Argentinien: Ist Milei nackt?

Nr. 5 –

Der Schriftsteller Gabriel Cortiñas war während des Generalstreiks auf den Strassen von Buenos Aires unterwegs. Für die WOZ hat er seine Eindrücke zu einem Text verarbeitet – und nimmt auf das kaiserliche Gebaren des neuen Präsidenten Bezug.

Javier-Milei-Puppe während des Generalstreiks am 24. Januar in Buenos Aires
Politische Unfähigkeit und messianisches Narrativ: Javier-Milei-Puppe während des Generalstreiks am 24. Januar in Buenos Aires. Foto: Natacha Pisarenko, Keystone

Mehr als eine Million Menschen folgten vergangene Woche dem Aufruf zum Generalstreik in Argentinien. Mit Erfolg: Zwei Tage nach dem Streik am 24. Januar zog der frisch gewählte Präsident Javier Milei einige der umstrittenen Reformen bereits zurück. Gabriel Cortiñas nahm an den Demonstrationen in der argentinischen Hauptstadt teil, wo er auf die Figuren seiner Geschichte traf.

«Ein Generalstreik, bloss 45 Tage nach der Einsetzung eines neuen Präsidenten – so schnell hat es in der ganzen Geschichte Argentiniens noch nie Proteste gegen eine Regierung gegeben.» Das denkt sich Nicolás, während er mit Hunderten Gleichgesinnten, die aus den westlichen Vororten kommen, die Calle Juncal entlanggeht. Dreissig Kilometer reisten sie mit dem Zug in die Hauptstadt des Landes und marschieren nun durch eines der luxuriösesten historischen Viertel der Stadt. Sie gehören einer Organisation der peronistischen Linken an – und füllen die ganze Strasse. Die Ladenbesitzer:innen des Viertels strecken die Köpfe heraus und betrachten erstaunt diese riesige Raupe aus Menschen, die sich singend ihren Weg bahnt und mit jeder dazustossenden Kolonne wächst. Ein junger Velokurier fährt vorbei und ruft etwas Unverständliches. Nicolás weiss nicht, ob es sich um Provokation oder um Zustimmung handelt.

Eine wichtige Wähler:innengruppe, die für Milei stimmte, waren Angestellte prekärer Branchen, mehrheitlich Männer unter 35 Jahren wie der junge Kurier oder Nicolás. Das Velo fährt eine Querstrasse hinunter, und das Logo des Lieferdiensts, der durch Abstrampeln bis aufs Blut funktioniert, schrumpft zu einem roten Punkt, der am Horizont verschwindet.


Die menschliche Raupe kriecht voran. In weniger als einer Stunde werden die Demonstrierenden bei der Plaza del Congreso eintreffen, um gemeinsam mit 300 000 anderen mitten im Sommer in der Sonne zu stehen und danach denselben Weg wieder zurückzugehen. Es ist der 24. Januar, und Argentinien stellt einen neuen Rekord auf: Der grösste und zugleich konservativste Gewerkschaftsbund des Landes ruft zum Generalstreik und zur Mobilisierung gegen eine Regierung auf, die eben erst eingesetzt wurde. Warum er das tut? Rekapitulieren wir. Wir erleben den vierten Versuch in der Geschichte des Landes, ein neoliberales Modell zu etablieren. Dieser ist von einer ungewöhnlichen Mischung aus Schnelligkeit, messianischem Narrativ, politischer Unfähigkeit und Wahlbetrug geprägt. Milei fühlt sich als Kreuzritter und pflegt zu sagen, die «himmlischen Mächte» seien auf seiner Seite.

Bei seiner Einsetzung erliess der neue Präsident zuerst ein «Megadekret», das den Staat in Rekordzeit zerlegen sollte. Unter Umgehung des Kongresses wollte er 300 Gesetze aufheben und 300 weitere reformieren: Privatisierungen, Flexibilisierung der Arbeit, Abschaffung von Gesetzen, die Mieter:innen schützen oder den Lebensmittelhandel regeln – und das alles unter der irren Losung der «Freiheit». Eine Woche später schickte er dann das Omnibusgesetz in den Kongress, das das «Megadekret» beinhaltet und eine Grenze überschreitet: Es überträgt dem Präsidenten Gesetzgebungsbefugnisse.

Ein politischer Poet

Gabriel Cortiñas ist Dichter, Publizist und Forscher. Der Vierzigjährige wuchs in der argentinischen Hauptstadt Buenos Aires auf, wo er bis heute lebt. Er veröffentlichte mehrere Gedichtsammlungen, darunter den Band «Pujato», der mit einem Literaturpreis ausgezeichnet wurde, und ist Gründer und Herausgeber der Literaturzeitschrift «Rapallo».

Politisiert wurde Cortiñas Anfang der nuller Jahre im Zuge des Kirchnerismus, wie die linkspopulistisch geprägte Zeit der Präsidentschaft von Néstor Kirchner und Cristina Fernández de Kirchner von 2003 bis 2015 genannt wird.

Cortiñas engagiert sich als Aktivist in verschiedenen politischen und kulturellen Initiativen und kommentiert in Tageszeitungen regelmässig das politische Geschehen. Er lehrt und forscht am Literaturinstitut der Universität Buenos Aires.

Milei ist erst seit 45 Tagen an der Macht, und schon demonstrieren eine Million Menschen im ganzen Land. Wie wurde er überhaupt Präsident? Im ersten Wahlgang belegte er den zweiten Platz, und um gegen den Peronismus zu gewinnen, verbündete er sich mit der drittstärksten Kraft, der Koalition «Juntos por el Cambio», angeführt von Expräsident Mauricio Macri, der heute die wichtigsten Bereiche kontrolliert: Wirtschaft und Sicherheit. Trotz seiner wütenden Kaiserreden ist Milei zu einer Art Angestelltem Macris geworden, der zu allem bereit ist.


«Kämen seine Aktionen nicht einer sozialen Katastrophe gleich, könnte man sie mit etwas aus einem Sacha-Baron-Cohen-Film vergleichen», hört Ariel in einer Audionachricht, während er die U-Bahn-Station verlässt. Er ist zehn Blocks vom Kongress entfernt, hier scheint sich die Stadt nicht verändert zu haben. Er müsste etwas weitergehen, um die Sprechchöre zu hören und die Fahnen zu sehen, die Kolonnen der Organisationen und, wie zu erwarten, die militarisierte Polizei, die auf den Einsatzbefehl wartet. Die Landesregierung liess einige Zugänge zur Stadt sperren und verbot die Zufahrt in Bussen, ausser in solchen des öffentlichen Verkehrs. Trotzdem kamen sehr viele.

Rekapitulieren wir weiter. 1976: In Argentinien wird erstmals ein neoliberales Modell eingeführt. Dieses kann nur mittels brutaler Repression aufrechterhalten werden, die zum Verschwinden von 30 000 Menschen geführt hat, doch «dura lo que dura la propia dictadura» – die Diktatur dauert eben so lange, wie sie dauert. 1990: Der zweite Versuch. Dieses Mal ist nicht die reale Repression der disziplinierende Faktor, sondern die Erinnerung an das Massaker, zusammen mit den fürchterlichen Folgen der Hyperinflation, die das Land erlebt. Nicolás ist knapp drei Jahre alt, und Yamila, die nun auf der Plaza del Congreso steht, besucht die Sekundarschule. Dieses neoliberale Projekt wird Jahre später zur berühmten «Krise von 2001» führen. Yamila beteiligt sich mit der Quartierversammlung an den Mobilisierungen. Danach verbessert der Kirchnerismus die Sozialindikatoren und stärkt die Rolle des Staates. 2016: Präsident Mauricio Macri unternimmt den dritten Versuch, der ebenfalls scheitert. Es ist kein disziplinierender Faktor vorhanden, und so improvisiert die frühere und aktuelle Sicherheitsministerin Patricia Bullrich ein «Antiprotestprotokoll», um das von der Verfassung garantierte Streikrecht zu untergraben.

Die argentinische Gesellschaft zeigt dem dritten neoliberalen Versuchsprojekt im Dezember 2017 mit einer massiven Mobilisierung und einem Steinhagel gegen den Kongress Grenzen auf. Am Ende seiner Amtszeit hinterlässt Macri mehr Armut, einen starken Konsumrückgang und eine kolossale Auslandsverschuldung von 44 Milliarden US-Dollar beim Internationalen Währungsfonds, wodurch dieser quasi mitregiert. Macri zeigten die Argentinier:innen nach zwei Jahren die Grenzen auf, Milei schon nach kaum zwei Monaten. «Das Vaterland verkauft man nicht, man verteidigt es», hört Ariel seit einigen Blocks skandieren, er ist unterwegs zur Gewerkschaft des Gesundheitswesens. Die Sicherheitsministerin versucht erneut, das nutzlose «Antiprotestprotokoll» anzuwenden. Es sind zu viele, die Polizei kann nichts ausrichten.


Yamila schwitzt, sie ist in der Nähe der Bühne, doch die Rede interessiert sie nicht besonders. Wie viele der Anwesenden ist sie nicht hier, weil sie vom Gewerkschaftsbund dazu aufgerufen wurde, sondern weil sie es für notwendig hält, der Ungerechtigkeit etwas entgegenzusetzen, die das Megadekret und das Omnibusgesetz des Präsidenten mit sich bringen. Nicolás möchte auf die Plaza del Congreso. Es gelingt ihm nicht, der Platz ist voll, und seine Kolonne muss bleiben, wo sie ist. Yamila hingegen ist genau da, wo Nicolás gerne wäre, nämlich ganz nahe beim Kongress. Sie ist zusammen mit ihrem Mann – beide sind Lehrer:innen – und ihrer Tochter früh hergekommen. Sie diskutierten mehrere Tage, mit welcher Organisation sie zur Demonstration gehen wollten, denn die Regierung drohte mit Repression. «Wir konnten nicht mit einer Organisation kommen», meint sie, «wir kamen ganz still mit der U-Bahn, niemand rief Parolen – als ob wir etwas Verbotenes täten. Wir waren nervös, und nun kehren wir voller Energie zurück, nehmen die Stimmung der Zusammenkunft mit. Nicht wahr?»

Die Mobilisierung war kraftvoll, und es kamen Menschen aus allen Provinzen; dem Streikaufruf folgten jedoch nicht viele. Ein Teil der Gesellschaft ging seinem gewohnten Alltag nach, der andere wurde in einer Weise mobilisiert, wie es schon lange nicht mehr der Fall war. Dieser ging gestärkt daraus hervor. Es war ein Bruch in Mileis ulkigem Wettlauf hin zur Autokratie. Was undenkbar schien, auch aufgrund von Artikeln von Medienunternehmen und einem messianischen Diskurs – «die himmlischen Mächte» –, trat ein: Milei ist blossgestellt, oder eben: nackt. Der Oberste Gerichtshof wird bald die Verfassungsmässigkeit des Dekrets prüfen, und das Gesetz ist noch nicht genehmigt. Dann wird man sehen, ob es eine grosse Mobilisierung gibt oder ob verhandelt wird.

Bevor Yamila den Platz verlässt, hebt sie den Blick und liest auf einem grossen Ballon, der im Wind flattert: «Hier sagt der Himmel, du sollst die Kraft des Bodens nicht unterschätzen.»

Aus dem Spanischen von Iris Leutert.