Linke Regierungsbildung: Unterwegs ins plurinationale Spanien

Nr. 46 –

Um an der Macht zu bleiben, verabschieden sich Spaniens Sozialdemokrat:innen vom Zentralismus. Die katalanischen und baskischen Separatist:innen freuts, die Rechte tobt.

Selten war eine Regierungsbildung in Spanien so umstritten. Grund dafür ist eine angekündigte Amnestie für katalanische Unabhängigkeitsaktivist:innen. Seit Tagen randalieren Rechtsextreme vor den Büros der regierenden Sozialdemokratie (PSOE), am Wochenende gingen 100 000 Menschen auf die Strasse, und die rechte Tageszeitung «ABC» titelte: «Sánchez verabschiedet sich von der Transición» – also vom Staatspakt, der 1978 auf die Franco-Diktatur folgte. Besonders brisant sind die Statements aus dem Staatsapparat. Alle Polizeigewerkschaften haben sich gegen Ministerpräsident Pedro Sánchez ausgesprochen, und die rechte Mehrheit im Generalrat der rechtsprechenden Gewalt (CGPJ), dem obersten Justizgremium, erklärte die Amnestie kurzerhand für verfassungswidrig – obwohl der Text des Gesetzesvorhabens noch gar nicht bekannt ist.

Ganz offenkundig geht es der Rechten weder um Demokratie noch um Rechtsstaatlichkeit. Im erwähnten Justizgremium verweigert die rechte Mehrheit der insgesamt zwanzig Jurist:innen seit sechs Jahren die turnusgemässe Ablösung, weil progressive Jurist:innen aufgrund des Vorschlagsrechts des Parlaments dann die Mehrheit stellen würden. Und bei den Demonstrationen der Opposition zünden Rechte – von der Polizei unbehelligt – Container an, um eine schärfere Strafverfolgung in Katalonien zu fordern.

Puigdemont nutzt die Chance

Dass es zu diesem bizarren Spektakel kommen konnte, ist eine Folge des Wahlergebnisses vom 23. Juli. Bei den Parlamentswahlen gewann der konservative PP zwar drei Millionen Stimmen hinzu, vor allem auf Kosten anderer Rechtsparteien, fand jedoch ausser der rechtsextremen Vox keine Verbündeten. Auf der anderen Seite hatte auch Sozialdemokrat Pedro Sánchez seine Schwierigkeiten, eine Mehrheit zu bilden. Bereits in der vergangenen Legislaturperiode hatte sich seine Koalitionsregierung aus PSOE und dem Linksbündnis Sumar auf diverse Unabhängigkeitsparteien stützen müssen. Jetzt wurde ausgerechnet die Junts per Catalunya zum Zünglein an der Waage, die Partei des abgesetzten katalanischen Ministerpräsidenten Carles Puigdemont.

Puigdemont hatte als Chef der katalanischen Autonomieregierung 2017 ein – von Madrid als illegal deklariertes – Unabhängigkeitsreferendum organisiert und musste danach vor einer drohenden Verhaftung ins belgische Exil fliehen. Während sich die katalanische Konkurrenzpartei Esquerra Republicana in den letzten vier Jahren mit Versprechen des PSOE zufriedengab, zeigte sich Puigdemont nun in den Verhandlungen kompromisslos: Als Voraussetzung für die Wiederwahl von Pedro Sánchez musste der PSOE ein Amnestiegesetz auf den Weg bringen, das jenen bis zu 4000 Katalan:innen zugutekommt, gegen die wegen ihrer Beteiligung an Protesten nach wie vor Untersuchungen laufen.

Darüber hinaus hat sich der PSOE – was in der internationalen Berichterstattung oft unterschlagen wird – zu bilateralen, international begleiteten Verhandlungen über den katalanisch-spanischen Konflikt verpflichtet. Bisher hatte sich Madrid immer gegen internationale Vermittler:innen verwahrt, wie sie von der Autonomieregierung bereits 2017 ins Gespräch gebracht worden waren.

Nun ist die weitere Entwicklung in Spanien offen wie lange nicht mehr. Das Abkommen zwischen der liberalen katalanischen Junts und dem PSOE ist kein Koalitionsvertrag. «Wir werden von Vereinbarung zu Vereinbarung arbeiten. Ohne deren – irreversible – Umsetzung wird die Legislaturperiode kurz ausfallen», erläuterte Puigdemont.

Treue Verbündete

Die Mitte-Links-Koalition wird ihre Mehrheiten in den nächsten vier Jahren also bei jedem Gesetzesvorhaben neu aushandeln müssen. Der PSOE mag darauf spekulieren, dass sich die katalanischen und baskischen Stimmen mit finanziellen Zugeständnissen einkaufen lassen. Doch für die Unabhängigkeitsparteien geht es vor allem um die Anerkennung des Selbstbestimmungsrechts. Falls sich in dieser Frage nichts tut, kann die PSOE-Regierung jederzeit ihre Mehrheit verlieren.

Das ist der eigentliche Grund, warum das spanische Establishment in Justiz, Sicherheitsapparaten und Medienkonzernen tobt. Seit dem Ende der Franco-Diktatur war der PSOE ein treuer Verbündeter des zentralspanischen Nationalismus. Der sozialdemokratisch mitgetragene Staatspakt schützte die Täter der Franco-Diktatur vor Strafverfolgung, und unter Ministerpräsident Felipe González (1982–96) baute die PSOE-Regierung zur Verteidigung der Einheit Spaniens sogar rechtsextreme Todesschwadronen auf, die im französischen Baskenland 29 Personen ermordeten.

Nun wird zum ersten Mal die Tür zu einer plurinationalen Verfassung für Spanien geöffnet. Die Anerkennung des Katalanischen, des Baskischen und des Galicischen im Zentralparlament vor einigen Monaten war nur eine symbolische Geste. Die rote Linie für den spanischen Nationalismus wäre das Eingeständnis, dass mehrere «Nationen» im Staat koexistieren. Nach Uno-Charta besitzen diese ein Selbstbestimmungsrecht. Doch auch die Verwandlung Spaniens in eine plurinationale Republik, wie sie von der Linken vorgeschlagen wird, träfe auf erbitterten Widerstand der Rechten. Die Anerkennung der Plurinationalität, die Aufarbeitung der Franco-Diktatur und eine progressive Sozialpolitik sind aber nur gemeinsam zu haben.