SCHREBERGÄRTEN: Gemütlich auf dem Vulkan

Nr. 37 –

Die Fläche der Häuschen beträgt höchstens 7,5 Quadratmeter bei maximal 3 Metern Höhe, das Bier wird mit Solarstrom gekühlt, aus dem Lautsprecher dröhnt Alpenmusik: ein Spätsommerabend im multikulturellen Schrebergarten.

Wenn der Zug ab Hauptbahnhof Zürich auf der Strecke nach Bern oder Basel Fahrt aufgenommen hat und Zürich nach fünf Minuten allmählich ausfranst in eine Dienstleistungswüste, kommt links, eingeklemmt zwischen Kolossalarchitektur von UBS, IBM und Julius Bär, der unscheinbare S-Bahnhof Altstetten. Und rechts: ein riesiges Schrebergartenareal, flach, grün und schön mit vielen bunten Fahnen. Das ist der Vulkan, neunzehn Nationen, verteilt auf 320 Parzellen, ein Drittel davon gepachtet von SchweizerInnen.

Rissige Kanten

Zwei Prinzipien prägen den Vulkan. Erstens die Geraden, rechten Winkel und Parallelen. Lange bekieste Wege führen schnörkellos durchs Areal. Die Eingänge zu den Parzellen und die Gartenhäuschen sind im rechten Winkel zu den Wegen, die Beete meist parallel angeordnet. Zur Auflockerung Rosenspaliere, Brombeeren an den Wegrändern, einige Gartenzwerge, ein Kranich aus Gips, eine auf antik getrimmte Marmorsäule, einige überdimensionierte Eingangstore, reinliche Gardinen, Pergolen mit weissen Gartenstühlen. Gärtnern als erfolgreiche Herrichtung der Natur zur berechenbaren Produktelieferantin inklusive Kulisse für die verdiente Pause.

Das zweite Prinzip zeigt sich nicht sofort. Ist es Zufall, dass viele Stellriemen etwas schief sind? Hier blättert ein wenig Farbe ab, dort hängt ein Gartentor krumm in den Angeln. Abflussröhren und Regenrinnen sind kunstvoll mit Draht und Schnüren zusammengehalten, brüchig gewordene Grillöfen aus vorfabrizierten Betonteilen warten schon lange vergeblich auf Spachtel und Zement. Einzelne Bodenplatten mit hervorstehenden, rissigen Kanten lauern tückisch auf blosse Zehen.

Wo immer irgendetwas gestapelt oder trocken gehalten werden muss, tut die unvermeidliche, mit Steinen oder Brettern fixierte Plastikplache praktisch und ausdauernd ihre Pflicht und schützt Tomatenstauden, Brennholz und Baumaterial vor Regen und Wind. Die Plache als Symbol für das zweite Prinzip: Liebenswürdig ist Provisorisches, erfinderisch Zurechtgebogenes und schamhaft Verstecktes damit verpackt. Gärtnern als eine Folge von bestaunenswerten Anstrengungen, die der Natur aufgezwungenen Richtlinien einigermassen einzuhalten.

Parzelle 723

723 steht auf einem kleinen Schild am Gartenhäuschen von Arealchef Christian Eicher, der eine Einführung hält in die Vorschriften, die die Schrebergärten zusammenhalten sollen. Die Grundfläche der Häuschen darf höchstens 7,5 Quadratmeter betragen bei maximal 3 Metern Höhe; erlaubt ist ein gedeckter Anbau von der gleichen Grösse. Wie alle hier hat Christian Eicher einen Frischhaltetrog in den Boden seines Häuschens gegraben, in dem Mineralwasser und Bier einigermassen kühl aufbewahrt werden können, maximal ein Kubikmeter für Erfrischungen ist erlaubt. Die Bodenplatten dürfen höchstens fünfzig auf fünfzig Zentimeter gross sein, und die gesamte freie Fläche der Parzelle muss bepflanzt werden. Hohe Bäume oder Hecken sind wegen des Schattenwurfs verboten. Zum Bau eines Tomatenhauses, gemäss Vorschrift nicht länger als 6 und nicht höher als 1,80 Meter, braucht es eine Baubewilligung.

Der rührige sozialdemokratische Pfarrer Paul Pflüger, 1910 in die Exekutive der Stadt Zürich gewählt, war 1915 der Gründer und erste Präsident des Zürcher Vereins für Familiengärten. Die Stadtverwaltung verpachtete geeignetes Land an den Verein, das dieser an in teressierte Familien weiterverpachtete. Schon 1915, im ersten Betriebsjahr, gab es 316 Gärten, in denen «verträglich und arbeitsfreudig» Gemüse, Beeren und Blumen angebaut wurden. Gegenwärtig werden 6100 Kleingärten von der Stadt verpachtet.

65 Rappen Pachtzins pro Quadratmeter verlangt die Stadt jährlich. Das ergibt um die 120 Franken für die knapp 200 Quadratmeter grossen Parzellen, wozu noch rund hundert Franken für den Mitgliederbeitrag im Verein, Wasserzins und Versicherungen kommen, dazu die Kosten für den Securitaswächter, der nachts seine Runden dreht, seit einige Gartenhäuser angezündet worden und Einbrüche vorgekommen sind. Durchschnittlich fünfzehn Jahre bleiben die PächterInnen im Areal. «Viele pachten erst dann einen Garten, wenn sie pensioniert sind. Wenn der Mann oder die Frau stirbt oder krank wird, hören sie auf. Ausserdem verlassen viele Ausländer die Schweiz nach der Pensionierung», sagt Christian Eicher. Manchmal ist es nicht einfach, genug Leute für Gemeinschaftsarbeiten zusammenzubringen, «doch bis jetzt hat es am Schluss noch immer geklappt».

«Unordnung hinterm Haus»

Angehörige aus neunzehn Nationen, bunt durcheinander gewürfelt auf kleinen Parzellen, wo jeder Furz zu hören ist - gibt das keine Probleme? «Da braucht es natürlich zuerst einmal Toleranz. Zweitens müssen sich alle an die Vorschriften halten.» Als Arealchef muss Christian Eicher, unterstützt von fünf Gartenordnern, dafür sorgen, dass die Gärten ordentlich sind und die Bauvorschriften eingehalten werden. Jedes Jahr Ende Mai oder Anfang Juni ist Gartenbegehung. Dabei macht er sich Notizen wie «Unordnung hinterm Haus» oder «Garten nicht vollständig bepflanzt». Das muss anschliessend der zuständige Gartenordner mit den jeweiligen PächterInnen in Ordnung bringen. «Neunzig Prozent der Gärten muss ich nicht beanstanden. Davon ist ungefähr die Hälfte wirklich vorbildlich gepflegt. Aber manchmal müssen wir leider hart sein und Kündigungen aussprechen.» Und gibt es Probleme zwischen SchweizerInnen und AusländerInnen? «Als die Italiener hier auftauchten und abends ihre Grillfeste feierten, haben wir Schweizer erst einmal gestaunt. Heute hat fast jeder einen Grill stehen im Garten.»

Christian Eicher fallen die Worte nicht leicht. «Ich bin eher konservativ, muss aber sagen, dass ich hier sehr viel dazugelernt habe. Ordnung wird in jeder Kultur anders aufgefasst. Da braucht es viel Fingerspitzengefühl.» Zum Beispiel sollen die Aussentüren des Areals auch tagsüber abgeschlossen sein. «Aber sie sind so gut wie immer offen.» Christian Eicher zuckt mit den Schultern. Giovanni Pinna, einer der Ordner, ist inzwischen dazugekommen. Er ist mehr breit als hoch; ein Kraftpaket mit den Augen eines Rehs: «Das Problem ist die Sprache. Wenn ich einen nicht verstehen kann und er mich nicht, wirds schwierig.» Selbst in den trübsten Phasen der Balkankriege haben «Kroaten und Serben hier im Areal zusammen gefestet».

Die Überschaubarkeit der Gärten erlaubt keine abgeschirmten privaten Zonen. Es weht ein Hauch von Eigenwilligkeit, von Bastlerstolz und praxisbezogener Naturnähe. «Alle duzen sich, viele haben Zeit für einen Schwatz, helfen sich aus mit Werkzeugen und giessen den Garten der Nachbarn, wenn die in den Ferien sind.» In der von der Familie Kosic geführten Arealbeiz hocken sich alle an den gleichen Tisch. «Viele Schweizer kommen jetzt nicht mehr, seit diese serbische Familie die Beiz übernommen hat, obwohl sie ihre Arbeit sehr gut macht», sagt Albert Weder.

Die Gärten sind für viele hier so etwas wie ein kleines Stück Heimat. Das zeigte sich in den Jahren 2001 und 2002, als die Stadt den Vulkan umsiedeln und das Areal in Fussballfelder umwandeln wollte. «In dieser Zeit hat fast niemand gekündigt. Viele beteiligten sich an den Versammlungen, an denen wir beraten haben, wie wir uns wehren sollen. In einer Sammlung kamen viele tausend Franken zusammen für Aktionen. 3500 Sympathisanten unterschrieben eine Resolution. So konnte der Vorstand den Zürcher Stadtrat überzeugen. Die haben dann ihr Vorhaben fallen gelassen.» Zudem unterstützten die SVP-GemeinderätInnen Ruth Anhorn und Hansruedi Bär die SchrebergärtnerInnen mit einem Postulat, in dem es hiess: «Ein liebevoll gepflegter Schrebergarten (...) kann nicht einfach ‹umgetopft› werden.» Christian Eicher erinnert an das riesige Plakat: «‹Fussballplätze ja - aber nicht auf Kosten der Familiengärten!› Damals haben sie an den Gleisen gebaut, und die Züge mussten hier langsam vorbei fahren. Da hatten auch die in der ersten Klasse genug Zeit, das Plakat zu lesen.»

Frische Karotten

Albert Weder, 84 Jahre alt, hat eine Musterparzelle, die er seit 1946, dem Gründungsjahr des Vulkans, gepachtet hat. Damit er mehr pflanzen und ernten kann, hat er noch etwas Land dazugepachtet. Als erfahrener Gärtner bepflanzt er seine Beete mit frühreifen Sorten, sodass er mindestens zweimal im Jahr ernten kann. «Zwei, drei Stunden wöchentlich», sagt er, braucht es während der Saison von März bis Oktober, um den Garten in Ordnung zu halten. «Als ich anfing, wusste ich noch nicht viel. Ich musste das alles lernen. Manchmal war ich fast ein wenig fanatisch. Bei mir muss der Garten rentieren.» Er zeigt auf ein in den Boden eingegrabenes Fass, in das er im Herbst ein feuchtigkeitabsorbierendes Mineral streut und dann mit Gemüse auffüllt: «So bleiben Sellerie, Randen und Rüebli bis März frisch.» Albert Weder, Ehrenmitglied im Verein, ist ein wenig resigniert: «Meine Enkel kommen nur selten in den Garten. Und wenn ich sie bitte, mir zu helfen, lachen sie bloss. Die Jungen gärtnern nicht mehr.»

Samstagabend. Die ersten Rauchschwaden der Grillöfen verbreiten ihre viel versprechenden Düfte. Vor der Arealbeiz sitzen sieben oder acht braun gebrannte GärtnerInnen. Es herrscht Aufregung, weil letzte Nacht einige Gartenhäuschen aufgebrochen wurden. «Die hatten es auf Bier und Schnaps abgesehen. Sonst ist ja nichts zu holen bei uns.»

Turi Kuonen, der schon 23 Jahre gärtnert, hat auf seiner Parzelle ganz in der Nähe das schönste Biotop des ganzen Areals. Neben einem kleinen Teich sind schöne Steine und von der Gebirgssonne gebleichte Holzstücke aus seinem Heimatkanton Wallis kunstvoll zu einem kleinen Wall aufgeschichtet. Darin eingebettet stehen selbst gebastelte Miniaturstadel und Gartenzwerge; ein paar Schweizerfahnen an kurzen Stecken sind auch noch da. Im Wasser tummeln sich Goldfische. «Die Brut von denen verschenke ich. So ist das bei uns. Du weisst ja nie, wann du den anderen mal brauchst.» Turi ist Pöstler. Nach Feierabend am frühen Nachmittag kommt er jeden Tag hierher. «Ich kann in meiner Wohnung im fünften Stock nichts anfangen. Hier lese ich den ‹Walliser Boten›, im Winter in meinem geheizten Hüsli, im Sommer in der Veranda oder auf dem Liegestuhl.»

«Früher», erzählt Turi Kuonen, «war das viel strenger hier. Wir hatten einen Arealchef, bei dem mussten wir die Dachtraufen einheitlich auf dreissig Zentimeter kürzen.» Giovanni Pinna: «Ich musste mein Gartenhäuschen, das nur ein winziges Stück grösser war als erlaubt, abbrechen. Wegen eines Zentimeters zu viel! Incredibile!» Kopfschütteln ringsum. Und Milovan Baratovic, ein weiterer Ordner: «Wenn Grillöfen einen angebauten kleinen Seitentisch hatten, musste der entfernt werden.»

Es gibt Spaghetti an pikanter Tomatensauce, dazu mit Solarstrom gekühltes Bier. Aus dem Lautsprecher tönt kräftig Alpenmusik, auch aus dem Zillertal. «Wenn irgendwer in der Nähe festet und du deine Ruhe willst, dann musst du halt gehen. Meistens regelt sich das aber irgendwie von alleine.» Endlich erbarmt sich Turi und lässt die CD mit dem deutschen Ferienlied «Palma!», zweimal Händeklatschen, «Palma de Mallorca!» laufen. Riesenjubel. Die Paare drehen sich und schwärmen über die kommenden Reiseziele: Griechenland.

Die Schrebers

Der Name Schrebergarten geht auf den deutschen Arzt und Reformpädagogen Moritz Schreber (1808- 1861) zurück. In seinen Büchern forderte er vehement die körperliche Ertüchtigung der Jugend. Er konstruierte Geräte aus Metall und Leder, die sitzende Kinder zu einer geraden Haltung zwangen oder das Masturbieren verhinderten. Sein Sohn Paul Schreber (1842-1911), Jurist und Präsident des Obergerichts Dresden, wurde wegen Nervenleiden mehrmals in psychiatrischen Anstalten interniert und schliesslich entmündigt, wogegen er sich in seinen «Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken» (1903) wehrte. Sigmund Freud analysierte die Schrift im «Fall Schreber» (1911) und diagnostizierte eine Paranoia, die durch ödipale Bindungen an den übermächtigen Vater hervorgerufen worden war.