Israel / Palästina : Zeug:innen unter Beschuss

Nr. 7 –

Während die ganze Welt zuschaut, berichten lokale Journalist:innen unter Einsatz ihres Lebens aus Gaza. Der Fall eines im Dezember verstorbenen Kameramanns sorgte für grosse Aufmerksamkeit.

Es ist keine normale Liveschaltung an diesem Abend des 15. Dezember. Aus dem Studio des katarischen Fernsehsenders Al Jazeera fragt der Moderator seinen Kollegen im Gazastreifen: «Gibt es Neuigkeiten über den Zustand von Wael Dahdouh oder Samer Abu Daqqa?»

Die beiden Al-Jazeera-Journalisten waren kurz zuvor bei einem israelischen Luftangriff getroffen worden. «Der Zustand von Wael Dahdouh ist stabil», sagt der Korrespondent im Gazastreifen, in Schutzweste und mit Helm auf dem Kopf, «doch das Wichtigste ist jetzt, das Leben unseres Kollegen Samer Abu Daqqa zu retten, der seit zwei Stunden verletzt am Boden liegt.»

Seit die israelische Armee (IDF) in Reaktion auf den Hamas-Angriff in Israel am 7. Oktober in Gaza Krieg führt, berichten lokale Journalist:innen ununterbrochen über die Folgen der Bombardements, über Verletzte, über die humanitäre Katastrophe der Hunderttausenden Vertriebenen in Gaza. Ihr Job ist heute so gefährlich wie nirgendwo sonst auf der Welt: Mindestens 85 Journalist:innen seien seit Beginn des Krieges getötet worden, schreibt das Committee to Protect Journalists. In den ersten zehn Wochen starben in Gaza mehr Reporter:innen als jemals in einem anderen Kriegsgebiet in einem Jahr.

Kein Durchkommen beim IKRK

Ein paar Stunden vor jener Liveschaltung am 15. Dezember waren Wael Dahdouh, Al Jazeeras Bürochef im Gazastreifen, und sein Kameramann Samer Abu Daqqa mit einem Team des Zivilschutzes unterwegs. Mit seiner ruhigen Stimme war Wael Dahdouh in den letzten Monaten wie kein anderer zum Gesicht der Nachrichten aus Gaza geworden. Die Journalisten begleiteten die Helfer, die nach einem israelischen Bombenangriff in der Stadt Chan Yunis versuchten, eine Familie zu retten. Nach zweieinhalb Stunden machten sie sich auf den Rückweg. Dann wurden sie angegriffen.

Dahdouh wurde zu Boden geworfen. Sein Arm habe geblutet, erzählte er später dem US-Onlinemagazin «The Intercept». Er schaffte es, aufzustehen und zum Krankenwagen zurückzulaufen, der auf der zerstörten Strasse stecken geblieben war. Abu Daqqa jedoch, der am Bauch verletzt war, konnte sich nicht aufrichten. Als Dahdouh bei der Ambulanz angelangt war, wollte er die Rettungskräfte davon überzeugen, Abu Daqqa zu holen. Diese bestanden aber darauf, zuerst Dahdouh ins Spital zu fahren.

Als ihr Kollege, der Korrespondent Hisham Zaqout, und weitere Al-Jazeera-Journalist:innen vom Angriff erfuhren, versuchten sie umgehend, das Internationale Komitee vom Roten Kreuz zu kontaktieren. Dieses koordiniert die Rettungen von Verletzten zwischen den palästinensischen Helfer:innen und der israelischen Armee. «Wir riefen beim Roten Kreuz im Westjordanland an, bei dem in Gaza, dann wieder im Westjordanland und wieder in Gaza. Doch die Anrufe kamen nicht durch. Wir konnten nichts tun», sagt Zaqout ein paar Wochen später am Telefon.

Nachdem die Nachricht von Samer Abu Daqqas Verletzung bekannt geworden war, setzten sich auch ausserhalb des Gazastreifens Journalist:innen und humanitäre Organisationen für seine Rettung ein, wie «The Intercept» rekonstruierte. Der Al-Jazeera-Bürochef für Ramallah und Jerusalem rief das Rote Kreuz an. Internationale Journalist:innen versuchten, die IDF zu kontaktieren. Sie solle garantieren, dass eine Ambulanz sicher zu Samer Abu Daqqa gelange, der ohne Hilfe verbluten würde.

Zu jener Zeit Mitte Dezember konzentrierte sich die israelische Bodenoffensive auf Chan Yunis. «Alle Orte, wo die israelische Armee präsent ist, erklären sie zu militärischem Sperrgebiet», sagt Nebal Farzakh, Sprecherin beim Palästinensischen Roten Halbmond. «Sie schiessen auf alle, die sich draussen bewegen.» Das war auch der Grund, warum die Zivilschützer nach dem Angriff entschieden, Abu Daqqa nicht umgehend zu retten: Sie mussten davon ausgehen, erneut angegriffen zu werden.

Übertragung in Echtzeit

Es gibt wohl nur wenige Fälle in diesem Krieg, die so viel Aufmerksamkeit erregten wie derjenige von Samer Abu Daqqa. Sein Fernsehsender Al Jazeera, der reichweitenstärkste in der arabischen Welt, zählte live die Minuten, in denen der Kameramann verletzt am Boden lag. Trotz allen öffentlichen Drucks und der Liveberichterstattung dauerte es über fünf Stunden, bis ein Rettungsteam zum Kameramann gelangte. Es war zu spät: Abu Daqqa war tot.

Samer Abu Daqqa arbeitete seit 2004 bei Al Jazeera. Er gehörte zu jenen, die das palästinensische Korrespondent:innenteam aufbauten. Als Doppelbürger mit belgischem Pass hätte er Gaza bei Kriegsausbruch verlassen können. Doch er entschied sich, zu bleiben, wie Al Jazeera in einem Nachruf schreibt. «Als sie ihn fanden, lag er ein paar Meter von seiner Schutzweste weg», sagt Hisham Zaqout. «Offenbar hatte er sie ausgezogen und versucht wegzukriechen. Neben ihm fanden sie ein Geschoss und an seinem Körper frische Verletzungen. Das bedeutet, dass Samer ein zweites Mal angegriffen wurde.»

Vielleicht ist es gerade ihre Sichtbarkeit, die die Geschichte Abu Daqqas so erschreckend macht, bezeichnend für die Hilflosigkeit von Betroffenen und Zeug:innen gegenüber dem Horror dieses Kriegs. «Wenn selbst Samer nicht gerettet werden konnte, wie ist es wohl für die normalen Leute?», fragt Farzakh, die Sprecherin des Roten Halbmonds. Ihre Organisation erhält jeden Tag Anrufe von Verzweifelten, die um Hilfe bitten, weil sie wegen der Kämpfe ihre Häuser nicht verlassen können. «Es gibt Leute, die während Tagen mit ihren toten Angehörigen in der Wohnung ausharren und nicht einmal in den Garten können, um sie zu begraben.»

Dass die IDF grünes Licht für ein Rettungsteam gebe, sei die Ausnahme. «Im Normalfall antworten sie einfach nicht.» Und manchmal seien Ambulanzen selbst nach einer Koordinierung mit der IDF angegriffen worden. So war es auch im Fall der Zivilschützer, die die beiden Journalisten begleitet hatten, erzählte Dahdouh später.

Rund zwanzig Journalist:innen, schreibt die Organisation Reporter ohne Grenzen (RSF), seien seit Kriegsbeginn in Zusammenhang mit ihrer Arbeit getötet worden. Die Gewerkschaft Palästinensischer Journalisten (PJS) schätzt die Zahl noch höher. Die Mehrheit der Journalist:innen wurde durch Bombardierungen in ihren Häusern getötet, was RSF nicht als gezielten Angriff wertet. Doch die israelische Armee wisse genau, wo die Journalist:innen lebten, sagt Omar Nazzal von PJS. «Nehmen wir das Beispiel von Wael Dahdouh.» Ende Oktober wurde dessen Familie getötet. Dann der Angriff auf ihn und Abu Daqqa. Dann, Anfang Januar, wurde sein Sohn, ebenfalls Journalist, im Auto beschossen und getötet. «Das alles ist kein Zufall», sagt Nazzal. Die IDF sagte in einer Stellungnahme zum Tod Abu Daqqas, dass sie Journalist:innen nie gezielt angegriffen habe.

Das Sterben geht weiter

Weil Israel bis heute mit einer Ausnahme keine ausländischen Journalist:innen unabhängig nach Gaza liess, ist der Druck auf die Reporter:innen vor Ort umso grösser. «Wir stehen jeden Tag um 6 Uhr auf und arbeiten bis in die Nacht», sagt Al-Jazeera-Korrespondent Zaqout. Die Szenen von toten Kindern und Verletzten, die er täglich sehe, verfolgten ihn manchmal bis in den Schlaf. «Wir halten das nur aus, weil wir keine Wahl haben», sagt er. «Die Menschen sterben. Wir müssen zumindest versuchen, im Fernsehen stark zu sein.»

Seit Wochen schläft er mit Kolleg:innen in einem Zelt in Rafah, im Süden des Gazastreifens. Dort, wo derzeit fast eine Million Binnengeflüchtete unter prekärsten Bedingungen ausharren und die israelische Regierung nun ihre Militäroffensive ausweiten will. Bei einer Befreiungsaktion zweier Geiseln durch die IDF wurden diese Woche mindestens 67 Menschen getötet. «Die Leute in Rafah haben panische Angst», sagt Zaqout. «Wo sollen sie hin? Ich selbst weiss nicht einmal, wo ich hinsoll.»

Wael Dahdouh wurde Mitte Januar zur medizinischen Behandlung seines Arms nach Katar evakuiert. In dieser Woche wurden erneut zwei Journalisten, darunter einer aus dem Al-Jazeera-Team, angegriffen und verletzt. Zaqout sagt, er versuche, das, was er täglich erlebe, so weit es gehe zur Seite zu schieben. «Doch am Ende sind wir Menschen», sagt Zaqout. «Wir fühlen den Schmerz, die Trauer. Aber wir haben keinen Raum dafür.»