«Davos 1917»: Die Schweiz als nobles Kurhaus im Weltkrieg

Nr. 50 –

Hochwertig produziert, mit schönen Schauwerten und eindrücklichen Frauenfiguren. Aber man wünscht sich, die neue Schweizer Serie «Davos 1917» hätte die Rolle des Landes im Ersten Weltkrieg komplexer abgebildet.

Still aus der TV-Serie «Davos 1917»: Gräfin Ilse von Hausner (Jeanette Hain) und die Rotkreuzschwester Johanna Gabathuler (Dominique Devenport)
Gräfin Ilse von Hausner (Jeanette Hain, rechts) führt die Rotkreuzschwester Johanna Gabathuler (Dominique Devenport) in die Geheimnisse des Spionagehandwerks ein. Still: Pascal Mora, SRF

Auf einer «humoristischen Karte von Europa im Jahre 1914» ist die Schweiz als putziges kleines Chalet eingezeichnet und beschrieben mit dem maliziösen Satz: «Die Schweiz sieht dem Weltbrand in aller Behaglichkeit zu und bildet bereits ein Asyl für obdachlose russische Grossfürsten.» 1917, als der Erste Weltkrieg bereits seit drei Jahren wütete, füllte die Lausanner Satirezeitschrift «L’Arbalète» (Armbrust) eine ganze Ausgabe mit dem Thema Munitionsfabriken. Illustriert ist das Heft unter anderem mit einer Zeichnung, die den Schweizer Handel mit Panzergranaten zeigt, direkt daneben beugt sich eine Rotkreuzschwester über einen blutenden Kriegsverwundeten. «Einerseits tötet man sie … andererseits pflegt man sie», ätzt die Bildlegende. Über allem spannt sich die Schweizer Fahne als blutroter Himmel.

Schneeweisse Schweiz

Der neue Sechsteiler «Davos 1917», den SRF und ARD gemeinsam für achtzehn Millionen Franken produziert haben, fügt sich gut in dieses satirisch vorgezeichnete, von Historiker:innen später weitgehend bestätigte Urteil über die «neutrale» Schweiz im Ersten Weltkrieg. Das Emblem von «Davos 1917»: eine gleissend weisse, gestärkte Krankenschwesterschürze. Der klug gewählte Hauptschauplatz: ein Davoser Tuberkulosesanatorium, wo sich echte und falsche Lungenkranke und Kriegsversehrte aus der halben Welt weitgehend unbehelligt gegenseitig bespitzeln, bedrängen, erpressen, notfalls auch umbringen. Gepflegt, hofiert und ausgenommen werden sie von Schweizer:innen.

Es regiert hier die wohldosiert morbide Ambiance von Thomas Manns Vorkriegsroman «Zauberberg» – mit Spionageantrieb gegen die Langeweile. Durch die vornehm verspiegelte Grandhotelatmosphäre schleichen (Doppel-)Agent:innen, pfeifen Kugeln. Im Hinterzimmer wird mit Präzisionszündern für Chemiewaffen und schwere Artillerie gehandelt. Die Zünder liegen versteckt unter rotem Samt, auf dem harmlose Taschenuhren präsentiert werden: Uhrwerke und Waffenmechanik stammen aus derselben Präzisionsfabrik. Der Leitspruch des Kurhauses, «Niemand stirbt hier in Davos», entblättert sich bald in seinem Zynismus. Dazu gibts tief verschneite Winterlandschaften, die aussehen wie vom Tourismusbüro Davos in Auftrag gegeben, und eine an international erfolgreichen historischen Serien wie «Babylon Berlin» geschulte, zuweilen ins Manierierte kippende Inszenierung mit unheilvollem Soundtrack.

Der zweite Coup neben dem fiebrigen Kurhaus ist die Hauptfigur von «Davos 1917»: die Rotkreuzschwester Johanna Gabathuler, von der jungen Luzernerin Dominique Devenport sehr erfrischend verkörpert. Ihre Johanna bildet das Scharnier zwischen den schlammigen Schützengräben hinter Verdun, wo sie gerade noch im Einsatz stand, und der «verschonten» schneeweissen Schweiz, wo ihr Vater (Hanspeter Müller-Drossaart) das erwähnte Sanatorium führt. Sie kommt heim, hochschwanger, ohne Mann. Ihr Vater lässt ihr den Säugling direkt nach der heimlichen Geburt brutal wegnehmen: «Du hesch khai Khind, isch das klar?» Nichts soll der lange geplanten arrangierten Heirat mit dem Grossrat Tanner (Sven Schenker) im Weg stehen. Das noble Kurhaus steckt in finanziellen Schwierigkeiten, der Krieg schadet zumindest dem touristischen Geschäft, der reiche Kaufmann Tanner könnte das dringend benötigte Geld einschiessen.

Kriegseinsatz als Befreiung

Die Schweiz war bekanntlich die längste Zeit alles andere als fortschrittlich, was Frauenrechte angeht. An dieser modernen, wunderbar widerspenstigen Johanna Gabathuler lässt sich gut ablesen, was es für ein Frauenleben kurz nach der Jahrhundertwende bedeutete, dass sie als Ledige für alle wesentlichen Entscheidungen von der Zustimmung ihres Vaters abhängig war. Nach einer Heirat wiederum würde sie ohne Erlaubnis ihres Ehemanns weder ein Studium beginnen, einen Beruf ausüben noch ein Bankkonto eröffnen können. Die sogenannten Rotkreuzschwestern waren also nicht einfach «Friedensengel in Weiss», die verwundete Soldaten pflegten und weiblichen Trost spendeten. Der Einsatz im Krieg bedeutete umgekehrt für die jungen Frauen die rare Möglichkeit, sich wenigstens geografisch von ihren Vätern oder Ehemännern zu emanzipieren, etwas von der Welt zu sehen, unter Gleichaltrigen zu sein anstatt im Gefängnis von Familie und Ehe.

Das Drehbuchteam um Adrian Illien und das Regietrio Jan-Eric Mack, Anca Miruna Lăzărescu und Christian Theede haben sich hier an der jüngeren historischen Quellenforschung orientiert, die nicht einfach patriarchale Projektionen, sondern die Motivation der jungen Frauen selbst in den Blick nimmt. Der Satz «Wir wollten doch zu gern mal etwas Ordentliches sehen und erleben» aus dem Brief einer dieser «Frontschwestern» könnte gut auch von Johanna Gabathuler stammen. Auf ihrem Nachttisch liegt Bertha von Suttners frühes pazifistisches Manifest «Die Waffen nieder!», und anstatt ihrem biederen Verlobten schliesst sie sich lieber abenteuerlustig dem deutschen Spionagetrupp im Kurhaus an.

Rechnen mit der Krise

Was fehlt? Gross gesagt: das politische Imaginäre der Schweiz. Oder etwas profaner: manch weiterer relevanter Begleitumstand. Ausgeblendet bleibt etwa Ulrich Wille, der aggressiv deutschfreundliche General der Schweizer Armee im Ersten Weltkrieg. Niklaus Meienberg hat ihm in seiner satirischen Dokufiktion «Die Welt als Wille und Wahn», die ebenfalls just im Jahr 1917 einsetzt, ein beissendes Antidenkmal geschaffen. Das sich in diesen Jahren formierende «Repertoire für die Geistige Landesverteidigung», wie der Historiker Jakob Tanner 2014 in einem Essay zur «Schweiz im Grossen Krieg» schreibt, hätte vertieft werden können: der Kampf gegen die «Überfremdung», das überhebliche Gefühl des Auserwähltseins, aber auch die schrittweise Institutionalisierung des Bankgeheimnisses, das geschäftige Rechnen «mit den Krisen der anderen».

Auch die Nöte der einfachen Leute kommen nur am Rand vor – oder überhaupt die kleinen Leute: die Lebensmittelknappheit, die Demonstrationen und lokalen Streiks, die 1918 im von der Armee niedergeschlagenen grossen Landesstreik gipfelten. Vom Klassenkampf bleibt in «Davos 1917» ein traumatisierter deutscher Soldat, der die Neujahrsparty der russischen Adligen mit einer kommunistischen Flugblattaktion sprengt. Und aus Zürich kommt irgendwann noch Lenin angefahren. Er wird im geheimdienstlichen Räderwerk des Kurhauses von den deutschen Agent:innen umworben, weil sie sich von seiner Revolution eine Schwächung der Ostfront erhoffen.

Da wäre mehr herauszuholen gewesen. Wie auch aus den Biografien einzelner Protagonist:innen, etwa der Gräfin Ilse von Hausner (Jeanette Hain: stark), einer weiteren faszinierenden Frauenfigur von «Davos 1917». Virtuos führt sie Johanna in die Geheimnisse des Spionagehandwerks ein. Auch als Zuschauerin lässt man sich gern von ihr um den Finger wickeln. Doch schon die paar Anekdoten, die Wikipedia über Elsbeth Schragmüller als reales Vorbild dieser mysteriösen Gräfin zu erzählen weiss, zeigen: In echt war sie noch viel extravaganter. Und das gilt ein Stück weit für die ganze hochkarätig produzierte Serie: Am Spannungsbogen, an den Dialogen und den Schauwerten gibt es wenig auszusetzen. Doch überblenden sie eine insgesamt etwas magere historische Substanz und Sprengkraft.

«Davos 1917» läuft am 17., 18. und 20. Dezember  2023 in je drei Doppelfolgen auf SRF 1 (ab 20.05 Uhr). Play Suisse hat alle Folgen schon ab dem 15. Dezember 2023.

Einblick in die Rolle der Schweiz im Ersten Weltkrieg gibt der Sammelband «14/18. Die Schweiz und der Grosse Krieg» von Roman Rossfeld, Thomas Buomberger und Patrick Kury (Verlag Hier und Jetzt 2014).