferenz in Scharm el-Scheich, wenige Monate nach der Flut, für die Einführung des «Loss and Damage Fund», aus dem künftig Geld an von Extremwetterkatastrophen betroffene Staaten fliessen soll. Der Beschluss gilt als Meilenstein, ihm gingen zähe Verhandlungen voraus. Viele Details sind aber noch ungeklärt. Und bis zur Umsetzung könnten noch Jahre vergehen.

Auf einer Geberkonferenz in Genf holte Pakistans Regierung im Januar zusammen mit der Uno Zusagen über fast zehn Milliarden US-Dollar für den Wiederaufbau ein. Davon hat das Land bislang aber noch kaum etwas erhalten. Knapp neunzig Prozent der Gelder sollen zudem in Form von Krediten fliessen, die in den nächsten drei Jahren verfügbar sein und anschliessend zurückgezahlt werden sollen.

Pakistan gilt international als politisch und wirtschaftlich unzuverlässig, seit Jahren ist es auf internationale Hilfsgelder angewiesen. Und die Regierung ist vor allem mit sich selbst beschäftigt (vgl. «Machtkampf in der Vielfachkrise» im Anschluss an diesen Text). Viele Staaten bezweifeln, dass finanzielle Unterstützung nachhaltig zum Schutz vor zukünftigen Katastrophen eingesetzt wird – und dass sie tatsächlich bei jenen ankommt, die sie so dringend benötigen.

Die Bevölkerung Pakistans ist in den letzten Jahrzehnten enorm gewachsen: um durchschnittlich rund eine Million Menschen pro Jahr. In der Folge wurden im Süden grosse Waldflächen gerodet und Flächen versiegelt, um Feuerholz und Bauland zu gewinnen. Hinzu kommt das veraltete Bewässerungssystem in der Landwirtschaft. Beides hat die Folgen der letztjährigen Flut dramatisch verschlimmert. Erst 2010 war Pakistan von einer Rekordflut betroffen – aber die lokalen Behörden kehrten danach schlicht zum Tagesgeschäft zurück, ohne Programme zur Stärkung der Widerstandsfähigkeit gegen kommende Extremwettersituationen zu schaffen.

«Es ist ein Teufelskreis, in dem jede Krise noch teurer wird», sagt dazu der pakistanische Klimaexperte Ali Sheikh. Weltweit werden heute die meisten Hilfsgelder in Form von Krediten gezahlt, und weil in den betroffenen Ländern mit jeder Krise die Schulden wachsen, steigt auch das finanzielle Risiko für die Geberländer. Um dieses zu minimieren, werden die Kredite mit immer höheren Zinsen und Auflagen versehen – und für Länder wie Pakistan praktisch unerschwinglich.

Die gleiche Dynamik drohe sich nun beim «Loss and Damage Fund» zu wiederholen, warnt Sheikh. Gerade jetzt brauche es Ansätze, um nachhaltige Strategien zu entwickeln, denn Landwirt:innen wie Zahid Hussein seien einem dauerhaften Zyklus der Verwundbarkeit ausgesetzt: Die Menschen seien zu einem hastigen Wiederaufbau gezwungen, um überhaupt wieder eine Lebensgrundlage zu haben – dabei bräuchte es Bauten, die gegen Extremwetter widerstandsfähiger sind. «Qualität muss vor Quantität und Schnelligkeit gehen», sagt Sheikh, «aber wir lenken unsere ganze Grosszügigkeit derzeit nur auf die sofortige Hilfe.» Er fordert internationale Richtlinien und neue Standards für den Wiederaufbau von Häusern und Infrastruktur in klimatisch exponierten Gebieten, ein Gleichgewicht zwischen Soforthilfe und Wiederaufbau und neue internationale Institutionen, die Menschen überall auf der Welt gleichermassen effektiv dabei unterstützen, der Klimaerhitzung zu trotzen. «Wenn nicht alle sicher sind, ist es keiner», sagt Sheikh.

Flucht in die Grossstadt

Einer, der nicht mehr auf Hilfe warten wollte, ist Hasif Ali Jasik. Er lebt jetzt in einem Vorort, am äussersten Rand von Karachi, der grössten Stadt Pakistans. Lärmig kämpfen sich an diesem Nachmittag die Motorräder durch das Wirrwarr der kleinen Gassen. Die Küstenmetropole ist der Gegenentwurf zum ländlichen Pakistan, hier reihen sich Betonbauten aneinander. Jasik lebt mit seiner neunköpfigen Familie in einem einzigen winzigen Raum. Der Putz fällt von den Wänden. In der Ecke steht ein Ventilator, doch es gibt keinen Strom.

Hasif Ali Jasik mit einer seiner Töchter in einem Vorort von Karachi.
«Keine Flut war so schlimm wie diese»: Hasif Ali Jasik mit einer seiner Töchter in einem Vorort von Karachi.

«Ich habe drei Fluten erlebt, aber keine war so schlimm wie diese», sagt Jasik. 2010, bei der letzten Überschwemmung, habe das Wasser nur einen halben Meter hoch gestanden. Diesmal habe er in den Fluten nicht mehr stehen können.

Zusammen mit seiner Familie lebte Jasik in einem kleinen Dorf im Distrikt Dadu, das direkt an einem Nebenfluss des Indus liegt. Er kultivierte Reis und Getreide auf den Feldern rund ums Dorf. Nachdem sein Haus zum dritten Mal zerstört worden war, beschloss Jasiks Familie zu gehen. «Früher schuftete ich körperlich», sagt er, «heute habe ich einen kleinen Gemüsestand mit Gurken, Tomaten und allem, was es gerade so gibt.» Damit verdiene er umgerechnet knapp einen Franken am Tag, erklärt Jasik, das sei nicht unbedingt besser als in seinem Heimatdorf. Oft fehle es in Karachis Peripherie zudem an Wasser, Strom und Gas. Auch eine Schule für seine Kinder könne er sich bisher nicht leisten. Und trotzdem: Zurück aufs Land will Jasik nicht. Auch er hat Schulden bei einem Grossgrundbesitzer.

Mindestens 50 000 Menschen suchten in Karachi nach den Fluten Schutz in Nothilfelagern. Fast alle Familien aus seinem Dorf seien hierhergekommen, erzählt Jasik, und nur knapp die Hälfte sei wieder zurückgekehrt. Wissenschaftler:innen gehen davon aus, dass die Zahl an Klimaflüchtlingen bis 2050 allein innerhalb Pakistans auf zwei Millionen Menschen anwachsen könnte. Weltweit könnten es dann laut einer Prognose der Weltbank bis zu 216 Millionen sein.

Ein Drittel der pakistanischen Bevölkerung lebt bereits in den urbanen Zentren des Landes. Hatte Karachi in den fünfziger Jahren noch knapp eine Million Einwohner:innen, ist es heute mit knapp fünfzehn Millionen eine der grössten Städte der Welt. Hasif Ali Jasik sagt, er vermisse sein Dorf. Gerne würde er wieder regelmässig die Gräber seines Vaters und seiner Geschwister besuchen.

In den pakistanischen Nachrichten habe er jedoch gesehen, dass der Regen in Zukunft noch heftiger ausfallen dürfte. Mit der Hitze könne er noch umgehen, sagt Jasik. «Aber nicht mit dem Wasser.»
 

Politischer Stillstand : Machtkampf in der Vielfachkrise

Seit letztem Jahr durchlebt Pakistan eine der grössten politischen Krisen seit den siebziger Jahren, als sich in einem blutigen Unabhängigkeitskrieg Bangladesch abspaltete. Heute liefert sich Imran Khan, ehemaliger Premierminister, einstiger Cricketstar und beliebtester Politiker des Landes (siehe WOZ Nr. 20/23), einen erbitterten Machtkampf mit Pakistans Eliten. Darunter auch mit der mächtigsten Institution, dem Militär.

Seit Anfang August sitzt Khan, der im April 2022 nach einem Misstrauensvotum abgesetzt wurde, in Haft. Ihm werden unter anderem Korruption und der Diebstahl von Staatsgeschenken vorgeworfen. Bereits im Frühjahr war er einige Tage lang in Polizeigewahrsam; seine Anhänger:innen protestierten daraufhin im ganzen Land, griffen Militäreinrichtungen an und lieferten sich Strassenschlachten mit Polizei und Armee. Seither gehen Regierung und Militär drastisch gegen Khan und seine Partei, die zentristisch-nationalistische Pakistanische Bewegung für Gerechtigkeit (PTI), vor. Hunderte, wenn nicht Tausende Anhängerinnen, Parteimitglieder und politische Weggefährten Khans wurden verhaftet.

In diesem Herbst sollte in Pakistan eigentlich gewählt werden. Nach dem Ende der letzten Legislaturperiode vor rund drei Wochen müssten die Parlamentswahlen gemäss Verfassung bis Mitte Oktober stattfinden. Nachdem Premierminister Shehbaz Sharif das Parlament aber vorzeitig auflösen liess, hat die jetzige Übergangsregierung bis Mitte November Zeit, diese abzuhalten. Weil die Wahlen jedoch auf Basis einer neuen Volkszählung stattfinden sollen, zeichnet sich eine weitere Verzögerung ab, womöglich bis ins nächste Jahr. Wird Imran Khans Verurteilung aufrechterhalten, ist er von der Wahl ausgeschlossen.

Der Geschäftsmann und konservative Politiker Sharif gehört einer jener Familiendynastien an, die Pakistan seit Jahrzehnten regieren. Khan hingegen präsentiert sich als Kämpfer gegen das «Establishment». Ausgerechnet die in Pakistan so mächtigen Generäle hatten ihm einst zur Macht verholfen, doch Khan verfolgte seine eigenen Pläne. Dass er dabei auch die Nähe zu Ländern wie Russland und China suchte, führte letztlich zu seiner Absetzung.

Die politische Blockade kommt für die Nuklearmacht Pakistan zu einem fatalen Zeitpunkt. Noch immer leidet das hochverschuldete Land unter einer anhaltenden Wirtschaftskrise. Hinzu kommt die prekäre Sicherheitslage: Terrorgruppen wie die pakistanischen Taliban versuchen derzeit, das entstandene Machtvakuum für sich zu nutzen. Fast 700 Menschen sind in Pakistan nach Angaben des International Institute for Conflict Management in diesem Jahr bereits bei Anschlägen getötet worden.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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