Prekarisierung: Kampf um Positionen

Nr. 33 –

Immer mehr Menschen arbeiten temporär, auf Abruf, wechseln von Job zu Job. Der Soziologe und Gewerkschaftssekretär Alessandro Pelizzari erläutert Hintergründe und Folgen.


WOZ: Die Finanz- und die Eurokrise krempeln den Arbeitsmarkt und die Beschäftigungsverhältnisse vieler Länder um. Auch in der Schweiz empfinden immer mehr Menschen ihre Arbeitssituation als prekär. Was versteht man eigentlich darunter?

Alessandro Pelizzari: Die Internationale Arbeitsorganisation definiert ein Beschäftigungsverhältnis als prekär, wenn es sozial- und arbeitsrechtlich schlecht abgedeckt ist, durch ein niedriges Einkommen geprägt wird und keine langfristige Lebensplanung ermöglicht. Neu ist das natürlich nicht. Prekär bedeutet im Wortlaut ja nichts anderes als «unsicher, widerruflich». Damit ist jedes Lohnarbeitsverhältnis potenziell prekär, denn wer von Lohnarbeit lebt, hat schon immer damit rechnen müssen, dass das Arbeitsverhältnis aufgelöst werden kann – oder dass es für ein Leben in Würde nicht ausreicht.

Und weshalb spricht man nun wieder vermehrt von Prekarisierung?

Die sozialen Garantien, die nach dem Zweiten Weltkrieg dazu beigetragen haben, Lohnarbeit abzusichern, sind mit der Liberalisierung des Arbeitsmarkts nach und nach wieder abgebaut worden: Arbeitsrechtliche Schutzbestimmungen werden ausgehöhlt, zum Beispiel durch die steigende Zahl an Temporärjobs, und die Sozialversicherungen werden angegriffen. Neoliberale Interventionen des Staates in den Arbeitsmarkt und betriebliche Flexibilisierungsstrategien haben dazu geführt, dass Lohnarbeit wieder enger an kurzfristige unternehmerische Marktrisiken gekoppelt wird.

Welche Politik verfolgen dabei die UnternehmerInnen?

Die Unternehmer wenden je nach Arbeitsmarktsektor unterschiedliche Strategien an. In exportorientierten Industriebranchen benutzen sie eine Vielzahl von Temporärarbeitern, um kurzfristig auf Auftragsschwankungen reagieren zu können. In gewerkschaftlich stark organisierten Sektoren wie dem Baugewerbe werden prekäre Beschäftigungsverhältnisse eher dazu benutzt, einen künftigen Mitarbeiter auf die Probe zu stellen oder die gesamtarbeitsvertraglichen Regelungen zu umgehen. Man denke hier etwa an die wachsende Anzahl von Scheinselbstständigen. Dass ein langjähriger Mitarbeiter eines Zimmereibetriebs plötzlich dazu gedrängt wird, als Selbstständiger für die gleiche Firma weiterzuarbeiten, und dabei seine Ansprüche auf Mindestlohn oder auf Sozialversicherungen verliert, ist leider nicht selten. Und in den tief qualifizierten Branchen des Dienstleistungssektors geht es schlicht darum, die Kosten weiter zu senken – mit Massnahmen wie Arbeit auf Abruf.

Welche Konsequenzen hat dies für Arbeiterinnen und Arbeiter?

Die Zahl der Temporärarbeiter, Beschäftigten auf Abruf oder Scheinselbstständigen ist in den letzten Jahren zum Teil exponentiell gestiegen. Besonders spektakulär ist diese Entwicklung in der Temporärarbeit: Die Anzahl vermittelter Arbeitsstunden hat sich in weniger als fünfzehn Jahren vervierfacht, während die befristeten Beschäftigungsverhältnisse seit dem Jahr 2000 um rund ein Viertel gewachsen sind – in der gleichen Zeitspanne ist die Zahl an unbefristeten Vollzeitstellen gesunken. Hinter diesen Statistiken verbergen sich zum Teil dramatische Konsequenzen für die Beschäftigten.

Zum Beispiel?

Zum Beispiel das Schicksal jenes Bauarbeiters, der nach rund dreissig Jahren im gleichen Betrieb entlassen wird und als 55-Jähriger nur noch über eine Temporärfirma wieder in den Arbeitsmarkt reinkommt. Nebst einem erheblichen Lohnverlust bringt das neue Anstellungsverhältnis auch die ständige Unsicherheit, ob der Einsatz verlängert wird. Ausgeschlossen wird der Mann ausserdem von bestimmten Weiterbildungsangeboten, Schutzmassnahmen vor Arbeitsunfällen und anderem mehr. Vor allem aber erleidet er auch einen schwierig zu bewältigenden Identitätsverlust: Als Temporärarbeiter ist man immer ein wenig der Fremde am Arbeitsplatz, der nicht wirklich zur Gruppe gehört.

Sie wenden sich gegen staatliche Interventionen in den Arbeitsmarkt. Warum?

Bildungspolitische Massnahmen wie die Bologna-Reform an den Hochschulen sollen junge Erwachsene auf Beschäftigungsfähigkeit trimmen. Tatsächlich ist es in der Folge für viele zur Normalität geworden, sich vor dem ersten richtigen Job durch unbezahlte Praktika kämpfen zu müssen. Parallel dazu bildet sich durch sogenannte Integrationsmassnahmen wie die 1000-Franken-Jobs nach und nach ein staatlich subventionierter prekärer Arbeitsmarkt heraus. Schliesslich haben sich mit den Änderungen der Aufenthaltsvergabepraxis für eingewanderte Arbeitskräfte auch die Konkurrenzverhältnisse gering qualifizierter Erwerbsgruppen verschärft.

Sind von der Prekarisierung vor allem diejenigen am unteren Rand der Gesellschaft betroffen?

Nein, es wäre falsch, das Phänomen der Prekarisierung auf die Idee zu reduzieren, dass mit dem Prekariat ein neues Proletariat am Entstehen sei. Ebenso falsch ist es, Prekarisierung auf einen Generaltrend zu reduzieren, durch den alle unaufhaltsam auf eine schiefe Ebene geraten. Beide Thesen führen meiner Meinung nach dazu, die Auswirkungen der Prekarisierung auf die soziale Ungleichheitsstruktur zu banalisieren. Entscheidend scheint mir, Prekarisierung nicht als einen Prozess von «oben» zu begreifen, der quasi auf die Betroffenen niedergeht. Vielmehr müssen auch die vielfältigen Anpassungsstrategien und Konkurrenzkämpfe der Beschäftigten in den Blick genommen werden. Denn durch sie werden jene Beschäftigten mit den schlechtesten Ausgangsvoraussetzungen immer mehr an den Rand gedrängt.

Können Sie diese Dynamik an einem Beispiel zeigen?

Heute stehen in den Tieflohnsektoren wie dem Gastgewerbe jüngere und überwiegend gut ausgebildete Arbeitskräfte älteren und tiefer qualifizierten Generationen gegenüber, die vor vielen Jahren eingewandert sind. Hier hat die Personenfreizügigkeit eine destabilisierende Rolle gespielt. Ein anderes Beispiel sind die Stammbelegschaften in der Industrie oder auf dem Bau: Sie sehen sich plötzlich mit jüngeren, flexibleren Beschäftigten konfrontiert, die für die Ausübung der gleichen Arbeit Arbeitsbedingungen in Kauf nehmen, die sie selbst kaum akzeptieren würden. Während die älteren lebenslang im Normalarbeitsverhältnis erwerbstätig waren und vollen Anspruch auf die soziale Sicherung erworben haben, kennen die jüngeren stabile Erwerbsverhältnisse nur vom Hörensagen und sehen in der prekären Beschäftigung das Versprechen auf neuartige Entwicklungsmöglichkeiten.

Was spielt sich da konkret ab?

Es geht vor allem um verschärfte Positionierungskämpfe. Denn heute arbeiten sogar im gleichen Betrieb Beschäftigte zu völlig unterschiedlichen Konditionen nebeneinander. Nehmen wir das Beispiel einer Baustelle: Hier streiten Grenzgänger und papierlose Einwanderer, Leiharbeiter und Scheinselbstständige, entsandte Hilfskräfte und einheimische Fachkräfte um Positionen, die in den letzten Jahren immer prekärer geworden sind. Während die einen ohne Aussicht auf ein sicheres Beschäftigungsverhältnis sind, betrachten andere die prekäre Arbeit als Phase des Übergangs in eine berufliche Konsolidierung und akzeptieren die daraus entstehenden Nachteile für eine bestimmte Zeit. Aus dieser Situation entstehen Interessenlagen und Bewältigungsstrategien, die so unterschiedlich sind wie die Erwerbsformen und Berufsverläufe selbst.

Wie sehen solche Bewältigungsstrategien aus?

Die einen versuchen sich über einen Zweit- oder Drittjob abzusichern, während andere den Konformitätsdruck gegenüber ihren Vorgesetzten verinnerlichen, was in manchen Fällen zu stressbedingten Krankheiten führt. Besonders beeindruckt hat mich die Erzählung eines jungen Ehepaars: Beide arbeiten Tag und Nacht als Vertragsfahrer, also als scheinselbstständige Chauffeure eines Transportbetriebs, und wechseln sich in quasi ununterbrochenen Schichten ab. Um nicht von der Sozialhilfe abhängig zu sein und ihre Kinder durchzubringen, lassen sie zu, dass jegliche gesetzlichen Gesundheitsvorschriften missachtet werden. Sie sind sich denn auch bewusst, dass ihre Körper das höchstens noch ein paar Jahre mitmachen – also gerade so lang, bis die Kinder gross sind.

Es scheint mir aber wichtig, zu betonen, dass es in der heutigen Arbeitswelt nicht nur individuelle Bewältigungsstrategien gibt. Die Arbeitsverhältnisse sind nach wie vor auch von Solidaritäten und kollektiven Abwehrstrategien geprägt. Dies wird besonders in Milieus deutlich, in denen bis heute die Tradition der Widerständigkeit weiterlebt.

Welche Folgerungen ziehen Sie aus Ihren Untersuchungen für Ihre eigene Arbeit als Gewerkschaftssekretär?

Gewerkschaftliche Politik muss heute defensiv und offensiv zugleich sein. Nebst gesetzlichen und gesamtarbeitsvertraglichen Massnahmen zur Sicherung prekärer Erwerbslagen müssen wir vor allem dafür sorgen, dass prekär Beschäftigte handlungsfähig bleiben. Dazu gehört die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns, wie es der Schweizerische Gewerkschaftsbund fordert. Oder die Einführung eines Kündigungsschutzes, der diesen Namen auch verdient. Ansonsten drohen – das haben die Genfer Kantonsratswahlen vergangenen Herbst gezeigt – fremdenfeindliche oder populistische Ressentiments gegenüber schwächeren Erwerbsgruppen aufzuflammen. Die Gewerkschaften haben die neuen sozialen Folgen und Spaltungen, die mit der Dynamik der Prekarisierung einhergehen, zu lange ignoriert.


Alessandro Pelizzari

Alessandro Pelizzari (36) ist Soziologe und Regionalsekretär bei der Unia in Genf. Er forscht und publiziert zu Themen rund um die Transformationen der Arbeitswelt in der Schweiz. 2009 ist bei der deutschen UVK Verlagsgesellschaft seine Dissertation «Dynamiken der Prekarisierung. Atypische Erwerbsverhältnisse und milieuspezifische Unsicherheitsbewältigung» erschienen. Soeben herausgekommen ist im gleichen Verlag der Sammelband «Ein halbes Leben. Biografische Zeugnisse aus einer Arbeitswelt im Umbruch», in dem Pelizzari einen Beitrag zu «Konkurrenz und Solidarität auf der Baustelle» geschrieben hat.