Durch den Monat mit Hanno Loewy (Teil 2): Was wäre die Alternative?

Nr. 50 –

Der Direktor des Jüdischen Museums Hohenems über falsche Freund:innen, den gefährlichen Hang zur einseitigen Fokussierung und ein Vokabular, das auf Trennung statt Koexistenz abzielt.

Portraitfoto von Hanno Loewy
«Alle Menschen in der Region verdienen die gleichen Rechte. Ohne geteilte Souveränität wird das nicht gehen»: Hanno Loewy.

WOZ: Hanno Loewy, wie erklären Sie sich die Fixierung vieler Menschen auf den israelisch-palästinensischen Konflikt?

Hanno Loewy: Wir leben in einer Welt, in der eine bestimmte Wahrnehmung von Jüd:innen die Zivilisation grundiert. In jedem Dorf in Europa hängt ein symbolischer Jude am Kreuz – als erlösendes Opfer. Das Christentum basiert ja nicht zuletzt auf der jüdischen Prophetie und der Vorstellung, dass es diese besser versteht als die Jüd:innen selbst. Darum spielt Israel insbesondere im Heilsplan von Evangelikalen so eine zentrale Rolle. Insofern haben Jüd:innen wie Palästinenser:innen viele falsche Freunde, die auf diesem Konflikt weiterhin ihre eigenen Süppchen kochen.

Wie sehen Sie die antikolonialistische Linke, die sich als Freundin der Palästinenser:innen versteht?

Gerade die postkoloniale Theorie hat aus den Augen verloren, dass es nicht nur einen europäischen oder amerikanischen Kolonialismus gibt. Es gab arabischen Kolonialismus in Afrika, in Asien, es gibt eine neue Form von chinesischem Kolonialismus. Fragt man sich zudem, wo es zeitweise gelang, linke Gemeinschaftsideale von sozialer Gerechtigkeit und kollektiver Willensbildung zu verwirklichen, zeigt sich, dass da meist charismatisch-autoritäre Führer und ethnische Homogenisierung wirksam waren – sei es in Osteuropa, Asien oder auch in israelischen Kibbuzim. Dieser Hang, auf bestimmte Bevölkerungsgruppen zu fokussieren, scheint mir auch im Diskurs über den Nahostkrieg ein Problem zu sein.

Wie äussert sich das?

Zum Beispiel im Vokabular. Dass die Westbank israelisch besetzt ist, daran besteht kein Zweifel. Das ist und bleibt auch der Elefant im Raum, den die israelische Demokratiebewegung nicht ernst genug genommen hat. Nebenbei: Vor 1967 war die Westbank von Jordanien besetzt, der Gazastreifen von Ägypten. Mit dem Slogan «From the river to the sea, Palestine will be free» ist aber ganz Israel gemeint. Damit wird suggeriert, die Israelis seien überall Besatzer:innen und hätten weniger oder gar kein Recht darauf, dort zu leben. Wenn die BDS-Bewegung, die zu Boykott, Deinvestition und Sanktionen gegen Israel aufruft, die «Befreiung arabischer Erde» fordert, frage ich mich: Was ist damit gemeint? Alles? Damit erhebt auch die BDS einen ethnisch-nationalistischen Exklusivanspruch aufs ganze Gebiet. Auch mit dem Begriff «Siedlerkolonialismus» wird zwischen Einheimischen und Fremden unterschieden. Realität ist aber: In dieser Gegend haben immer schon Menschen verschiedenster Herkunft gelebt, auch Jüd:innen.

Ein weiterer Punkt, den die BDS-Bewegung Israel unterstellt, ist «Apartheid».

Für die Westbank trifft er zu. Nicht aber für Israel. Diskriminierung gegenüber einzelnen Bevölkerungsgruppen hingegen gibt es auch in Israel. Wie fast überall in der Welt – erst recht in den Ländern, die Israel umgeben. Dort werden, wie in Israel, nicht nur Migrant:innen diskriminiert, sondern auch Menschen, die schon lange dort leben. Aber ja, es gibt in Israel schon lange die fatale Tendenz, die Palästinenser:innen einfach aus der Realität wegzudefinieren. Beide Seiten verhalten sich, als hätten die «anderen» kein gleiches Recht darauf, dort zu leben und zu bleiben. Das führt in eine Spirale von Vertreibungsfantasien.

Und zu noch mehr Gewalt und Polarisierung auch in Europa …

Das ist genau das Kalkül der Hamas. Ihre massenmörderische Logik nimmt die Palästinenser:innen als Geiseln ihrer Allmachtsfantasie. Sie will ja auch nicht, dass Muslim:innen irgendwo auf dieser Welt ein gutes Leben haben. Weil das ihren Einfluss schwächen würde, der darauf beruht, alle in einen endzeitlichen Kampf führen zu wollen. Es ist vor allem die Hamas, die dafür sorgt, dass dieser Krieg in diese schreckliche Dynamik führt. Schrecklich vor allem für die Palästinenser:innen in Gaza – aber auch für alle Minderheiten hier, Jüd:innen wie Muslim:innen. Der Nationalismus grenzt am Ende alle aus, die nicht in die Fantasie der Homogenisierung passen.

Wo sehen Sie da die Verantwortung der israelischen Regierung?

Natürlich muss sich Israel gegen die Hamas wehren. Aber einen Krieg zu führen ohne Vorstellung davon, wie ein Friede aussehen könnte, führt in eine Katastrophe. Jetzt wird schon wieder von der Zweistaatenlösung fantasiert, doch auch die basiert eben auf dem gefährlichen Traum von Trennung.

Was wäre die Alternative?

Die Grundhaltung, dass alle Menschen in der Region gleiche Rechte verdienen. Das wird ohne geteilte Souveränität nicht gehen. Denken wir an Jerusalem. Und daran, dass in Israel mehr als zwanzig Prozent der Menschen Palästinenser:innen sind. Ohne die Bereitschaft zu einer Art Föderation könnten auch zwei Staaten auf diesem engen Raum nicht friedlich koexistieren. Der Mythos, Israel sei der sichere Hafen für Jüd:innen, ist am 7. Oktober auf schreckliche Weise zerstört worden. Und in dieser Situation wächst ausgerechnet auch der Antisemitismus in Europa. Dagegen müsste die Linke ein anderes Projekt von Befreiung setzen, das nicht Identität gegen Identität setzt.

Der Kulturwissenschaftler Hanno Loewy (62) leitet seit fast zwanzig Jahren das Jüdische Museum Hohenems. Im Vorarlberger Städtchen gab es einst eine grosse jüdische Gemeinde, deren Geschichte 1938 gewaltsam zu Ende ging. Dazu mehr in der nächsten Folge.