Antonio Negri (1933–2023): Der fröhliche Kommunist

Nr. 51 –

Jahrelang zu Unrecht eingesperrt, blieb Antonio Negri zeitlebens «mehr Aktivist als Philosoph», wie er selber sagte. Nun ist der grosse italienische Bewegungstheoretiker gestorben.

Portraitfoto von Antonio Negri, 1997
Mit Staatstheorie auf die Strasse: Antonio Negri, hier 1997, führte ein bewegtes Leben. Foto: Francesco Zizola, Keystone

Der ungewöhnlichste Nachruf kam von seiner Kollegin und politischen Weggefährtin Alisa Del Re. In einem Brief an den am 16. Dezember im Alter von neunzig Jahren Verstorbenen wandte sie sich direkt an den «verrückten Freund, der die Welt verändern wollte» und dabei vieles richtig gemacht habe. Hasserfüllte Reaktionen kamen von rechts: Kulturminister Gennaro Sangiuliano wiederholte den seit Jahrzehnten endlos wiederholten Vorwurf, Antonio Negri sei ein «böser Lehrer» (cattivo maestro) gewesen und einer der Hauptverantwortlichen für linke Gewalt in den siebziger Jahren, darunter die Entführung und Ermordung Aldo Moros durch die Roten Brigaden.

Wegen dieser absurden Anklage verbrachte Antonio («Toni») Negri vierzehn Jahre im Exil und elfeinhalb Jahre in italienischen Gefängnissen. Vorausgegangen war eine Razzia am 7. April 1979 in Padua, wobei mehr als hundert Linke festgenommen wurden – ein politisch motivierter Racheakt gegen die radikalen Linken. Obwohl der Hauptpunkt der Anklage später in sich zusammenbrach, wurden viele Militante verurteilt, einige zu noch höheren Strafen als Negri, der prominenteste Beschuldigte. Nach einigen Jahren im Gefängnis erlangte er 1983 als gewählter Abgeordneter für die Radikale Partei Immunität. Bevor diese per Parlamentsbeschluss aufgehoben wurde, konnte er sich nach Frankreich absetzen. 1997 kehrte er nach Italien zurück, wurde verhaftet und musste seine Reststrafe absitzen, die letzten Jahre im offenen Vollzug. 2003 wurde er entlassen, das Berufsverbot als Hochschullehrer blieb.

Die Tragödie der Linken

Schon mit 33 Jahren war Negri Professor für Staatstheorie in Padua geworden. Neben dem Schreiben, Forschen und Lehren blieb er immer auch dem politischen Aktivismus treu: Fabrikarbeit, Unterstützung streikender Arbeiter:innen, Strassenmilitanz. Seine politischen Aktivitäten hatte er einst in der katholischen Jugendbewegung begonnen. Über die Sozialistische Partei, der er von 1956 bis 1964 angehörte, bewegte er sich weiter nach links. 1969 war er Mitgründer des Potere Operaio, nach dessen Auflösung 1973 prägte er die Autonomia Operaia. Publizistisch betätigte er sich in den operaistischen Zeitschriften «Quaderni Rossi» und «Classe Operaia».

Er sei «mehr Aktivist als Philosoph», bekannte er in einem Interview, das «il manifesto» zu seinem 90. Geburtstag im August 2023 veröffentlichte. Negri blickte darin nicht nur auf sein bewegtes Leben zurück, sondern reflektierte auch Gründe für den Niedergang der Linken und der Arbeiter:innenbewegung seit den siebziger Jahren. Die internationale Linke habe die neoliberale Strategie des globalisierten Kapitalismus nicht verstanden und darauf keine Antwort gewusst – «eine Tragödie». Zu lange hätten Marxist:innen den fordistischen Industriearbeiter mythisiert und andere progressive Akteur:innen ignoriert, darunter feministische, migrantische, antirassistische und ökologische Bewegungen.

Liebe, Freude, Klassenkampf

Damit propagierte Negri nicht etwa den Abschied vom Klassenkampf, und auch dem Kommunismus blieb er treu – Kommunismus, verstanden als «eine kollektive, fröhliche, ethische und politische Leidenschaft, welche die Dreifaltigkeit aus Eigentum, Grenzen und Kapital bekämpft». Ein Antrieb in diesem Kampf sei die Liebe – zum Mitmenschen und allem Lebenden, so wie Franz von Assisi das gepredigt hatte. Den mittelalterlichen Mönch zitiere er, «damit Wörter wie ‹Liebe› und ‹Freude› in das politische Vokabular eingehen».

Mit diesem Satz endet das Interview zum 90. Geburtstag – ein emotionaler, aber gewiss nicht altersmilder Appell an die Nachgeborenen. Ungefähr achtzig Bücher hat Negri hinterlassen, darunter den gemeinsam mit dem US-Literaturwissenschaftler Michael Hardt verfassten Weltbestseller «Empire» von 2001, dem Jahr der Proteste gegen den G8-Gipfel in Genua. Seit 2019 gibt es auch die neun Vorlesungen auf Deutsch, die Negri ab Ende 1977 auf Einladung von Louis Althusser in Paris hielt und die 1979 erstmals als Buch erschienen. Der damalige Titel «Marx oltre Marx» (etwa: Mit Marx über Marx hinaus) wurde vom deutschen Verlag leicht verändert in «Über das Kapital hinaus» – eine anregende Lektüre für Linke, die theoretisches Interesse mit politischem Aktivismus verbinden.

Als Thema für die Vorlesungsreihe hatte Althusser die «Grundrisse» von Karl Marx vorgeschlagen, ein umfangreiches Fragment zur Kritik der politischen Ökonomie. In seinem Vorwort zu «Über das Kapital hinaus» erinnert Negri an Debatten mit seinen Genoss:innen in den sechziger Jahren. Schon damals hätten sie festgestellt, «dass in den ‹Grundrissen› Dinge und Akzentuierungen unverbrämt standen, die im ‹Kapital› manchmal implizit oder oft versteckt waren». Negri fügt dem weitere «Akzentuierungen» hinzu. Seine vierte Vorlesung zum Thema «Mehrwert und Ausbeutung» endet mit den Sätzen: «Der Kommunismus ist die Vernichtung der Ausbeutung und die Befreiung der lebendigen Arbeit. Der Nicht-Arbeit. Schluss, aus. Ganz einfach.»

Schön wärs. Ganz einfach ist auch die Lektüre von Negris Schriften nicht. Anders aber als die Philosophen in Marx’ berühmter elfter These über Feuerbach hat Toni Negri sich nicht damit begnügt, die Welt zu «interpretieren». Er hat vieles versucht, um sie zu verändern.