Was heisst Beziehungsanarchie? Von der Ethik des Schlampendaseins bis zur Freiheit, alleine zu sein: Begriffserklärungen, Lektüretipps und interessante Fakten zu den Beziehungsformen von heute.

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Illustration: 3 Hände welche sich gegenseitig anfassen

«Polysecure»

Wenn man mit Leuten spricht, die nichtmonogam leben oder sich nur schon dafür interessieren, haben sie womöglich dieses Buch gelesen: «Polysecure» der US-amerikanischen Psychologin Jessica Fern, 2020 auf Englisch erschienen.

Fachlich gesehen verbindet Fern den Diskurs um Polyamorie mit der Bindungstheorie, die in der kindlichen Entwicklung nach Gründen für das Beziehungsverhalten einer Person sucht. Aber das Buch ist vor allem ein Ratgeber. Es gibt Strategien an die Hand, wie man in Liebesbeziehungen emotionale Sicherheit erreichen kann, auch wenn man mehr als eine gleichzeitig führt. In der Psychologie wurden nichtmonogam lebende Personen lange diskriminiert; so lernten Paartherapeut:innen etwa, dass eine nichtmonogame Lebensweise die emotionale Stabilität generell bedrohen würde.

Fern dreht, wie andere vor ihr, die Perspektive um: Wenn es nicht die Beziehungsform ist, die Sicherheit gibt, was ist es dann? Der Gedanke ist so simpel wie folgenreich: Wenn das Fundament einer Beziehung nicht vorausgesetzt werden kann, muss man sich darüber verständigen. Dazu muss man sich seiner Bedürfnisse bewusst werden und lernen, sie zu formulieren. Erhellende Fragen und Antworten sind das, auch für monogam Liebende.

Gegen Ende des Buches geht es auch viel um persönliches Wachstum und wie Liebschaften dazu beitragen. Droht die Polyamorie hier in ein Kalkül des persönlichen Nutzens zu kippen? Interessant wird es gerade auch an diesem Punkt.

Jessica Fern: «Polysecure. Bindung, Trauma und konsensuelle Nicht-Monogamie». Divana Verlag. Köln 2023.

Illustration: zwei Hände welche eine Vogel-Figur formen

Beziehungsanarchie

Machen, was man will, ohne alle Verpflichtung? Das wäre ein grosses Missverständnis, wie schon bei der Anarchie, von der die Beziehungsanarchie abstammt. Diese ist eher ein philosophisches Konzept als eine Anleitung. Der Grundgedanke ist die Abschaffung der Hierarchie zwischen verschiedenen Beziehungen, seien sie freundschaftlich, sexuell oder romantisch, sowie der Respekt gegenüber der Unabhängigkeit und der Selbstbestimmung der anderen – statt gegenüber herrschenden Normen, wie Beziehungen zu führen seien. Wie man sich unschwer vorstellen kann, ist dieses Modell nur geeignet für Leute, die sich an Verpflichtungen halten können.

Geht es hier um den alten Traum der freien Liebe? Manchmal klingt es so: «Die Beziehungsanarchie stellt die Vorstellung infrage, dass Liebe eine begrenzte Ressource ist, die nur dann authentisch sein kann, wenn sie auf ein Paar beschränkt ist.» Das ist der erste Satz eines Manifests (Titel der englischen Übersetzung: «The Short Instructional Manifesto for Relationship Anarchy»), das die Schwedin Andie Nordgren 2012 auf ihrem Tumblr-Blog veröffentlichte und das viel zur Popularisierung des Begriffs beitrug.

Das Manifest richtete sich auch gegen die damalige Diskussion und die mediale Darstellung von Polyamorie. Oft wurde darin vorausgesetzt, dass Menschen eine Hauptbeziehung führen, die zwar emotional und sexuell nicht exklusiv ist, gegenüber anderen Beziehungen aber mehr Rechte und Privilegien geniesst. Die Beziehungsanarchie ist also auch ein Aufstand der Freundschaften und Affären, der Liebschaften und Dates, der Friends with Benefits und der Gspusis.

Illustration: eine Hand mit langen Fingernägeln

«The Ethical Slut»

Eifersucht ist wahrscheinlich – und überlebbar. Das ist für Dossie Easton und Janet W. Hardy eine der Lektionen, die ein polyamores Leben bieten kann. Sie sind die Autorinnen des Buches «The Ethical Slut», das seit seinem Erscheinen 1997 auf Englisch über 200 000 Mal verkauft wurde. Es gilt als Pionierwerk der Polyamorie.

«Für uns ist eine Schlampe eine Person jeglichen Geschlechts, die ihre Sexualität gemäss der radikalen These zelebriert, dass Sex schön und Vergnügen gut für dich ist.» Das Ethische am nichtmonogamen Schlampendasein hat für die beiden Autorinnen mit einer Haltung zu tun: Man trägt Sorge zu den anderen, spricht offen miteinander, egal ob es sich um eine zwanglose Liebschaft oder eine verbindliche Beziehung handelt. Verbindungen sind fluide, Veränderungen können immer Möglichkeiten zum persönlichen Wachstum sein. Das Ende einer Beziehung ist kein Versagen.

Mit einer guten Portion US-amerikanischer Positivität wollen die Autorinnen Liebe und Sexualität von einer «Hungerökonomie» befreien, in der Intimität als spärliche Ressource erscheint, und stattdessen dazu ermutigen, sich am grossen Buffet der sexuellen Praktiken und Beziehungsformen zu bedienen. Wobei Eifersucht nichts ist, was man unterdrücken sollte. Die Freiheit der anderen anzuerkennen, macht Eifersucht eher zum Schlüssel, um eigene Unsicherheiten freizulegen und emotionale Selbstregulierung zu üben.

Janet W. Hardy, Dossie Easton: «Schlampen mit Moral». Erweiterte Neuausgabe. mvg Verlag. München 2020.

Illustration: eine einzelne Hand

Solo, aber nicht allein

Und was ist, wenn jemand keine Liebesbeziehung führt – oder führen will? Single, solo, alleinstehend: Einen so richtig sympathischen Begriff für diese Form der Lebensführung gibt es nicht. Das mag daran liegen, dass das Singlesein nach wie vor oft als Übergangsphase wahrgenommen wird, als Lebensentwurf, dem es im Grunde immer an etwas mangelt.

Dabei kann man sich durchaus bewusst und aus guten Gründen fürs Alleinsein entscheiden, womit sich auch eine wachsende Anzahl an Büchern beschäftigt. Es ist wohl kein Zufall, dass direkt nach der Covid-Pandemie gleich mehrere dazu publiziert wurden. Der schwule Berliner Philosoph Daniel Schreiber etwa erzählt in seinem persönlichen Essay «Allein», wie er ebendiesen Zustand mit seinen Vor- und Nachteilen erkundet. Sarah Diehl mit «Die Freiheit, allein zu sein» und Katja Kullmann mit «Die singuläre Frau» fokussieren spezifisch auf alleinstehende Frauen: Ohne einen Mann an ihrer Seite werden gerade sie als unvollständig angesehen, als ungeheuerlich oder gefährlich gar – und sind dementsprechend oft Vorurteilen und dummen Sprüchen ausgesetzt.

Trotzdem gibt es eine wachsende Gruppe von Menschen, die sich – eine gewisse Zeit lang oder auch für immer – gegen ein Leben in einer Liebesbeziehung entscheiden. Einsam müssen sie deswegen nicht sein: Sex gibts auch ausserhalb, und vielen bleibt so mehr Zeit, Bekannt- und Freundschaften zu pflegen.

Daniel Schreiber: «Allein». Hanser Verlag. München 2022.

Sarah Diehl: «Die Freiheit, allein zu sein. Eine Ermutigung». Arche Verlag. Zürich 2022.

Katja Kullmann: «Die singuläre Frau». Hanser Verlag. München 2022.

Illustration: viele Hände

Sorgegemeinschaften

In der Schweiz hinkt das Familien- und Abstammungsrecht der Realität von Sorgegemeinschaften hinterher. Legal abgesichert ist nur, wer sich in die Zweisamkeit der Ehe oder der eingetragenen Partnerschaft begibt. Bei Unfällen oder Todesfällen sind Liebespartner:innen, die nicht verheiratet sind, stark benachteiligt. Und was ist mit Alleinstehenden, die bei Krankheiten von Freund:innen oder WG-Mitgliedern unterstützt werden? Kinder von homosexuellen Paaren oder von Ko-Eltern in nichtromantischen Beziehungen müssen vom nichtbiologischen Elternteil adoptiert werden, um zum Sorgerecht zu kommen. Mehr als zwei Eltern für ein Kind festzulegen, wie es seit kurzem etwa in Kanada möglich ist, gibt es vor dem Gesetz nicht.

Dass Bewegung ins Familien- und Abstammungsrecht kommt, hat auch mit der ab 2022 eingeführten Ehe für alle zu tun. Zwar hält der Bundesrat am Zweielternrecht fest; Mehrelternschaft jedoch wurde zumindest von einer Expert:innengruppe vorgeschlagen und diskutiert. Zu komplex wären aber laut Bund die Auswirkungen auf andere Rechtsbereiche wie das Sozialversicherungs-, das Bürger- oder das Ausländerrecht.

Die legale Mehrelternschaft gibt es heute in keinem einzigen europäischen Land, doch ein Blick nach Deutschland zeigt ein anderes Konzept, das gerade gesetzlich verankert wird: die Verantwortungsgemeinschaft, die dazu dient, Sorgegemeinschaften jenseits der Ehe das Leben zu erleichtern. Zwei oder mehr Erwachsene können Verantwortung füreinander übernehmen – mit Auswirkungen auf das Auskunftsrecht in Krankheitsfällen, aufs Mietrecht oder die Vermögensverteilung. Das kann gerade für Menschen in Polygeflechten oder für Alleinstehende interessant werden.

Illustration: 4 Hände welche einen Kreis formen

Swingen

Gästebücher von Swingerclubs sind eine eigene literarische Gattung. Paare bedanken sich da bei «gut bestückten» Männern, die sie in einem Raum namens «Gloryhole» angetroffen haben. Oder suchen Kontaktdaten von anderen Paaren, mit denen sie sich mal in der Sauna über Jobs unterhalten haben. Alles so erfreulich unaufgeregt.

Überhaupt umgibt das Swingen im Gegensatz zu anderen nichtmonogamen Beziehungspraktiken eine Aura des Normalen. Das mag daran liegen, dass das Konzept, mindestens in den USA, schon lange kursiert. Schon in den fünfziger Jahren gab es Medienberichte über das «wife swapping», den Frauentausch, als neues gesellschaftliches Phänomen.

Laut der Studie «The Case of Swingers» zweier So­zio­log:in­nen aus dem Jahr 2000 begann die Erforschung des Phänomens in den siebziger Jahren. Wobei sämtliche Studien (auch ihre eigene) zum Schluss kämen, dass Swin­ger:in­nen mit überwältigender Mehrheit weiss, mittelständisch und politisch heterogen, also zu einem grossen Teil auch konservativ, seien. Anders als bei offenen Beziehungen oder Polyamorie seien in der Swingerszene gesellschaftspolitische Fragen wenig bedeutend. Die über tausend Pro­band:in­nen ­ihrer Studie würden das Swingen eher als gemeinsames Hobby ansehen. Manche Paare gehen auch ­gemeinsam wandern.

Sex haben sie übrigens nicht unbedingt in dafür vorgesehenen Clubs: Swingen kann man auch anderswo, und swingen gehen kann man auch solo. Entscheidend dafür, dass der Sex trotzdem noch als Swingen gilt, dürfte sein, dass man ihn auch so nennt.