Ja zur 13. Rente: Die grosse AHV-Saga

Nr. 10 –

Der jetzt beschlossene Ausbau der AHV ist der wichtigste sozialpolitische Erfolg seit Jahrzehnten. Wie er zustande kam. Wo er gefeiert wurde. Was nun folgt. Die Reportage über eine einmalige Abstimmung.

Mitglieder der Vereinigung zur Verteidigung der Rechte der Rentner:innen (Avivo) in Feierlaune
Mitglieder der Vereinigung zur Verteidigung der Rechte der Rentner:innen (Avivo) in Feierlaune. 

Kein Superlativ scheint zu verwegen, um den vergangenen Abstimmungssonntag zu beschreiben. Eine sozialpolitische Wirkmacht wie der Landesstreik 1918 habe das Ja zur 13. AHV-Rente, sagt ein hoher Gewerkschafter am Tag nach der Abstimmung. Da wirkt das in den Medien oft bemühte «historische Resultat» fast schon wie Tiefstapelei. Einzigartig ist durchaus, dass über 58 Prozent der Abstimmenden Ja zur Erhöhung der AHV-Renten sagten und dass das im Abstimmungskampf vielbeschworene Ständemehr am Ende überhaupt keine Rolle spielte.

Diese Zustimmung ist erklärungsbedürftig. Wer nach Antworten sucht, wie es zu diesem vor Monaten noch unvorstellbaren Abstimmungserfolg gekommen ist, muss viele Orte aufsuchen. Muss dorthin gehen, wo sich die Kampagnenfähigkeit der Gewerkschaften und der linken Parteien zeigt – aber auch dorthin, wo sich der Realitätsverlust des bürgerlichen Establishments offenbart. Beides zusammen, so könnte man die Analyse der Politologin Silja Häusermann zusammenfassen, ermöglicht eine Allianz, die in den kommenden Monaten eine sozialpolitische Wende in der Schweiz herbeiführen könnte.

In dieser Auseinandersetzung geht es nicht nur um die finanzielle Absicherung der breiten Gesellschaft, sondern auch um die politische Repräsentation der unteren sozialen Klassen. Um Fragen letztlich, die weit über die Schweiz hinaus bedeutsam sind.

Dass linke Anliegen plötzlich in konservativen Milieus mehrheitsfähig sind, zeigte sich am letzten Sonntag an vielen Orten in der Schweiz. An Orten, wo das politische Geschehen eigentlich von der SVP dominiert wird – aber deren Parolen für einmal niemanden interessierten.

1. Blocher und die Büezerin

Der Dorfplatz von Spreitenbach ist eine Kreuzung. Unten durch fliesst ein kleiner, begradigter Bach. Gegenüber einem alten Feuerwehrhäuschen liegt der «Sternen»; um die Mittagszeit ist das Restaurant anständig voll. Das Menu 1 heute: «Nudeln Bombay an Currysauce mit Gemüsestreifen».

Die ältere Frau am Nebentisch hat den Zander bestellt. Beim Thema 13. AHV-Rente beisst sie sofort an: «Natürlich habe ich Ja gestimmt!» Für eine Erhöhung des Rentenalters sei sie trotzdem auch, sagt sie schalkhaft, schliesslich habe sie bis viele Jahre über die Pensionierung hinaus in einem Tankstellenshop unten an der Hauptstrasse gearbeitet. Gewählt hat sie fast immer die SVP. «Ich bin einfach Blocher-Fan, der kann sagen, was er will. Doch hier haben sie jetzt mal an der Büezerin vorbei politisiert.»

Spreitenbach liegt im Aargauer Teil des Limmattals, auf halbem Weg zwischen Baden und Zürich. Wer mit dem Zug hier vorbeifährt, sieht vor allem Einkaufszentren und mächtige Wohnblocks. Nur knapp die Hälfte der Bevölkerung besitzt einen Schweizer Pass. Auf den Übersichtskarten zur Abstimmung über eine 13. AHV-Rente fällt Spreitenbach als sattblauer Fleck mitten im Mittelland ins Auge: 69 Prozent der Stimmenden haben hier Ja gesagt. Das ist erstaunlich. Bei den letzten Nationalratswahlen wählten 38 Prozent die SVP. Sowieso scheint die Initiative der Gewerkschaften die sozialpolitische Landkarte durcheinanderzubringen: wenn etwa der Kanton Baselland die Stadt Zürich links überholt und deren konservativster Stadtteil Schwamendingen wiederum die hippen Kreise 4 und 5.

Im alten Dorfkern von Spreitenbach sind an diesem Montag nicht viele Leute unterwegs. Doch flammende Befürworter:innen der 13. AHV-Rente zu treffen, ist nicht schwierig. In der Nähe der stattlichen katholischen Kirche wartet am Strassenrand eine Frau im pinken Jäckchen; freundlich blickt sie unter den üppig geschminkten Augenbrauen hervor. «Ich habe schon so viel gearbeitet in meinem Leben, und als Verheiratete werde ich auch weniger bekommen, da ist eine zusätzliche Rente nur fair.» Ein kurzer Einblick in ein faszinierendes Arbeitsleben: Zuerst Fotografin bei der 1999 eingestellten Zeitung «Sport», schmiss sie später das Restaurant Singapore an der Badenerstrasse in Zürich. «Ausser Mord habe ich dort alles gesehen.» Mittlerweile geht sie es ruhiger an, ist diplomierte Fusspflegerin. Bevor ihr Taxi anrollt, holt sie eine Visitenkarte hervor: «Grüess a d’Füess».

Die junge Mutter mit zwei Kindern auf dem Spielplatz vor dem Schulhaus stellt sich als stramme SVP-Wählerin heraus. Das Gespräch wird bald ungemütlich, aber ihre Prognose für die nun ausgebaute AHV wird deutlich: unmittelbar bevorstehender Zusammenbruch des Systems. Deutlich heiterer wirkt der Mann in Jogginghose, der mit seinem Hund um einen Rank kommt. Er hat dem Ausbau entschlossen zugestimmt. «Alles wird teurer, aber die Renten gehen nicht mit.» Er erzählt, wie er mit sechzehn aus Italien in die Schweiz kam, in den Küchen diverser Restaurants arbeitete, dann als Fräser in einer Fabrik in Baden. «Hoffentlich erlebe ich die zusätzliche Rente noch – ich bin jetzt 76, da kann es schnell gehen.»

2. Die Militanz von unten

Ein Tag zuvor, am Sonntag in Bern. Im Hotel Bern haben sich Initiativkomitee, Gewerkschafterinnen, linke Politiker und Aktivist:innen versammelt. Es ist eine Welt, die an diesem Abstimmungstag ganz nah an den Realitäten von Spreitenbach scheint. Auf dem Balkon des Hotels Bern ziehen Franziska und Bruno Hulliger aus Wasen im Emmental genüsslich an ihrer Zigarette. Beide, so erzählen die pensionierten Unia-Gewerkschafter:innen, haben 45 Jahre hart gearbeitet, zuletzt in einem Schlachthof, immer in die AHV einbezahlt – und sich mehrmals gegen Lohnkürzungen wehren müssen. «Kämpfen lohnt sich – das sieht man jetzt», sagt Bruno, gelernter Pelzzurichter. Einen solch breiten Zusammenhalt aber wie jetzt bei diesem Kampf für die 13. AHV-Rente habe sie noch nie erlebt, sagt Franziska.

Wie viele pensionierte Unia-Gewerkschafter:innen haben sich auch Hulligers in den letzten Monaten für die 13. AHV-Rente engagiert. Und jetzt, schon nach der ersten Hochrechnung um 12.30 Uhr, scheint bereits klar: Sie wird kommen. Mattea Meyer, Kopräsidentin der SP Schweiz, wischt sich eine erste Freudenträne von der Wange; SP-Campaigner Flavien Gousset klatscht mit den Umstehenden ab; Balthasar Glättli, Präsident der Grünen, wünscht tänzerischen Schrittes einen schönen Tag. Kurz nach 13 Uhr, nachdem der Politologe Lukas Golder im Schweizer Fernsehen verkündete, dass auch das Ständemehr erreicht werde, ist aus dem Sonntag definitiv ein Feiertag geworden.

Erstmals in der Geschichte der Schweiz eine linke Volksinitiative zu gewinnen, die einen Ausbau des Sozialstaats schafft – und gleich so deutlich: Wie war das möglich? Im Hotel Bern wird man sich der historischen Stunde allmählich bewusst. Um 14 Uhr ertönen erste kurze Dankesreden. «Vraiment historique!», ruft SGB-Präsident Pierre-Yves Maillard in den Saal. Und: Dieser Erfolg habe neben Paul Rechsteiner, dem Urvater der Initiative, viele «papas et mamans: les militants!».

Noch nie in ihren 25 Jahren als Gewerkschaftsprofi habe sie eine solche Dynamik von unten, ein derart gutes und kraftvolles Zusammenspiel von Senior:innen, Gewerkschaftern, Feministinnen, Migranten und Arbeiter:innen erlebt, sagt Unia-Chefin Vania Alleva. All diese Netzwerke seien jetzt auch eine starke Basis für weitere Kämpfe wie etwa für anständige Löhne, gerechter finanzierte Gesundheitskosten oder Mietendeckel.

Die Kampagne muss weitergehen, findet auch Köbi Hauri. Der 71-Jährige ist seit 1970 gewerkschaftlich organisiert. Knapp vierzig Jahre war der gelernte Schreiner als Hauswart an der ETH Zürich tätig. Heute ist er Präsident der IG Rentner:innen in der Unia, in der rund 20 000 pensionierte Gewerkschafter:innen vertreten sind. Hauri war es, der die Kundgebung zu «75 Jahre AHV» am 25. September in Bern auf die Beine stellte, gemeinsam mit vielen Rentner:innen, die sich auch ausserhalb der Gewerkschaften, etwa in der Vereinigung zur Verteidigung der Rechte der Rentner:innen (Avivo), zusammengeschlossen haben. Eine zweite Kundgebung organisierten die Pensionär:innen am 23. Februar in Bern, als Antwort auf den «Mahnbrief» gegen die 13. AHV-Rente der fünf bürgerlichen Altbundesrät:innen. Über all die Monate waren sie in der ganzen Schweiz unterwegs und verteilten Flyer. Und der Kampf geht weiter. «Wir Senior:innen wollen nicht nur für uns selbst kämpfen – sondern auch für die Werktätigen. Darum beteiligen wir uns auch am Kampf für anständige Löhne und bezahlbare Krankenkassenprämien. Es geht eben genau nicht darum, Generationen zu spalten – sondern um Generationensolidarität.» Dazu passt, dass die Kampagne nicht nur auf der Strasse sehr präsent war – sondern dank der jungen linken Agentur Digital Organizing auch im Netz.

Aktion für die 13. AHV-Rente in Bern
Aktiv auf der Strasse, viral im Netz: Aktion für die 13. AHV-Rente in Bern. Foto: Manu Friederich
Kundgebung in Yverdon-les-Bains am 19. Februar
In der Romandie  war die Unterstützung noch grösser als in der Deutschschweiz: Kundgebung in Yverdon-les-Bains am 19. Februar. Foto: Valentin Flauraud, Keystone
Protestkundgebung auf dem Bundesplatz am 23. Februar
Die briefliche Belehrung durch Altbundesrät:innen – «brandgefährlich»! – verärgerte viele: Protestkundgebung auf dem Bundesplatz am 23. Februar. Foto: Manu Friederich

3. Wie in der Sowjetunion

Fünfzehn Gehminuten vom Hotel Bern entfernt. Man meint, flüstern zu müssen, derart gedämpft ist die Stimmung im Restaurant Grosse Schanze. Die vielen SRF-Journalist:innen stehen sich gegenseitig auf den Füssen herum, gute Bilder sind hier nicht zu holen: ein fast leerer Raum, fassungslose Gesichter, die Niederlage ist krachend, was gibt es da noch zu sagen?

Nur eine Handvoll Vertreter:innen von Arbeitgeberverband und Economiesuisse sowie einige bürgerliche Parlamentarier:innen sind anwesend, die grossen Namen glänzen durch Abwesenheit. «War Geri Pfister da?», fragt einer in die Runde. «Meinst du heute oder im Abstimmungskampf?», ätzt eine Mitte-Politikerin. Thierry Burkart komme auch noch, heisst es lange, doch im Verlauf des Nachmittags taucht der FDP-Präsident nicht auf.

Nach der ersten Hochrechnung wird das Restaurant mit seinen bodentiefen Fenstern, den Kronleuchtern und dem livrierten Personal endgültig zu einem Aquarium der elitären Konsternation. Draussen drückt die Sonne durch die Wolken, Menschen fläzen auf der Schanzenwiese herum, drinnen werden winzige Blätterteighäppchen in Form von Fischen sowie Frühlingsrollen serviert. Die Gespräche oszillieren zwischen Empörung, bitterer Erkenntnis, Selbstkritik und Schuldzuweisungen. Allenthalben hört man die Argumente gegen die 13. AHV-Rente, die man in den letzten Wochen Tag für Tag in den grossen Zeitungen lesen konnte: «Blocher kriegt jetzt auch eine 13. AHV-Rente!»; die Initiative sei «unfair» und «unsolidarisch». Ausgerechnet.

«Was wir jetzt haben, ist eine finanzpolitische Misere», klagt Bettina Balmer, FDP-Nationalrätin aus Zürich. Die Schweizer Stimmbevölkerung habe offenbar den Realitätssinn verloren. Sie habe das Gefühl, früher habe diese noch «fürs Ganze» geschaut. Es werde zu wenig geschätzt, was die Arbeitgeber für die Gesellschaft tun würden. Mitte-Politikerin Christina Bachmann-Roth berichtet derweil vom grossen «Druck auf der Strasse»; die Leute hätten ihr erklärt, jetzt müssten sie mal für sich schauen. Später wird sie in eine Kamera sagen, die Annahme der Initiative sei ein Schlag ins Gesicht. Man scheint das Abstimmungsergebnis nur sehr langsam zu verdauen.

Einmal sagt Balmer selbstkritisch, die Kampagne habe das Thema Altersarmut unterschätzt. Vielleicht weil es für die anwesenden Parteien keines ist. Ab und an schimmert zwar durch, dass sich die Politiker:innen und Arbeitgebervertreter:innen vorstellen können, dass die Welt ausserhalb ihrer eigenen anders aussieht. Doch die Schlüsse, die die wirtschaftliche Elite daraus zieht, sind seit Jahrzehnten die gleichen: Soziale Ungleichheit soll im Grunde beibehalten werden. Die Sowjetunion habe doch gezeigt, dass es nicht funktioniere, wenn alle gleich seien, sagt Balmer.

4. Streit um die Finanzierung

Am Sonntag um 18 Uhr erscheint Thierry Burkart dann doch noch auf der Bildfläche. Am Schweizer Radio und Fernsehen beginnt die Elefant:innenrunde. Bei der Antwort auf die Frage, ob es sich um ein «politisches Erdbeben» handle, dauert es nur wenige Sekunden, bis Burkart in seiner Antwort bei der Finanzierung der künftigen Rente angelangt ist: «Wir stehen vor gewaltigen Herausforderungen!» Geschätzt vier bis fünf Milliarden Franken mehr pro Jahr wird die Einführung der 13. AHV-Rente kosten. Burkart und auch SVP-Vertreter Franz Grüter wirken wie gefangen in ihren Parteiprogrammen: Es dürfe keine zusätzlichen Steuern und Abgaben geben, wiederholen sie in der Sendung mantrahaft. Da wird selbst die SRF-Moderation etwas ungeduldig: Woher bitte soll das Geld sonst kommen? Will man Milliarden sparen?

Die AHV hat heute bekanntlich drei Haupteinnahmequellen: Über Lohnbeiträge werden 73 Prozent der gesamten Rentensumme finanziert, über Bundesbeiträge 20 Prozent und über die Mehrwertsteuer 6 Prozent. Klar ist: Die Finanzierungsarten haben eine unterschiedlich gerechte Wirkung. Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer würde die weniger Begüterten stark treffen (weil der Konsumanteil an ihren Haushaltsausgaben hoch ist). Eine Erhöhung der Bundesbeiträge tangierte die Reicheren und die Unternehmen stärker (weil sie vor allem über die direkte Bundessteuer mit ihrer starken Progression finanziert sind).

Die Gewerkschaften haben im Abstimmungskampf stets betont, dass sie für eine Finanzierung über eine Erhöhung der Lohnbeiträge plädieren: 0,8 Prozent wären dafür nötig, je hälftig verteilt auf die Angestellten und die Unternehmen. Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizer Gewerkschaftsbundes (SGB), sieht das auch am Montag gut gelaunt immer noch als einfachste Lösung: «Die Lohnbeiträge stärken den Versicherungscharakter der AHV: Wer in die Versicherung einzahlt, hat auch einen Anspruch auf die Rente.» Ständige Zusatzfinanzierungen hingegen würden die Renten zunehmend als Almosen erscheinen lassen. «Die Kopplung der Renten an die Löhne entspricht auch einer ökonomischen Logik: Dann folgen beide der gleichen Entwicklung.»

Die Unternehmen würden sich nicht über eine solche Lösung beklagen können, hat Lampart ausgerechnet: Deren Lohnbeiträge an die Sozialversicherungen sind in den letzten zehn Jahren gemäss einer SGB-Studie deutlich gesunken, insbesondere wegen tieferer Beiträge an die Arbeitslosen- und die Unfallversicherung.

Auch SP-Wirtschaftspolitikerin Jacqueline Badran ist am Montag bester Laune. Sie nimmt an der Frühlingssession im Bundeshaus teil. Badran plädiert ebenfalls für eine Umsetzung über die Lohnprozente. Schliesslich habe die AHV einen gigantischen Umverteilungscharakter. 92 Prozent der Bevölkerung erhalten eine höhere Rentensumme, als sie über ihre Lohnbeiträge einbezahlt haben. «Die 13. Rente wird nur für die Ermottis dieser Schweiz eine Belastung sein. Das ist die Pointe!» Allerdings geht Badran noch einen Schritt weiter als Lampart: Sie würde gerne die nötigen Lohnprozente zur Zusatzfinanzierung der AHV einfach von der zweiten Säule in die erste verschieben. «Dort hat es für die tiefen und mittleren Einkommen die deutlich bessere Wirkung, weil die Spitzengewinner:innen obendrauf zahlen und wir nicht auch noch die Pensionskassengewinne alimentieren.»

Eine weitere Finanzierungsart hat die Mitte-Partei ins Spiel gebracht: Nationalrat Philipp Matthias Bregy fordert eine Finanzmarkt-Transaktionssteuer, um die zusätzliche Rente zu finanzieren. «Eine Nebelpetarde», findet Badran. Eine solche Steuer könne angesichts der Mobilität des Kapitals nur in internationaler Abstimmung eingeführt werden. Was Badran hingegen richtig fände: eine Kapitalsteuer auf das Eigenkapital von Unternehmen. «Diese historisch älteste Steuer hat die Schweiz gross gemacht. 1998 wurde sie auf Bundesebene abgeschafft. Ihre Wiedereinführung würden vor allem die Grosskonzerne spüren.» Und sie würde die Entwicklung umkehren, die in den letzten Jahrzehnten zu den steigenden Lebenshaltungskosten der breiten Bevölkerung geführt hat: dass nämlich das Kapital dauernd entlastet, die Arbeit aber zunehmend belastet wurde.

Unia-Chefin Vania Alleva mit SP-Ständerätin Flavia Wasserfallen
«Zusammenspiel von Gewerkschaftern, Feministinnen, Migranten und Arbeiterinnen»: Unia-Chefin Vania Alleva mit SP-Ständerätin Flavia Wasserfallen und VPOD-Chefin Natascha Wey. Foto: Ursula Häne
Feiernde im Hotel Bern
Generationensolidarität statt herbeigeredete Generationenspaltung: Feiernde im Hotel Bern. Foto: Ursula Häne
Gewerkschaftsbundpräsident Pierre-Yves Maillard bei der Deutung der Resultate
«Vraiment historique!»: Gewerkschaftsbundpräsident Pierre-Yves Maillard bei der Deutung der Resultate. Foto: Ursula Häne

5. Die untere Klasse muckt auf

Für das Kapital, also jene, die darüber verfügen, brachte der vergangene Sonntag eine seltene Niederlage. «Ein Sieg der Armen über die Reichen» titelte jedenfalls der «Tages-Anzeiger», ausgehend von ersten Daten zu den finanziellen Verhältnissen der Ja- und Nein-Stimmenden, die Tamedia kurz nach der Abstimmung erhob. Demnach stimmten Menschen mit weniger als 4000 Franken Monatseinkommen der Initiative mit 69 Prozent zu, während Spitzenverdiener:innen diese mehrheitlich ablehnten. Ein Klassengegensatz, wie er in Abstimmungen nur selten so deutlich sichtbar wird.

«Massiv übertrieben», findet Silja Häusermann die Schlagzeile allerdings. Die Politikwissenschaftlerin forscht an der Universität Zürich zu Veränderungen im Wahl- und Abstimmungsverhalten, zum Umbau des Sozialstaats, zur Lage der Linken. Am Sonntag kam vieles zusammen, was Häusermann beschäftigt. Ihre erste Analyse, auch anhand der Tamedia-Daten: «Es ist falsch, von tiefen Gräben zu sprechen. Weder zwischen Alt und Jung noch zwischen Reich und Arm.» Die vorliegenden Informationen würden vor allem eines zeigen: «Insgesamt hat die Vorlage eine enorm hohe Zustimmung generiert, bis weit in hohe Einkommensschichten.» Das Erfolgsgeheimnis liegt für Häusermann ausgerechnet im Giesskannenprinzip – das im Abstimmungskampf von rechts als unsolidarisch angeprangert wurde. Weil die 13. AHV-Rente allen universalistisch zugutekommt, sei es zu einer Interessenallianz zwischen dem Mittelstand und den unteren Einkommensschichten gekommen. «Diese Koalition durchbricht den Gegensatz von Armen und Reichen.»

Damit es zu dieser klaren Mehrheit kommen konnte, musste sich aber doch Ungewöhnliches ereignen: Die untere soziale Klasse musste sich bemerkbar machen. Und tatsächlich weist die hohe Stimmbeteiligung von sechzig Prozent darauf hin, dass der Abstimmungskampf Menschen, die sich sonst wenig am direktdemokratischen Geschehen beteiligen, aus der politischen Lethargie gerissen hat. Denn in der Schweiz gehen obere Schichten viel häufiger an die Urne als untere. «Für die Linken ist sehr interessant, wie stark dieser Abstimmungskampf untere Schichten mobilisieren konnte», sagt Häusermann.

Die entscheidende Frage lautet nun: Kann diese Mobilisierung wieder gelingen? Können die linken Kräfte eine dauerhafte Koalition für sozialpolitische Verbesserungen formen? Häusermann beobachtet, dass insbesondere bei verteilungspolitischen Vorlagen eine gewisse Kluft zwischen der rechtsbürgerlichen Mehrheit im Parlament und der Bevölkerung entstanden ist, in die linke Anliegen stossen können, sofern sie über reine Umverteilung hinaus auch den Mittelschichten nützen – eine Kluft, die sich schon bald wieder, nämlich bei den kommenden Abstimmungen im Juni, auftun wird.

6. Die nächsten Kämpfe

Dass das bürgerliche Lager und die Wirtschaftsverbände in der Lage sind, sich bis dahin aufzurappeln, ist unwahrscheinlich. Das Verdikt vom letzten Sonntag kommt einem politischen Knock-out gleich. Doch Zeit für Erholung bleibt keine. Bereits im Juni befinden die Stimmbürger:innen über die beiden Krankenkasseninitiativen von SP und Mitte. Die Befindlichkeit in der Bevölkerung ist hier ähnlich wie bei den Renten. Die steigenden Prämien – Anfang Jahr im Durchschnitt um 8,7 Prozent – setzt die Menschen bis weit in den Mittelstand hinein unter Druck. Mitschuldig auch hier: das von Bürgerlichen (und deren gut bezahlten Lobbyist:innen) dominierte Parlament, das die Interessen der Gesundheitsindustrie schützt und Reformen zugunsten der Bevölkerung blockiert.

Gemäss einer ersten Tamedia-Umfrage beträgt die Zustimmung zur SP-Initiative 64 Prozent. Die Initiative fordert, dass die Prämienausgaben 10 Prozent des Haushaltseinkommens nicht übersteigen dürfen. Die Zustimmung zur Kostenbremse-Initiative der Mitte liegt gar bei 72 Prozent. Sie verlangt wiederum, dass der Bundesrat, das Parlament und die Kantone eingreifen müssen, wenn die Gesundheitskosten im Verhältnis zur Lohnentwicklung zu stark steigen.

Bereits knapp drei Monate später kommt es zu einem weiteren sozialpolitischen Showdown. Dann befinden die Stimmbürger:innen abermals über eine Rentenvorlage, die BVG-Reform. Auch hier haben die Bürgerlichen ein Problem. Wie wollen sie den Menschen erklären, weshalb diese für weiter sinkende Pensionskassenrenten mehr bezahlen sollen? Im Kern geht es darum, dass der Umwandlungssatz von 6,8 auf 6 Prozent gesenkt werden soll. Das führt zu tieferen Renten. Diese Rentenverluste sollen mit Kompensationszahlungen für eine Übergangsgeneration mit tiefen Renten ausgeglichen werden. Ein um 0,5 Prozent höherer Lohnabzug und ein etwas höherer Lohnanteil sollen rentenbildend sein. Doch die Reform ist teuer. Sie kostet schätzungsweise zwei Milliarden Franken. Was die Bürgerlichen bei der 13. AHV-Rente massiv kritisierten – höhere Lohnabzüge –, ist in der zweiten Säule offenbar kein Problem.

Die teure Vorlage strotzt vor Widersprüchen. Im bürgerlichen Lager zeigen sich bereits Risse: Gastrosuisse und Bauernverband lehnen sie als zu teuer ab. Wer reisst sich um den Lead bei dieser Kampagne? Economiesuisse und Arbeitgeberverband dürften in den nächsten Wochen erst einmal die personellen Konsequenzen aus dem AHV-Abstimmungsdesaster ziehen. Bei den Parteien wird sich kaum erneut die SVP exponieren wollen – denn das dürfte den aufgebrochenen Konflikt zwischen der Parteibasis und der Elite um die Blochers weiter verstärken. Scheitert die Reform, könnte das Jahr 2024 tatsächlich als sozialpolitische Zeitenwende in die Geschichte der Schweiz eingehen.

Wie weit sich die Wirtschaftsverbände mit ihrer Politik von der Bevölkerung entfernt haben, zeigt eine Szene am Sonntag im Restaurant Grosse Schanze in Bern, wo sich die Gegner:innen versammelt haben. Plötzlich steht dort ein Passant am Eingang; er habe Ja gestimmt und sei sehr erleichtert, nun wolle er sich «das hier» ansehen. Freundlich wird er vom Personal seines Weges verwiesen: «Geschlossene Gesellschaft».

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Kommentare

Kommentar von regen1954

Mi., 13.03.2024 - 13:30

die annahme der 13. ahv-rente ist für die neoliberale, bürgerliche mehrheit in parlament und regierung das waterloo, der absolute albtraum. die ahv als einzige solidarische, umverteilende und nicht gewinnbringend bewirtschaftbare vorsorsorge, ist ihnen schon lange ein dorn im auge (alle reformen zur stärkung der ahv wurden abgeschmettert). die annahme dieser initiative hat nun einen pflock in diese abwärtsspirale gerammt und sie zum stillstand gebracht. die kränkung der bürgerlichen über die krachende niederlage scheint aber so gross zu sein, dass sie sich auf eine regelrechte strafexpedition gegen die 58% ja-stimmenden einlassen, einfach erbärmlich!