Wichtig zu wissen: Fall Bruder

Nr. 36 –

Ruedi Widmer über Fehler von früher und Fehler von heute

Der bayerische stellvertretende Ministerpräsident Hubert Aiwanger (Freie Wähler) hatte als Sechzehnjähriger einerseits einen strammen Mittelscheitel und einen Schnauz, andererseits ein übelstes antisemitisches Flugblatt in seinem Schulthek (mit disziplinarischen Folgen an seiner damaligen Schule), wie während des Wahlkampfs bekannt wurde. Weil deshalb die Wiederwahl seines Chefs, Ministerpräsident Markus Söder (CSU), gefährdet ist, verlangte sowohl die CSU als auch ein Teil der bayerischen Öffentlichkeit Antworten. Zentral ist, dass Aiwanger seinen Bruder Helmut zum Autor des Flugblatts erklärte. Dieser, heute ein Waffenladenbesitzer in Bayern, nimmt die Schuld für das Hetzblatt auf sich.

Brüder von Politikern müssen in Zukunft also permanent fürchten, den Kopf hinhalten zu müssen. Die Bruderschaft zu kündigen, ist leider in vielen Kantonen noch nicht erlaubt.

Gerhard Blocher (Sackmesserbesitzer) ist der Bruder des bekannten Altbundesrats Christoph Blocher (SVP). Christoph hat fairerweise aber nie Gerhard die Schuld für eigene Unzulänglichkeiten gegeben, wie dies Hubert Aiwanger tut, sondern ist selbstverantwortlich hingestanden und hat die Linken und die Ausländer:innen in die Mangel genommen.

Also ich möchte damit nicht sagen, dass Hubert Aiwanger Gerhard Blocher beschuldigt, wie man beim vorangegangenen Satz missverstehen könnte. Das wäre dann wie der Witz, bei dem Adolf Ogi Bill Clinton trifft, und dieser ihm eine Scherzfrage stellt: «Es ist der Sohn meiner Mutter, aber es ist nicht mein Bruder.» Adolf Ogi studiert … «Ich!», ruft Bill Clinton. Ogi erzählt den Witz später seiner Frau: «Es ist der Sohn meiner Mutter, aber es ist nicht mein Bruder.» Ogis Frau sagt: «Ja, du natürlich.» Adolf Ogi triumphierend: «Nein, Bill Clinton!» Noch vor wenigen Jahren wäre Hubert Aiwanger nach einem solchen Skandal politisch erledigt gewesen. Nicht so heute. Die Politik hat erstaunliche Fortschritte gemacht und ist viel stabiler als früher, damit bis ins hohe Alter nicht zurückgetreten werden muss. Es gibt in den USA Politiker, die sich nicht mal nur nicht an ein fünfzigjähriges Flugblatt erinnern können, sondern an gar nichts mehr (US-Senator Mitch McConnell), oder der amtierende Präsident … wie heisst er? … der sich mit teilweise ähnlichen Problemen an Pressekonferenzen herumschlägt … es ist nicht Bill Clinton …

Hubert Aiwanger wurde letztes Wochenende von Tausenden mit frenetischen «Hubert, Hubert»-Rufen im Bierzelt gefeiert, und er mahnte an, dass fünfzigjährige Jugendsünden heute keine Rolle mehr spielen dürften.

Diese Entwicklung mag damit zu tun haben, dass sich unsere demokratischen Parteien verändern, von Interessengemeinschaften selbstständiger Bürger:innen hin zu tribalistischen Kulten, in denen ein beinahe religiöses Aufgehen in einem Familienersatz möglich ist, gespeist von schlauen, machtorientierten Marktschreiern.

Ich selber mag mich an noch jede einzelne Jugendsünde erinnern, die aber wenigstens alle nicht antisemitisch waren. Ich entschuldige mich bei den vorbeifahrenden Autofahrer:innen auf der Umfahrungsstrasse Neftenbach, die ich um circa 1984 herum – in der Meinung, das sei lustig – mit einer selbstgebastelten Vogelscheuchenfigur erschreckte, die ich zusammen mit einem Kollegen (nicht mit meinem Bruder) hinter einem Brückenpfeiler hervorschnellen liess. Ich hatte Glück, dass dabei nichts passierte. Ich musste für diese gefährliche Dummheit nicht zum Schulleiter, aber die Eltern redeten uns ins Gewissen. Mir war schon damals klar, dass ich damit meine politische Karriere beendet hatte, ehe sie überhaupt begann, und heute auch, dass ich dafür nicht Bill Clinton die Schuld geben kann, denn damals war noch Reagan Präsident. Von der Erinnerungsfähigkeit her wäre ich aber dem Aiwanger voll überlegen.

Ruedi Widmer lebt und arbeitet in Winterthur.