Andreas Babler: «Ich bin sicher kein Nostalgiker»

Nr. 10 –

Der SPÖ-Chef gilt vielen Sozialdemokrat:innen als Hoffnungsträger – nun will er «Reformkanzler» werden: Andreas Babler über den Korruptionssumpf im Land, die fehlgeleitete Asylpolitik der EU und sein Versprechen einer guten Zukunft.

Andreas Babler am Bodenseeufer in Höchst
«Es gibt ein Bedürfnis nach einer Neuausrichtung der Sozialdemokratie»: Andreas Babler am Bodenseeufer in Höchst.

WOZ: Herr Babler, sind Sie ein Populist?

Andreas Babler: Nein.

Wie oft wird Ihnen diese Frage gestellt?

Eigentlich kaum. Ausser manchmal von dem einen oder anderen bürgerlichen Medium, das mich gerne als Populisten abstempeln möchte.

Linker Populismus ist schwer zu definieren. Ihnen wird dieser Vorwurf gemacht, weil Sie in Ihren Reden emotionalisieren, skandalisieren, vielleicht auch mal etwas vereinfachen und zuspitzen.

Es gibt einen Klassenkampf von oben, der die breite Masse trifft. Das müssen wir skandalisieren. Wir haben in Österreich vier Millionen Unselbstständige, die jeden Tag ihre Arbeitskraft verkaufen – ob in der Forschung, in der Schwerindustrie oder in der Pflege. Die Lohnverhandlungen werden von den Unternehmen knallhart geführt, und dann steigen im Nachhinein noch die Preise. Das Leben ist für viele unleistbar geworden. Aber ich glaube, der entscheidende Unterschied zum Populismus ist, dass wir eben nicht nur aufschreien und protestieren, sondern auch Lösungen anbieten. Mein Zugang zur Sozialdemokratie ist, dass wir natürlich eine Protestbewegung im positiven Sinn sind, gleichzeitig aber immer versuchen, real die Bedingungen zu verbessern. Heisst zum Beispiel: Wir müssen an der Seite der Frauen für das Ziel des gleichen Lohns für gleichwertige Arbeit auf die Strasse gehen und gleichzeitig umsetzbare politische Lösungen präsentieren wie etwa eine Lohntransparenz mit Beweislastumkehr.

Bevor Sie vor gut einem halben Jahr überraschend zum SPÖ-Vorsitzenden gewählt wurden, haben Sie auf dem Parteitag eine furiose klassenkämpferische Rede gehalten. Manchmal, zum Beispiel, als Sie sagten: «Die anderen politisieren mit Ellbogen, wir mit Herz», sind Ihre Reden nahe am Kitsch …

Ich glaube, wenn wir eine echte Alternative sein wollen, müssen wir auch sprachlich eine Alternative sein. Viele haben es doch einfach satt, immer die gleichen Worthülsen zu hören, die gleichen Sätze in leicht abgewandelter Form.

Nun treten Sie bei den Wahlen im kommenden Herbst mit dem Versprechen an, ein «Reformkanzler» zu werden. Was meinen Sie damit?

Wir möchten an ein Versprechen anknüpfen, das zuletzt vor vielleicht fünfzig Jahren gegeben wurde, während der Ära Kreisky. [Der Sozialdemokrat Bruno Kreisky war von 1970 bis 1983 österreichischer Bundeskanzler, Anm. der Red.] Damals herrschte ein Aufbruchsgefühl. Man muss sich einmal vor Augen führen, was in jener Zeit alles für Meilensteine erreicht wurden. Man hat Frauen zum ersten Mal formal gleichgestellt. Man hat erreicht, dass Arbeiter:innenkinder auf die Universität gehen konnten. Dass man von der Arbeit, die man leistet, etwas sparen und schaffen kann. Das Versprechen lautete damals, dass es der nächsten Generation ein Stück besser gehen werde als einem selbst. Und ich glaube, genau daran müssen wir anknüpfen.

Babler und die SPÖ

Andreas Babler (51) wurde letzten Sommer überraschend zum neuen Vorsitzenden der Sozialdemokratischen Partei Österreichs (SPÖ) gewählt. Nach jahrelangen internen Streitigkeiten schlug er in einer turbulenten Wahl seine Konkurrent:innen – die bisherige Parteivorsitzende Pamela Rendi-Wagner und den burgenländischen Landeshauptmann Hans Peter Doskozil, der dem konservativen Parteiflügel angehört. Nach einer Falschauszählung der Stimmen war erst Doskozil zum Sieger erklärt worden.

Babler wurde in der Sozialistischen Jugend sozialisiert und galt als Vertreter ihres linken Flügels. Seit 2014 ist er Bürgermeister seiner Heimatstadt Traiskirchen bei Wien. Im Herbst tritt Babler für seine Partei als Kanzlerkandidat bei den nationalen Wahlen an. Die aktuelle schwarz-grüne Regierungskoalition könnte diese gemäss Umfragen verlieren.* Die SPÖ hat zwar leichten Aufwind, doch es droht ein Sieg der rechtspopulistischen FPÖ – die derzeit in den Umfragen vorne liegt.

An schlechten Tagen scheint es mir vielmehr, als befänden wir uns in einer unaufhaltsamen Abwärtsspirale: Nach Jahrzehnten der marktradikalen Ideologie ist die Welt unsicher und voller Verheerungen. Das wiederum treibt die Leute in die Arme der Rechtspopulist:innen, die alles noch weiter an den Abgrund fahren.

Man muss auch die positiven Tendenzen erkennen. Es hat in der Bevölkerung kaum je eine so grosse Bereitschaft gegeben, im Interesse der Menschen in den Markt einzugreifen, was ja eine zutiefst sozialdemokratische Position ist. Das hat gerade die Teuerung gezeigt. Hätte man vor zehn Jahren vorgeschlagen, die Übergewinne von Energiefirmen abzuschöpfen, man wäre als Kommunist beschimpft worden. Heute ist das mehrheitsfähig. Wenn die Masse der Menschen Mühe hat, ihr Leben zu bestreiten: Warum sollen anderen gleichzeitig Rekordgewinne, -dividenden und -boni ausgeschüttet werden? Ich bin überzeugt, dass wir Mehrheiten gewinnen können für die Position, dass wir überall dort in den Markt eingreifen müssen, wo er schädlich ist. Wir müssen darauf beharren, dass es einen Rechtsanspruch gibt auf einen Facharzttermin innerhalb von vierzehn Tagen oder auf leistbaren Wohnraum. In den letzten zwanzig Jahren hat die Politik die Bedingungen für die Leute in fast allen Bereichen verschlechtert. Die Bildungseinrichtungen wurden vernachlässigt, das Gesundheitssystem pfeift aus dem letzten Loch, die Mieten steigen und steigen. Wir müssen die Bedingungen endlich wieder verbessern. Und bei allen politischen Massnahmen die Klimaerhitzung als wichtiges Thema mitdenken.

Aber taugt der Reformbegriff noch? In der Ära Kreisky lautete das sozialdemokratische Versprechen: Gemeinwohl durch Umverteilung des kapitalistisch erwirtschafteten Wohlstands. Spätestens die Klimakatastrophe hat diesen Fortschrittsbegriff ausgehöhlt. Sie führt vor Augen, dass der Kapitalismus seine eigenen Ressourcen kannibalisiert – und dass es radikale Umwandlungen braucht.

Absolut. Genau deshalb muss der Kampf gegen die profitgetriebene Erderhitzung oberste Priorität haben. Es geht um nichts weniger als unsere Lebensgrundlage und den Rechtsanspruch unserer Kinder und Enkelkinder auf einen intakten Planeten. Und selbstverständlich begreifen wir Sozialdemokrat:innen die Klimafrage als Verteilungsfrage: Die reichsten zehn Prozent verursachen die Hälfte der Emissionen, die dramatischen Folgen treffen alle. Wir wollen Luxusemissionen eingrenzen und Privatjets verbieten. Nicht der jährliche Sommerurlaub ist das Problem, sondern fehlende Weitsicht in der Industriepolitik und beim Ausbau des öffentlichen Verkehrs. Für den sozialökologischen Umbau brauchen wir eine aktive Wirtschafts- und Sozialpolitik. Es geht darum, dass der Staat Rahmenbedingungen schafft, unter denen die Wirtschaft nicht mehr auf dem Raubbau der Natur basiert, sondern den Menschen Strukturen zur Verfügung gestellt werden, um ein klimaverträgliches Leben zu führen. Die Rolle der Sozialdemokratie ist es, diese Entwicklung voranzutreiben und darauf zu achten, dass niemand zurückbleibt.

In Deutschland steckt die Ampelregierung mit Beteiligung von SPD und Grünen in einer tiefen Krise. Es tobte ein Streit ums Haushaltsbudget, Milliarden bereits für Transformationsprojekte gesprochene Gelder wurden wieder zusammengestrichen. Zeigt die Situation der deutschen Sozialdemokrat:innen nicht exemplarisch, dass die Linke fast nur verlieren kann, wenn sie mitregiert?

Nein, denn regieren heisst gestalten. Die SPD hat die Wahlen gewonnen, weil sie einen guten Wahlkampf gemacht hat; jetzt geht es aber natürlich darum, die Versprechen auch umzusetzen.

Interview-Foto von Andreas Babler

Transformationsprozesse lassen sich nur umsetzen, wenn liberale ökonomische Paradigmen wie die Schuldenbremse umgestossen werden. Sie haben in der Finanzpolitik rote Linien angekündigt: Wie wollen Sie diese in einer Koalition durchsetzen?

Unter einer wirksamen Vermögens- und einer Erbschaftssteuer geht nichts, das ist unsere rote Linie. Wir schlagen ein Modell vor, das zusätzliche Steuereinnahmen von fünf bis sieben Milliarden Euro einbrächte. Das Geld könnte man ins öffentliche Gesundheitssystem investieren, beispielsweise, um Zehntausende zusätzliche Pflegekräfte auszubilden oder damit den Faktor Arbeit bei der Besteuerung deutlich zu entlasten. Und dennoch sind das im Verhältnis zum Gesamtbudget keine grossen Beträge. In jedem österreichischen Haushaltsbudget gäbe es zudem ein grösseres Umverteilungspotenzial zwischen zehn und fünfzehn Milliarden Euro, wenn wir einfach die Steuergeschenke wieder rückgängig machen würden, die wir den Unternehmen in den letzten Jahren ohne Not gemacht haben. Die Reichen mehr zu besteuern, ist also das Minimum – das würde lediglich bedeuten, dass sie einen etwas grösseren Anteil zum Gemeinwohl beitragen.

Dennoch: Wie wollen Sie das durchsetzen?

Das werden wir immer wieder gefragt, nur weil wir ein etwas gerechteres Steuersystem vorschlagen. Ich würde in Koalitionsverhandlungen die Gegenfrage stellen, was denn die andere Position am Tisch sei. Die hundert Reichsten in Österreich besitzen über 200 Milliarden Euro. Wollen wir diese schreiende Ungerechtigkeit so belassen, oder schaffen wir ein bisschen mehr Gerechtigkeit? Selbst die OECD und die EU-Kommission attestieren uns mittlerweile, dass Vermögen zu gering besteuert werden.

Sie werden oft als Nostalgiker beschrieben, als einer, der in einer Welt festhängt, die doch längst untergegangen ist. Wie muss ich mir die Welt, in der Sie aufgewachsen sind, vorstellen?

Traiskirchen war eine typische industrialisierte Gemeinde mit einem grossen Reifenwerk, der Semperit. Das war eine traditionelle und starke Fabrik mit Tausenden Mitarbeiter:innen. Ich bin in einer Fabrikwohnung aufgewachsen, die ganze Familie war in der Semperit tätig, meine Eltern, Onkel und Tanten, mein Grossvater. Unser Leben war sehr bestimmt durch die Angebote der Firma. Wir konnten zweimal im Jahr in den Urlaub fahren. Nicht weit weg, aber es gab firmeneigene Erholungsheime in schöner Umgebung. Wir hatten eine eigene Betriebskrankenkasse mit guten Leistungen und wahnsinnig viele Freizeitangebote. Das Highlight war sicherlich das betriebseigene Schwimmbad, das wir Arbeiter:innenkinder nutzen konnten. Das ist das Milieu, in dem ich aufgewachsen bin, in einer Industriestadt, mit guten Gewerkschaften, eingebettet in eine sozialdemokratisch geführte Stadt. Aber dann kamen natürlich auch die Krisen, und die haben mich auch geprägt.

In welcher Hinsicht?

Ich habe miterlebt, wie das ist, wenn ständig der Verlust der Arbeitsplätze droht, das Ausgelagertwerden. Ich bin in einer prosperierenden Stadt aufgewachsen – vor der sogenannten Globalisierung, die dann einsetzte. 1985 wurde die Semperit an den grossen deutschen Konzern Continental verkauft, ab da ging es nur noch um Profitmaximierung. Das Traiskirchner Werk wurde in Konkurrenz gesetzt zu den belgischen, den schwedischen und den deutschen Werken. Es hiess: Wenn die Deutschen acht Prozent einsparen können, dann müssen die Traiskirchner:innen neun Prozent schaffen, sonst sperren die als Erste zu. Man hatte jahrelang den Druck, bevor das Werk filetiert wurde und immer mehr Bereiche in Billiglohnländer ausgegliedert wurden. Es war eine prägende Erfahrung, zu sehen, dass die Politik die Arbeitsplätze nicht schützt. Es gab zwar viel Solidarität für das Werk und einen sozialdemokratischen Kampf, aber am Ende waren die Kapitalvertretungen am längeren Hebel.

Sie selbst haben, wenn ich richtig informiert bin, keine Matura gemacht und eine Lehre abgebrochen.

Eine Lehre habe ich gar nie angefangen. Ich habe einfach immer gearbeitet.

Als Schlosser.

Ursprünglich ja, das machte ich am liebsten. Wenn ich heute eine Drehbank sehe, würde ich am liebsten immer noch drehen. Aber ich habe dann auch vieles anderes gemacht, vom Lagerarbeiter bis zum Masterlehrgang «Politische Kommunikation». Für ein paar Jahre war ich auch in einer Mineralwasserfirma tätig, als Schichtarbeiter. Das war harte Arbeit, körperlich und psychisch, vor allem in den Sommermonaten, wenn durchproduziert werden musste.

Wie hat dieser Arbeiterhintergrund Ihre politische Weltanschauung geprägt?

Das hat natürlich Einfluss auf meine politische Schwerpunktsetzung. Ich denke Politik aus der Lebensrealität der Menschen. Aber ich bin sicher kein Nostalgiker. Es ging mir nie nur um die Bedingungen in der Schicht, früh schon habe ich mich auch mit internationaler Finanz- und Wirtschaftspolitik beschäftigt, mit Wettbewerbsbedingungen, Marktmechanismen et cetera – Themen, die heute mindestens so aktuell sind wie damals. Ich bin mit sechzehn der Sozialistischen Jugend beigetreten, war lange in der Sozialistischen Jugend-Internationale tätig, meine politische Schwerpunktsetzung ist daher auch stark internationalistisch ausgerichtet.

Dass viele Sie als Hoffnungsträger sehen, hat vor allem mit Ihrer Botschaft zu tun, die Sozialdemokratie müsse wieder selbstbewusst auftreten und unverrückbar sein in ihren humanistischen Positionen – auch bei politisch aufgeladenen Themen wie der Migrationspolitik. Ein Grossteil der sozialdemokratischen Parteien in Europa trägt die Abschottungspolitik aber längst mit.

Weit nicht alle. Aber ja, es hat eine gewisse Verschiebung nach rechts gegeben. Vielmehr als die Sozialdemokratie spielen dabei aber die ehemaligen Christsozialen eine entscheidende Rolle, denn diese haben europaweit einen massiven Schwenk nach rechts gemacht und so zur Diskursverschiebung wesentlich beigetragen.

Gestützt von Sozialdemokrat:innen, hat die EU letztes Jahr eine Asylreform beschlossen, die verkürzte Asylverfahren in Lagern an der Aussengrenze vorsieht.

An den EU-Asyl-Gipfeln werden immer die falschen Diskussionen geführt. Was wollen denn die populistischen Politiker:innen mit dem Aufbau von Aufnahmelagern an den EU-Aussengrenzen bewerkstelligen? Sie wollen demonstrieren, dass sie Menschen nicht nach Europa lassen. Das ist die Psychologie dahinter. Eigentlich wäre die nüchterne Position: Es ist völlig wurscht, auf welcher Seite des Zaunes sich die Lager räumlich befinden. Die entscheidenden Fragen sind: Nach welchen Kriterien erhalten Geflüchtete in Europa Asyl? Welche Verfahrensleitlinien braucht es, welche Berufungsmöglichkeiten? Das sind die Diskussionen, die wir führen müssten.

Auch in Österreich wird das Asylthema den Wahlkampf bestimmen. Was wollen Sie der rechtspopulistischen Debatte entgegensetzen?

Das Asylrecht ist ein unteilbares Menschenrecht. Es kann keine politische Bewertung geben in der Frage, ob jemandem, der Schutz vor Verfolgung sucht, Asyl gewährt wird. Punkt. Menschen, die in Europa ankommen, haben wir menschlich zu behandeln. Unseren Kindern geben wir Werte mit wie: «Zieht die Hand nicht weg, wenn jemand ertrinkt.» Da sind wir stolz drauf. Aber solche Werte müssen auch in der Politik massgebend sein.

Sie sind seit 2014 Bürgermeister von Traiskirchen. In der Stadt steht die grösste Asylunterkunft Österreichs, gleichzeitig ist sie stark von der Deindustrialisierung betroffen …

… und trotzdem hat die FPÖ in Traiskirchen nur neun Prozent Wähler:innenanteil, die SPÖ über siebzig. Das liegt daran, dass wir in der Stadt eine kluge sozialdemokratische Politik machen, die die Menschen nicht gegeneinander ausspielt.

Nun aber leidet die Sozialdemokratie fast überall in Europa, in Österreich war ihr Niedergang besonders drastisch: Die Partei hat sich in jahrelangen wüsten Richtungsstreiten zerfleischt – und dann gewinnen Sie praktisch aus dem Nichts als Aussenseiter vom linken Flügel die Wahl um den Parteivorsitz. Waren Sie einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort?

Es war sicher eine gewisse Grundsehnsucht da, dass es einmal jenseits dieser Streite weitergeht. Eine Gruppe von Parteifreunden fragte mich, ob ich kandidieren würde. Man hat mich sehr darum gebeten, würde ich sagen. Überrascht hat mich dann die grosse Euphorie, die meine Kandidatur ausgelöst hat, die vielen Parteibeitritte, die Bewegung, die entstanden ist. Das zeigt, dass es auch eine Sehnsucht gegeben hat nach einer inhaltlichen Neuausrichtung der Sozialdemokratie.

Sie haben nach Ihrer Wahl angekündigt, die SPÖ zur stärksten politischen Kraft in Österreich machen zu wollen. Bei den Umfragen zu den Kanzlerwahlen stagniert die Partei nun jedoch irgendwo zwischen 21 und 26 Prozent, die rechte FPÖ liegt vorne. Haben Sie manchmal Angst, Ihren grossen Ankündigungen nicht gerecht zu werden?

Ich bin überzeugt, dass wir diese Wahlen mit unserem Programm gewinnen werden. Der Wahlkampf hat ja erst begonnen. Nur die SPÖ wird in der Regierung für ein leistbares Leben sorgen, für ein gutes öffentliches Gesundheitssystem und für kostenlose Ganztagesschulen mit einem gesunden, warmen Mittagessen, um nur drei Beispiele zu nennen.

Österreichs letzter redebegabter Politiker hiess Sebastian Kurz …

Entschuldigen Sie, das war doch eine gekünstelte Schauspielersprache. Ich glaube, dass die Choreografie gut war, ihn selbst habe ich eigentlich nie gut gefunden.

Gut, sagen wir: der letzte Politiker, der die Massen zu begeistern wusste. Wie sehr ist die politische Kultur in Österreich nach wie vor beschädigt von der Ära Kurz?

Die ÖVP wird noch Jahrzehnte bitter unter den Kurz-Jahren leiden, während deren man die christlich-sozialen Werte über Bord geworfen und jegliche Mitmenschlichkeit aufgegeben hat. Seit Kurz biedert sich die ÖVP bei der rechten FPÖ an und übernimmt ungeniert deren Positionen. Bis heute koaliert die ÖVP in manchen Bundesländern mit der FPÖ. Die zweite nachhaltige Beschädigung durch die Kurz-Jahre ist natürlich die aggressive Selbstbedienungsmentalität der Führungsclique, mit der sich das Kurz-Umfeld das Land aufgeteilt hat.

Das Land hat sich international zum Gespött gemacht …

Ja, und selbst ich habe inzwischen den Überblick über die zahlreichen Anklagen gegen ehemalige und aktuelle ÖVP-Politiker verloren. Ich verfolge keine Prozesse gegen Kurz mehr, weil ich gar nicht mehr weiss, welcher Prozess gerade läuft. Man hat das Gefühl, sämtliche ÖVP- und FPÖ-Regierungsbetätigungen enden früher oder später im Gerichtssaal.

Und ausgerechnet dieses skandaldurchtränkte Österreich wollen Sie nun zu einem progressiven Gegenmodell machen, sollten Sie Kanzler werden? Wie gross ist das Potenzial dafür?

Ich bin überzeugt, dass es gerade wegen der letzten Jahre viel Potenzial dafür gibt, weil auch viel Veränderungswille da ist. Sowohl, was den politischen Inhalt angeht, als auch, was den Stil betrifft. Politisch könnten wir zum Vorbild werden, was Antikorruption anbelangt, indem wir strenge Transparenzvorschriften einführen und die gesetzlichen Schlupflöcher schliessen. Was den Stil angeht: Ich bin geprägt von einem Bundesland, wo die ÖVP regiert. Vieles kommt einem in Niederösterreich immer noch vor wie in einer Feudalgesellschaft: Wenn der Landeshauptmann in den Gemeindesaal kommt, gibt es ein strenges Protokoll – und wehe, es wird in der falschen Reihenfolge begrüsst oder jemand sitzt in der falschen Reihe, dann ist das eine grosse Ehrenkränkung der wichtigen Herrschaften … Das ist doch völlig aus der Zeit gefallen! Diesen Stil infrage zu stellen, ist mir ein grosses Anliegen. Im Weiteren glaube ich, dass Österreich ein Vorbild werden könnte in Sachen Neutralitätspolitik – wenn wir diese aktiv ausgestalten.

Sie sagten einmal, die EU sei ein imperialistisches Konzept. Muss man befürchten, dass ein Kanzler Babler Österreich aus der EU führen würde?

Das habe ich in einem Moment der Wut gesagt. Ich habe damals als Bürgermeister von Traiskirchen gesprochen – der Stadt mit dem grössten Asylzentrum des Landes, die lösen musste und muss, was die EU und unsere Regierung haben eskalieren lassen. Die EU hat viele ihrer Wohlstandsversprechen gebrochen, deshalb habe ich immer für eine Reform gekämpft, für eine Neuaushandlung der Verträge. Das Grundprinzip der EU bewerte ich aber als positiv und halte es für alternativlos, ganz klar.

* Korrigenda vom 6. März 2024: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion stand fälschlicherweise, dass es sich um die rot-schwarze Regierungskoalition handelt. Korrekt ist, dass zurzeit die ÖVP und die Grünen die Regierungskoalition bilden.