Belgien: Verfahren verzögern, Gesetze ändern: Scharon kommt davon

Das belgische Gesetz zur Verfolgung von Kriegsverbrechen und Völkermord erweist sich als zu gefährlich.

Noch bevor in der Sache verhandelt wurde, war sie auch schon so gut wie beerdigt: Ende voriger Woche wurde die Anzeige gegen den jetzigen israelischen Premierminister Ariel Scharon wegen Kriegsverbrechen, der Massaker in palästinensischen Flüchtlingslagern in Beirut 1982, auf eine so lange Bank geschoben, dass sie am Ende mit ziemlicher Sicherheit ganz hinten hinunterfällt – der beauftragte Untersuchungsrichter gab den Fall an die Staatsanwaltschaft zurück, weil er über seine «Zuständigkeit» gemäss dem belgischen Gesetz zur Verfolgung von Völkermord und Kriegsverbrechen im Zweifel sei.

Das nun folgende verfahrensrechtliche Gerangel kommt den belgischen Justizoberen wie den regierenden PolitikerInnen so zupass, dass es geradewegs als inszeniert erscheint: Seit Einreichung der Klage gegen Scharon im Juni durch eine Gruppe von in Belgien lebenden Opfern und Angehörigen von Opfern der grausigen Schlachterei in den Lagern Sabra und Schatila war eine immer eifrigere Lobby in den oberen Etagen der belgischen Regierung und Justiz zugange, um das Gesetz von 1993 zu entschärfen. Denn gerade der Erfolg eines ersten, beispielhaften Verfahrens – desjenigen gegen vier Beteiligte am Völkermord in Ruanda – machte der regierenden Klasse Angst und Bange.

No-Go-Area Belgien

Erste auf dieses Gesetz gestützte (Untersuchungs-)Verfahren schienen noch vergleichsweise unproblematisch und liessen absehen, dass dabei nichts herauskäme. So hatte auch ein belgischer Richter einen Haftbefehl gegen den früheren chilenischen Diktator Augusto Pinochet erlassen, der inzwischen amtlich als senil erklärt ist und aus Britannien ohnehin höchstens nach Spanien ausgeliefert worden wäre. Trotzdem begann sich zu zeigen, dass die rechtsstaatlich-demokratischen belgischen Regierenden nicht einfach so weitermachen können wie bisher, nämlich mit Kollegen anderer Länder, die der Kriegsverbrechen oder gar des Völkermords bezichtigt werden, Umgang haben und Realpolitik betreiben.

Scharon beispielsweise machte bei seiner ersten Europareise als Premier einen Bogen um die EU-Hauptstadt Brüssel und traf den belgischen Aussenminister Louis Michel lieber in Berlin. Als Michel voriges Jahr die Demokratische Republik Kongo besuchte, hatte nur ein administrativer Trick eine Blamage verhindert. Denn gegen den zeitweiligen kongolesischen Aussenminister Ndombasi Yerodia bestand ein Haftbefehl des Brüsseler Untersuchungsrichters Damien Vandermeersch wegen Aufhetzung zum Pogrom an ruandischen Tutsi in Kinshasa im Jahr zuvor. Der belgische Dienstweg war jedoch auf so langsam geschaltet worden, dass die internationale Ausschreibung Yerodias erst nach Michels Besuch formell in Kinshasa eintraf.

Mittlerweile ist eine ganze Reihe von weiteren Klagen gegen Mitglieder oder gar Chefs auswärtiger Regierungen eingereicht worden, darunter zwei von Angehörigen belgischer Entwicklungshelfer, die in Guatemala beziehungsweise Kambodscha ermordet worden waren, aber auch von kurdischen Flüchtlingen gegen den irakischen Herrscher Saddam Hussein, von IranerInnen gegen den früheren Staatspräsidenten Haschemi Rafsandschani, von Exil-RuanderInnen und -KongolesInnen gegen den ruandischen Militärbefehlshaber (und heutigen Staatspräsidenten) Paul Kagame und, gerade noch vor den Gerichtsferien Anfang August, gegen den neuen Präsidenten der Elfenbeinküste Laurent Gbagbo und dessen Vorgänger Robert Guéi wegen der Verfolgung der muslimischen Minderheit in der massenmörderischen Wahlkampagne voriges Jahr.

Amt bricht Tat

Eine Arbeitsgruppe der belgischen Regierung – derzeit eine Koalition von Liberalen, Sozialdemokraten und Grünen mit dem flämischen Liberalen Guy Verhofstadt und dem wallonischen Liberalen Michel an der Spitze – soll dem Parlament nach der Sommerpause eine Gesetzesänderung vorlegen. Wichtigste Denkrichtung, die dabei verfolgt wird, ist prompt die Aussparung von «amtierenden» (auswärtigen) Regierungsmitgliedern von belgischen Strafverfahren – ein Widerspruch zu den Uno-Konventionen, die angesichts der Nazi-Verbrechen den Schutz von amtierenden Regierungsmitgliedern durch diplomatische Immunität ausdrücklich aufgehoben hatten.

Andere Überlegungen zielen auf traditionelle Verwaltungsfallen, um die Einleitung von Ermittlungsverfahren möglichst zu erschweren. So könnte fürderhin eine Verordnung nur noch belgischen Staatsangehörigen erlauben, sich als (Neben-)Kläger zu konstituieren, anstatt wie bisher auch anderen in Belgien ansässigen BürgerInnen, also Opfern oder deren Angehörigen. Und schliesslich kann auch die Geschäftsordnung der Justizverwaltung das ihre beitragen, um Verfahren schlicht verstauben zu lassen.

Derweilen klagen die Justizoberen, dass die «enormen» Kosten eines derartigen Verfahrens für den belgischen Staat untragbar würden, wenn «jedermann irgendeine Klage gegen egal welchen» ausländischen Verdächtigten einreichen könnte, wie sich ein Brüsseler Generalstaatsanwalt äusserte. Wo es doch die belgische Justiz ohnehin schwer genug habe, die Verfahren zwischen den eigenen Landsleuten abzuhandeln.

Mitglieder von Scharons Likud-Partei beabsichtigen folgerichtig, die belgische Justiz finanziell und mit Arbeitsanfall zu überfordern, wenn sie eine ganze Latte von Verfahren gegen Palästinenser bis hin zu deren Präsident Jassir Arafat vor belgischen Gerichten einleiten wollen. Dies kündigte der Parlamentsabgeordnete Avraham Hirschson im Juli an. Geplant sind etwa Klagen in Zusammenhang mit dem Attentat bei den Olympischen Spielen in München 1972 und der Kaperung des Luxuskreuzers Achille Lauro im Mittelmeer 1985. Likud-Leute füttern die belgischen Medien mit Erklärungen, während der israelische Regierungssprecher nur zu gern «bestätigt», dass dies «gänzlich private Initiativen» seien, mit denen Staat und Regierung nichts zu tun hätten und Premier Scharon schon gar nichts. Dabei hatte Scharons Regierung selber die Anzeige in Belgien sogleich zur Staatsaffäre gemacht und eine der nobelsten StrafverteidigerInnen in Brüssel – ironischerweise Vertreterin von Opfern im Ruanda-Prozess – zur Verteidigung des «Premierministers des Staates Israel» angeheuert.

Seitens der belgischen Regierung, die noch bis zum Jahresende den EU-Vorsitz innehat und die gar zu gern im eskalierenden palästinensisch-israelischen Konflikt vermitteln möchte, hatte der liberale Justizminister Marc Verwilghen Mitte Juli das Abgeordnetenhaus beschworen, so schnell wie möglich amtierende Staatsoberhäupter von einer Verfolgung durch die belgische Justiz auszunehmen. Gehorsam forderte anlässlich der traditionellen Eröffnungsfeier des neuen Gerichtsjahrs letzte Woche das versammelte Korps von OberrichterInnen und OberstaatsanwältInnen Belgiens, die universelle Anwendbarkeit der Verfolgung von Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit, wie sie ins belgische Gesetz übernommen worden ist, schleunigst wieder einzugrenzen. So gut wie alle Parteien, von Regierung bis Opposition, äusserten sich inzwischen zustimmend, und wenn das Parlament im Oktober wieder arbeitet, ist die Revision des Gesetzes von 1993 so gut wie gesichert.