Durch den Monat mit Aarusza Ramachandran (Teil 2): Wie wird das Kastensystem in der Schweiz gelebt?

Nr. 2 –

Wie Aarusza Ramachandran das Zusammenspiel ihrer Schweizer und ihrer tamilischen Identität erlebt. Und warum sie in der positiven Stereotypisierung von Tamil:innen in der Schweiz auch ein Problem sieht.

Portraitfoto von Aarusza Ramachandran
«Ich habe schon gehört, dass jemandem geraten wurde, eine Freundschaft mit einer Person aus einer tieferen Kaste zu beenden. Selbst habe ich das aber nie erlebt»: Aarusza Ramachandran.

WOZ: Aarusza Ramachandran, Sie sind in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Wie leben Sie hier die tamilische Kultur?

Aarusza Ramachandran: Für mich fängt es bei der Sprache an. Zu Hause haben mir meine Eltern die tamilische Sprache und ihre Bedeutung mitgegeben. Sie unterrichteten beide an tamilischen Schulen, die ich selbst besuchte. In diesen Schulen wird der zweiten und dritten Generation die tamilische Sprache und Kultur weitergegeben. So kann ich heute als interkulturelle Dolmetscherin beim Hilfswerk Heks arbeiten. Auch habe ich lange Bharatanatyam getanzt, einen klassischen indischen Tanz. Das würde ich gerne wieder aufnehmen.

Wie erleben Sie die Arbeit als Dolmetscherin?

Die Arbeit hilft mir, meinen tamilischen Wortschatz zu erhalten. So komme ich auch mit anderen Tamil:innen und ihren Problemen in Kontakt, was sonst vermutlich weniger passieren würde.

Es scheint Ihnen sehr wichtig zu sein, die tamilische Kultur zu leben …

Ja, aber ich muss sagen, dass ich nicht alles weitertragen möchte. Gewisse Elemente der Kultur reflektiere ich auch kritisch. Ich lebe jene Traditionen aus, mit denen ich mich identifizieren kann. Mit dem Kastensystem zum Beispiel, das auch hier in der Diaspora verankert ist, kann ich mich nicht identifizieren.

Können Sie dieses System kurz beschreiben?

Grundsätzlich ist es so, dass man eine Person anhand einer Berufsherkunft einteilt. So gibt es etwa die Hindupriester, die die höchste Kaste bilden. Dann auch die Kasten der Fischer, Bauern, Handwerker und so weiter. Man wird in die Kaste hineingeboren. Meine Mutter hat mir erzählt, dass in ihrer Kindheit in ihrem Dorf in Sri Lanka eine Haushaltshilfe beispielsweise die Wäsche gemacht hat. Da diese aus einer niederen Kaste stammte, durfte sie nicht aus dem gleichen Wasserglas trinken wie die Familie. Diese Art von Trennung im Alltag wird von den Tamil:innen in der Schweiz weniger praktiziert, denke ich.

Wie wird hier das Kastensystem gelebt?

Meist kommt es beim Heiraten zur Geltung. Ich habe auch schon gehört, dass jemandem angeraten wurde, eine Freundschaft mit einer Person zu beenden, die aus einer tieferen Kaste stammt, weil das zu Problemen führen könne. Selbst habe ich das aber zum Glück nicht erlebt.

Wie schwierig ist es denn, Traditionen wie das Kastensystem abzulegen?

Ich glaube, für uns als Secondas ist das einfacher. Wir sind früh mit der westlichen Kultur in Kontakt gekommen und können so die tamilische Kultur stärker reflektieren. Ich denke, am wichtigsten ist es, solche Themen innerhalb der Diaspora nicht zu tabuisieren. Man muss das Problematische reflektieren und über den Umgang mit der Tradition diskutieren. Bis jetzt ist das leider ein Tabu, über das man schweigt. Das habe ich in meiner Familie auch so erlebt.

Wie gehen Sie als Seconda mit dem Zusammenspiel Ihrer Schweizer und Ihrer tamilischen Identität um?

In der Schweiz fühle ich mich nicht hundertprozentig als Schweizerin, und wenn ich nach Sri Lanka gehe, merke ich, dass ich anders bin als meine Verwandten. Irgendwie ist mein Herz sowohl hier in der Schweiz als auch bei der tamilischen Kultur. Ich denke mehrheitlich auf Schweizerdeutsch, aber dann gibt es gewisse tamilische Sprichwörter, die ich nicht übersetzen kann. Auf Deutsch geht die Bedeutung vollkommen verloren.

Die Tamil:innen waren eine der ersten grösseren Gruppen von People of Color in der Schweiz. Vor allem zu Beginn hatten sie viel mit Rassismus und Diskriminierung zu kämpfen. Was erzählen Ihre Eltern über diese Jahre?

Von der Anfangszeit weiss ich nicht viel. Aber manchmal erzählen meine Eltern beiläufig, dass sie damals, wenn sie in der Stadt unterwegs waren, mit Steinen beworfen wurden. Sie erzählen mir nicht oft von diesen negativen Erlebnissen. Eher drücken sie ihre Dankbarkeit für die Arbeitsmöglichkeiten aus, die sie hier erhalten haben, und für die Unterstützung, die sie erfahren haben. Ich denke, sie verdrängen die schwierigen Erinnerungen.

Das Image der Tamil:innen hat einen Wandel durchlebt. 2014 schrieb der «Tages-Anzeiger»: «Tamilen gelten als Vorzeigemigranten, ehrgeizig und fleissig.» Was macht diese positive Stereotypisierung mit der Gemeinschaft?

Gesellschaftliche Anerkennung und gegen aussen ein perfektes Bild abzugeben, ist in der tamilischen Diaspora wichtig. Persönlich finde ich diese positive Stereotypisierung aber problematisch. Dieser Fleiss und der Wille, perfekt zu sein, wurden von der Schweizer Gesellschaft oft auch ausgenutzt. So haben viele Tamil:innen die schlechte Behandlung durch Arbeitgeber ohne Widerstand hingenommen. Solange man hier in der Schweiz war, wollte man durch Fleiss seine Dankbarkeit ausdrücken und alles dafür tun, nicht nach Sri Lanka zurückgeschickt zu werden und somit noch einmal alles zu verlieren. Das alles habe ich auch bei anderen Migrant:innengruppen beobachtet.

Aarusza Ramachandran (28) hat in Zürich und Bern Erziehungswissenschaften und Psychologie studiert. Nächste Woche erzählt sie, wie sie während ihrer Studienzeit in Zürich den ersten tamilischen Studierendenverein gründete.