Durch den Monat mit Bruno Baeriswyl (Teil 1): Freiheit gegen Sicherheit?

Nr. 45 –

Bruno Baeriswyl: «Viele Leute gehen sehr sorglos mit ihren eigenen Daten um.»

WOZ: Sie haben kürzlich öffentlich darauf hingewiesen, dass es in der Schweiz zu wenig Stellen für den Datenschutz gibt. Ist das Problembewusstsein in diesem Bereich bei uns kleiner als anderswo?
Bruno Baeriswyl: Ich denke schon. Mir fällt auf, dass im Gegensatz zu anderen Ländern Datenschutz bei uns kein politisches Thema ist. Die meisten Leute interessieren sich erst dafür, wenn sie selber davon betroffen sind.

Das Referendum gegen das sogenannte Hooligangesetz kam nicht zustande ...
Das ist ein gutes Beispiel. Die Datenschutzbestimmungen in diesem Gesetz sind völlig ungenügend. Und es gibt darin klare Eingriffe in Grundrechte und in den Föderalismus: Kompetenzen, die eigentlich bei den Kantonen sind, werden dem Bund übertragen. Das ist verfassungswidrig. Aber es interessiert fast niemanden. Man sieht den Wert von Grundrechten als Fundament für die ganze Gesellschaft zu wenig und ist sehr schnell bereit, sie infrage zu stellen.

Ist es auch ein Informationsproblem? Man lernt ja nichts über Grundrechte oder Datenschutz in der Schule.
Ja. Viele Leute gehen sehr sorglos mit ihren eigenen Daten um. Die wenigsten realisieren, dass etwas, das sie ins Internet stellen, für immer dort bleibt. Es ist schwierig, den Leuten beizubringen, dass sie bewusst mit ihren Daten und damit ihren Freiheiten umgehen müssen und Rechte, die sie haben, auch wahrnehmen sollten.

«Es macht doch nichts, wenn ich dauernd überwacht werde, ich tue ja nichts Verbotenes», hört man oft. Oder: «Wer dagegen ist, hat selber etwas zu verbergen.»
Das ist leider eine beliebte Argumentation. Wenn es um Information oder um ein Geheimnis geht, ist immer der, der etwas nicht bekannt geben will, auf der «falschen» Seite. Was er schützt, kann man ja nur beurteilen, wenn er das Geheimnis aufgibt. Und dann ist es kein Geheimnis mehr. Das ist das Dilemma, in dem wir stecken.

Wer sein Geheimnis schützen will, ist schon verdächtig?
Genau. Darum muss man auf der anderen Seite anfangen und auf dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung beharren: Es ist mein Recht, darüber zu bestimmen, ob etwas von mir privat oder öffentlich sein soll. Der Geheimnisschutz ist etwas Wesentliches für unsere Gesellschaft. Wer sagt, über mich darf man alles wissen, liefert sich aus und wird schnell manipulierbar. Er nimmt sich selber seine Freiheitsrechte.

Müssen die Leute vor sich selber geschützt werden?
Sie müssen sich bewusst werden, was das Recht auf informationelle Selbstbestimmung bedeutet. Dieses Recht ist Teil meiner Autonomie. Wenn ich dieses Recht nicht mehr habe, wird es totalitär.

Es gibt laufend neue technische Möglichkeiten zur Überwachung. Hinkt das Recht der Technik hinterher?
Der Staat hatte im Rahmen der Strafverfolgung immer die Möglichkeit zur Überwachung, zum Beispiel das Recht, Telefonüberwachung einzusetzen. Die Zunahme der Überwachung in den letzten Jahren hat nichts zu tun mit einer Zunahme der Kriminalität, sondern einzig mit neuen Überwachungsmöglichkeiten: Jede Nutzung von elektronischen Geräten hinterlässt Datenspuren, die überwacht und ausgewertet werden können. Weil man etwas technisch kann, will man es auch anwenden. Dabei wird kaum diskutiert, ob die Einschränkung der Grundrechte angemessen ist und ob die Massnahme überhaupt etwas bringt.

Das ist letztlich immer die Abwägung Freiheit gegen Sicherheit.
Ja. Aber diese Abwägung ist problematisch. Es gibt ein Grundrecht auf persönliche Freiheit, aber ein Grundrecht auf Sicherheit gibt es nicht. Sicherheit ist etwas völlig Relatives. Und fühlen sich die Leute durch mehr Überwachung auch sicherer? Niemand weiss mehr, ob er überwacht wird. Das kann auch zu Unsicherheit führen. Studien zeigen ausserdem, dass zum Beispiel Videoüberwachung Kriminalität nicht verhindert, sondern nur verdrängt. England ist ein typisches Beispiel: Es ist mit Kameras zugepflastert, hat aber deshalb nicht weniger Kriminalität.

Dazu kommt die Wirkung auf Menschen, die sozial auffällig sind. Es gibt Kameras, die ein bestimmtes Verhalten normieren. Wenn Sie auf einen Parkplatz gehen und auf ein Auto zusteuern, dann ist das okay. Wenn Sie aber auf dem Parkplatz hin- und hergehen und zwei, drei Autos anschauen, dann geraten Sie schon in den Verdacht, eine Autodiebin zu sein. Dann werden Sie bereits registriert und mit einer Datenbank abgeglichen, und der ganze Mechanismus kommt in Gang. Nur wegen eines Verhaltens, das nicht der Norm entspricht. Das finde ich sehr gefährlich.

Der Jurist Bruno Baeriswyl ist Datenschutzbeauftragter des Kantons Zürich und Präsident der Vereinigung der schweizerischen Datenschutzbeauftragten.