Literatur: Und plötzlich ist Sahra Wagenknecht weg

Nr. 3 –

Emma Braslavskys Heimatroman «Erdling» erzählt von einem erstaunlichen Entführungsfall – und wühlt dabei in unheimlichen Überresten deutscher Geistesgeschichte herum.

Wofür steht Sahra Wagenknecht? Ganz gewiss für das Talent, das öffentliche Interesse auf die eigene Person zu lenken: Als die frühere deutsche Linkenpolitikerin vergangene Woche die Gründung einer nach ihr selbst benannten Partei bekannt gab, kam es prompt zum Medienauflauf. Wagenknecht sei «die grösste Attraktion, die das politische Berlin derzeit zu bieten hat», konstatierte die «Süddeutsche Zeitung» hinterher.

Weniger eindeutig ist, wie die 54-Jährige politisch zu verorten ist. Lange haftete ihr das Image an, eine Wiedergängerin der Revolutionärin Rosa Luxemburg zu sein, selbst als unübersehbar war, dass sie sich mehr am Ordoliberalismus der «Wirtschaftswunder»-Zeiten orientiert als am Marxismus. Ihre neue Partei dürfte nun versuchen, sozialdemokratische Wirtschafts- und konservative Wertepolitik zu fusionieren. Zumindest soweit das bislang abzusehen ist.

Die Schriftstellerin Emma Braslavsky wiederum stellt in ihrem Roman «Erdling» die Frage nach Wagenknechts Verortung im ganz konkreten Sinn: Wo bloss ist die Politikerin abgeblieben? Die im Ostdeutschland der Vorwendezeit aufgewachsene Autorin erzählt nämlich von einer Detektivin, die Wagenknechts Fährte folgt, weil diese entführt worden ist. Und zwar nicht etwa von einem irren Fan oder von politischen Extremisten mit selbstgebastelten Reisepässen, sondern von Ausserirdischen. Man reibt sich die Augen: Ist Wagenknecht nun auch noch zur belletristischen Jahrmarktsattraktion mutiert?

Unter Lifestyle-Linken

Der Plot ist aber mehr als ein Marketinggag, obgleich sich die Story genauso abgefahren liest, wie es der Aufhänger erwarten lässt. Der Verlag bewirbt das Buch als «Heimatroman der fantastischen Art», und das trifft es auch: Braslavsky begibt sich darin auf eine oft lustige, manchmal auch etwas überbordende Spurensuche in der Geistes- und Literaturgeschichte, um vergessene (oder verdrängte?) Schichten des deutschen Unterbewusstseins freizulegen. Karl Marx, Adolf Hitler und – natürlich! – Thomas Mann haben zwar ihre Auftritte, vor allem aber geht es um weitaus weniger bekannte Gestalten. Jedenfalls ist «Erdling» nicht umsonst dem vom CSU-Politiker Horst Seehofer gestifteten Heimatministerium gewidmet, wie der Zueignung zu entnehmen ist, die der Geschichte vorangestellt ist.

Braslavskys Heldin heisst Emma Erdling, vornherum also genauso wie die Autorin, wobei das mit dem Namen so eine Sache ist: Emma ist in Berlin als private Ermittlerin tätig und hat sich dafür auf Empfehlung ihrer Grosstante Klara, von der sie sich finanziell aushalten lässt, das vermeintlich zugkräftigere männliche Pseudonym «Andreas von Erdling» zugelegt. Emma aber interessiert sich allenfalls oberflächlich für das Schnüfflermetier. Einen Auftrag hatte sie bislang noch nie, ihre Leidenschaft gilt vielmehr Social Media, wo sie sich darauf spezialisiert hat, mit einfachen Botschaften (Hashtag: «Nie wieder Deutschland!») die Befindlichkeiten sich progressiv wähnender Kreise zu bauchpinseln, um damit Likes einzuheimsen.

Kurzum: Die junge Frau ist eine Lifestyle-Linke, wie sie im Buche steht, nämlich beispielsweise in einem Traktat mit dem Titel «Die Selbstgerechten», mit dem besagte Sahra Wagenknecht vor bald drei Jahren einen Bestseller landete. Eines Tages nun klopft tatsächlich ein Kunde an Emmas respektive Andreas’ Büro, und zwar der frühere Finanzminister Oskar Lafontaine, der berichtet, wie ihm seine Lebensgefährtin, also Wagenknecht, bei einem gemeinsamen nächtlichen Waldspaziergang von Aliens weggeschnappt worden sei. In einer derart delikaten Angelegenheit könne er nicht zur Polizei, deswegen überreicht «Lafo» nun Emma/Andreas einen Umschlag, prall gefüllt mit Banknoten: «Finde Sahra.»

Voltaire schimpft auf Hegel

Für Braslavskys Heldin ist das der Auftakt zu einer Reise, auf der Raum und Zeit aus den Angeln fliegen. Als sie im Buchladen ihres Kumpels Cosmo im Regal mit fantastischer Literatur herumstöbert, steht auf einmal der französische Philosoph Voltaire leibhaftig hinter ihr, referiert ein bisschen über seine Erzählung «Micromégas» – ein Pionierwerk der Science-Fiction – und zieht gegen seinen deutschen Kollegen G. W. F. Hegel vom Leder.

Solche Begegnungen der unheimlichen Art, mit fiktivem oder eigentlich schon lange totem Personal, häufen sich: Bald schon macht die Detektivin etwa Bekanntschaft mit Leuten, die rechter Esoterik um okkulte Geheimgesellschaften und Reichsflugscheiben verfallen sind. Schliesslich trifft Emma auf einer Party (auf der auch der nur spärlich bekleidete Schöpfer des «Zauberbergs» herumtänzelt) einen gewissen Hanns Heinz Ewers. Der Schriftsteller war im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wohl eine der schrägsten Figuren des deutschen Geisteslebens. Ewers interessierte sich für Spiritismus, war Fan von Oscar Wilde und Max Stirner, schrieb Märchen, drehte Filme, nahm wahnsinnig viele Drogen und diente zeitweilig unter Goebbels als Propagandist, obwohl er den Antisemitismus ablehnte.

Einer seiner grössten Erfolge war der misogyne Skandalroman «Alraune», der von der Erzeugung eines Mädchens mittels künstlicher Befruchtung erzählt: Der Samen stammte von einem guillotinierten Sexualmörder, die Mutter war eine Prostituierte. Das Buch erschien 1911, später wurde es vom Hitler-Regime aus dem Verkehr gezogen. War Ewers nun bloss ein reaktionärer Literat? Oder umgekehrt seiner Zeit weit voraus, etwa als Verfasser eines 1928 erschienenen Romans über eine Geschlechtsumwandlung?

Ähnlich schillernd ist das Werk von Friedrich Freksa, einem Zeitgenossen von Ewers, der einerseits einem rechtsradikalen Freikorpsführer eine Biografie gewidmet hat, andererseits 1931 den Science-Fiction-Roman «Druso» über eine Alieninvasion auf der Erde schrieb. Freksa habe mit Letzterem, so meint jedenfalls Emma nach einer Plauderei mit ihm, «ein widerständiges Buch» verfasst: «Er hat die Geschichte so geschickt kodiert, vielleicht zu geschickt, dass sie niemand als Mahnung gegen die Nazis verstanden hat.»

Die Suche nach der gekidnappten Wagenknecht entführt so ihrerseits in einen Unschärfebereich, was den Roman zugleich sehr zeitgemäss macht, breitet sich doch eine solche Unschärfe gerade jetzt in der krisengeschüttelten deutschen Gegenwart aus. Sind denn beispielsweise die protestierenden Bäuer:innen nun bloss Rechtsextreme auf landwirtschaftlichem Gerät, oder haben sie auch legitime Anliegen? Oder die Friedensbewegten: antiamerikanische Wirrköpfe oder doch aufrechte Pazifist:innen?

Tradition und Konstruktion

Im Nachwort bezeichnet die Autorin ihren Gewaltmarsch durch deutsche Zwischen- und Gegenwelten als Versuch eines «narrativen Kulturdenkmals». Unter dessen greller Oberfläche liegt eine Ausgrabungsstätte verschütteter Erzählwelten, deren Begehung die Fragen aufwirft, was Identität oder Tradition ausmacht und inwiefern man es dabei stets mit prekären Konstruktionen zu tun hat. So jedenfalls, wie bei der realen Sahra Wagenknecht Ost und West sowie rechts und links ineinanderfliessen und bei Braslavskys fiktiver Heldin die eigene Identität verschwimmt, sie sich bald schon als «Emma und Andreas» vorstellt und Realität und Narration nicht mehr zu unterscheiden vermag, so gerät auch in «Erdling» das ins Rutschen, was anderswo als kanonisch hochgehalten wird.

Thomas Mann? Der hängt gerade in Baumwollunterhosen mit einem manischen Junkie herum, der sich am Gestank seiner ungewaschenen Genitalien zu berauschen versucht. Womöglich ist das ja genau die richtige Antwort auf völkische Reinheitsfantasien, die derzeit Hochkonjunktur haben.

Buchcover von «Erdling.»
Emma Braslavsky: «Erdling.» Roman. Suhrkamp Verlag. Berlin 2023. 425 Seiten. 39 Franken.