Klimaschutz als Menschenrecht: Nach dem Urteil braucht es Druck

Nr. 15 –

Wer hätte das gedacht vor acht Jahren, als sich in Bern vierzig Frauen zur Gründung des Vereins Klimaseniorinnen zusammenfanden, um vom Bundesrat resolutere Massnahmen zum Klimaschutz einzufordern. Am Dienstag hat ihnen der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg recht gegeben: Die Schweiz macht viel zu wenig zur Eindämmung der Klimaerhitzung und verstösst dadurch gegen die Menschenrechtskonvention. Ein riesiger Erfolg für den von Greenpeace unterstützten Verein mit mittlerweile über 2500 Mitgliedern und für die gesamte Klimabewegung. Die Auswirkungen sind gross: In sämtlichen Vertragsstaaten der Europäischen Menschenrechtskonvention lassen sich mit Verweis auf das Urteil nun Gerichte anrufen.

Die Politik kann nicht länger so tun, als lasse sich Klimaschutz als Angelegenheit behandeln, die je nach Konjunktur mal mehr, mal weniger betrieben werden kann. Forderungen nach einschneidenden Massnahmen haben bürgerliche Politiker:innen bislang regelmässig mit dem Verweis auf die Stimmung in der Bevölkerung und das 2021 abgelehnte CO₂-Gesetz abgeschmettert. Dabei ist klar: Echter Klimaschutz ist zwingend, eben weil er fundamentale Rechte betrifft.

Dass die EGMR-Richter:innen mit erdrückenden 16 zu 1 Stimmen so geurteilt haben, zeigt auf, wie offensichtlich das eigentlich ist – und wie ignorant Politik und Bundesverwaltung mit dem Anliegen der Klimaseniorinnen umgegangen sind. Und weiterhin umzugehen drohen, wie erste Reaktionen zeigen: So behauptete SVP-Umweltminister Albert Rösti, einst Erdöl- und Autolobbyist, die Schweiz habe «entscheidende Schritte für den Klimaschutz unternommen» und sei «gut unterwegs». Eine grobe Verdrehung: Tatsächlich muss die Schweiz ihr Klimaziel drastisch verschärfen, wenn sie nur schon bis 2050 Netto-null-Emissionen erreichen will. Aus der Perspektive globaler Klimagerechtigkeit müsste das Ziel schon 2030 erreicht sein.

Bürgerliche Politiker:innen und Medienhäuser stellen das Urteil zudem so dar, als würde sich Strassburg in hiesige Gesetzgebungsprozesse einmischen. Auch das ist eine grobe Verdrehung: Die Richter:innen sagen nicht, was die Schweiz nun genau tun muss. Das Land hat freie Wahl. Und es gäbe schnell umsetzbare Massnahmen mit grosser Wirkung: zum Beispiel die Eindämmung des Flugverkehrs, ein Verkaufsverbot für neue fossil betriebene Autos, das schnelle Vorantreiben energetischer Gebäudesanierungen. Dass der Bundesrat schnell handeln kann, teils sogar per Notrecht, hat er in den letzten Jahren wiederholt bewiesen.

Alle Menschen haben ein Recht auf wirksamen Schutz vor den schwerwiegenden Auswirkungen des Klimawandels auf Leben und Gesundheit, wie der EGMR unmissverständlich festgehalten hat. Parlaments- und Volksentscheide haben demgegenüber keinen absoluten Charakter, wenn durch sie fundamentale Menschenrechte verletzt werden. Genau für diese Beurteilung ist der EGMR da – und wer das nicht anerkennt, stellt den Rechtsstaat als solchen infrage. Und missachtet, dass 2018 zwei Drittel der Abstimmenden einer SVP-Initiative eine Abfuhr erteilten, die nationales Recht über internationale Verträge stellen wollte.

Für Klimaaktivist:innen bringt der Erfolg der Klimaseniorinnen neuen Schub. Denn er macht klar: Ihr Widerstand ist legitim. Der Druck wird weiterhin nötig sein, wie die bürgerlichen Reaktionen aufs Urteil zeigen: Dort scheint jede Einsicht zu fehlen. Umso wichtiger sind Gerichte, die im Staat als dritte Gewalt agieren; anders als die Politik brauchen sich diese nicht an vermeintlichen ökonomischen Sachzwängen zu orientieren.

Dass Klimaschutz als Menschenrecht zu werten ist, werden Gerichte in vielen künftigen Fällen berücksichtigen müssen. Etwa wenn Menschen aus Weltregionen, die bereits heftig von der Erderhitzung betroffen sind, ihre Rechte gegen Konzerne und Staaten einklagen.

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Kommentare

Kommentar von WV.

Fr., 12.04.2024 - 20:11

Dass Klimaschutz für die Kapitalismusverfechter kein Menschenrecht war, ist klar.

Respekt für alle, die sich für dieses kluge, wichtige Gerichtsurteil eingesetzt haben.