Krieg in Nahost: «Meistens antwortet niemand»

Nr. 46 –

Die humanitäre Lage in Gaza ist katastrophal. Wie gehen Palästinenser:innen aus der europäischen Diaspora mit dieser Situation um?

Das arabische Wort «al-qahr» kennt keine Entsprechung im Deutschen. Es beschreibt eine Gefühlslage von tiefstem Schmerz, gepaart mit Enttäuschung und Wut. Im Arabischen gibt es zahlreiche Wörter, um verschiedene Grade von Trauer zu benennen; «al-qahr» ist der höchste.

Es ist das Wort, das immer wieder fällt, wenn Palästinenser:innen in diesen Tagen ihre Gefühlslage beschreiben. «Mein Leben lang habe ich Entmenschlichung, Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Apartheid erlebt», sagt Majed Abusalama. «Wenn dein Herz immer wieder brennt, hältst du es irgendwann nicht mehr aus. Du brauchst fünf oder sechs Herzen.»

Kein Treibstoff, kaum Medikamente

Abusalama ist im mittlerweile schwer beschädigten Flüchtlingslager al-Dschabalia, nördlich von Gaza-Stadt, aufgewachsen. Die ersten sechs Jahre seines Lebens waren von Ausgangssperren und Hausdurchsuchungen während der ersten Intifada geprägt. Jene danach von der Blockade des Gazastreifens und wiederkehrenden Kriegen. Die letzten Wochen, so Abusalama, überstiegen alles Bisherige.

Heute lebt der Menschenrechtsaktivist in Berlin und Zürich. Aus der Ferne musste er miterleben, wie das Haus, in dem er aufgewachsen ist, von israelischen Bomben zerstört wurde, wie dreissig seiner Familienmitglieder und Freund:innen durch Luftangriffe getötet wurden. Sein Halbbruder hätte vielleicht gerettet werden können, wäre er rechtzeitig operiert worden. Doch das «Indonesische Spital» war so überlastet, dass sich die Schrapnellwunde im Rücken entzündete, bevor er behandelt werden konnte.

Über ein Monat ist vergangen, seit die islamistische Hamas am 7. Oktober in Israel eindrang und gemäss israelischen Quellen 1200 Menschen brutal ermordet und rund 240 entführt hat. Am selben Tag noch hat die israelische Armee begonnen, den Gazastreifen fast ununterbrochen zu bombardieren. Vor rund zwei Wochen drang sie mit Panzern ein, schnitt den Norden des Streifens vom Süden ab und ist inzwischen ins Zentrum von Gaza-Stadt vorgedrungen.

Allein durch die Luftangriffe zählen die lokalen Behörden in Gaza bisher rund 11 000 Tote. Fast die Hälfte der Wohnhäuser im Gazastreifen ist zerstört oder beschädigt. Eine umfassende Blockade, die die israelische Regierung verhängt hat, verhindert, dass genügend Lebensmittel, Medikamente oder Treibstoff für die 2,3 Millionen Bewohner:innen nach Gaza gelangen; rund 1100 Lastwagen sind seit dem 21. Oktober über den Grenzübergang Rafah gelangt, vor der Militäroffensive überquerten täglich 500 die Grenze.

Die Folge ist eine humanitäre Katastrophe. Im Norden Gazas befänden sich noch rund eine halbe Million Menschen, darunter 25 000 Verletzte, sagt Bahia Amra von der Palestinian Medical Relief Society (PMRS), einer Graswurzelorganisation, die das prekäre Gesundheitssystem Palästinas unterstützt. «Ihnen droht ein Desaster», sagt Amra. Die Hälfte der Spitäler ist laut dem Uno-Nothilfebüro für humanitäre Hilfe (OCHA) mangels Treibstoff bereits ausser Betrieb – im Norden ist nur noch eines funktionsfähig. Es gebe kaum noch Medikamente, so Amra, Ärzte müssten Wunden inzwischen meist ohne Betäubung nähen.

Patient im Nasser-Spital in Chan Yunis im Gazastreifen
Patient im Nasser-Spital in Chan Yunis im Gazastreifen am Dienstag.  Foto: Ahmad Hasaballah, Getty

Dabei hätte die PMRS diese Medikamente an Lager. Doch die israelische Armee, die das Gebiet inzwischen besetzt hat, verweigere ihnen den Zugriff. «Und uns fehlt das Benzin, um mit dem Auto dahin zu gelangen», sagt Bahia Amra, die sich in Ramallah im Westjordanland aufhält. Manche Ärzte hätten Velos gekauft, um weiter zu Patient:innen zu gelangen, oder sie transportierten diese auf dem Rücken, weil die bombardierten Strassen nicht mehr befahrbar seien.

«Es ist wie ein Friedhof»

Das Al-Schifa-Spital in Gaza-Stadt, das grösste des Küstenstreifens, ist inzwischen von der israelischen Armee gestürmt worden. Wiederholt hatte diese verlauten lassen, sie vermute darunter die Kommandozentrale der Hamas. Im Spital ist die Lage verheerend: Hunderte von Patient:innen sind zu versorgen, und rund 1500 Vertriebene haben hier Zuflucht gesucht. Schon vor der Erstürmung seien 32 Patient:innen gestorben, darunter 3 frühgeborene Säuglinge – weil es seit Tagen keinen Strom mehr gebe, um die Inkubatoren zu betreiben, schreibt das OCHA.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO meldet 137 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen bis zum 12. November. Und Human Rights Watch (HRW) schrieb am Dienstag, dass keiner der von der israelischen Armee präsentierten Belege ausreiche, um Spitälern ihren Schutzstatus nach dem humanitären Völkerrecht zu entziehen. Die «rechtswidrigen Angriffe» sollten «als Kriegsverbrechen untersucht werden». Zahlreiche Uno-Organisationen wiederum fordern eine sofortige Waffenruhe.

Von den 150 Mitarbeitenden der PMRS seien inzwischen die meisten in den Süden des Gazastreifens geflohen, sagt Bahia Amra. Vor kurzem habe ihr einer von ihnen berichtet, wie er mit vierzig anderen Personen in einem Zelt lebe. Ausser Dosensardinen hätten sie nichts mehr zu essen. Zu anderen sei der Kontakt abgebrochen, so Amra. Eine Erfahrung, die in den letzten Tagen auch die WOZ gemacht hat: Von den Nachrichten an Menschen in Gaza sind viele gar nicht erst angekommen.

Majed Abusalama hat vor drei Tagen zum letzten Mal mit seiner Familie gesprochen, für zwei Minuten. «Es geht nur darum, mich zu vergewissern, dass sie noch leben», sagt er. Immer wieder in den letzten Wochen war die Internetverbindung für Stunden oder Tage unterbrochen. «Es ist wie ein Friedhof», sagt Abusalama. «Manchmal winkt jemand aus dem Grab, aber die meiste Zeit antwortet niemand.»

«Ich habe keine Referenz für das, was im Moment passiert», sagt die Frauenrechtlerin Seba Salem, die in Bonn lebt. Seit Beginn des Krieges mache sie kaum etwas anderes, als morgens aufzustehen und sich an den Computer zu setzen – bis sie am Abend wieder ins Bett gehe. Dieser Krieg, sagt Salem, sei grösser als alle vergangenen. Früher hätten die Palästinenser:innen einzelne Menschen verloren – heute würden ganze Familien auf einmal getötet.

Über den Familienchat vergewissere sie sich, dass es den Angehörigen in Gaza noch gut gehe. Sie seien aus ihrem Dorf im Süden geflohen und hätten es geschafft, ein kleines Haus am Strand zu mieten. «Lange wollte dort niemand leben, weil die Leute Angst hatten, dass die Bodeninvasion vom Meer her kommt.» Dort harrten sie nun aus, ohne Strom und ohne Kühlschrank, ohne fliessendes Wasser.

Das hervorgerufene Trauma

Viele Palästinenser:innen, die in Europa leben, fühlen sich hier zunehmend isoliert. «Der politische und mediale Diskurs in Europa macht die systematische Gewalterfahrung von Palästinenser:innen unsichtbar», sagt Sarah El Bulbeisi. Die Kulturwissenschaftlerin, Tochter eines Palästinensers und einer Schweizerin, hat ihre Dissertation zur palästinensischen Diaspora in der Schweiz und Deutschland geschrieben. Die systematische Vertreibung, Enteignung und Entrechtung, die Palästinenser:innen seit Jahrzehnten erfahren, verschwinden in einem Konfliktnarrativ, das Symmetrie suggeriere und Gewalt gegen Palästinenser:innen rechtfertige, so El Bulbeisi. Dies sei mit dem Ansteigen der Gewalt vor Ort nur noch stärker geworden.

Ähnlich empfindet es Abusalama. «Wir sind nicht einfach nur das Ziel israelischer Bomben oder ‹Kollateralschäden›, wie westliche Medien uns gerne darstellen», sagt Abusalama. «Stattdessen sollten sie Palästinenser:innen als Menschen darstellen.»

Von den 2,3 Millionen Bewohner:innen im Gazastreifen seien seit dem 7. Oktober 1,6 Millionen intern vertrieben worden, schreibt das OCHA. Über einen «humanitären Korridor» gelangen jeden Tag Tausende zu Fuss oder auf Eselskarren vom Norden in den Süden. Ein Bild, das bei den Palästinenser:innen ihr tiefstes Trauma hervorruft: jenes der Nakba, der Massenvertreibung in der Folge der Staatsgründung Israels 1948. Die Angst ist gross, dass auch diese Vertreibung dauerhaft sein könnte.

«Al-qahr»: Dieses Wort, sagt Majed Abusalama, habe den Palästinenser:innen lange geholfen, um dem Schmerz, der über Generationen bis heute weitergetragen wird, in Worte zu fassen. «Doch was wir jetzt erleben, übersteigt selbst ‹al-qahr›».