Fumoir: An der Langstrasse

Nr. 10 –

Esther Banz über das Arbeiten im Sitzen

Von meiner Wohnung aus habe ich zwei Möglichkeiten, um irgendwohin zu gelangen: entweder auf einer Pflastersteingasse zur Langstrasse oder in die andere Richtung ins Quartier rein. Gehe ich zur Langstrasse und überquere diese, komme ich an einem Altbauhaus mit schönem Ladenlokal vorbei – allerdings wird der Laden nicht als solcher genutzt, sondern es befinden sich darin Schreibtische mit Computern darauf.

Egal wie früh am Morgen ich da vorbeikomme: Meist sitzt an dem Tisch, der quer zum Schaufenster platziert ist, bereits eine junge Frau, ihre Augen konzentriert auf den Bildschirm gerichtet. Normalerweise ist die Frau ganz ernst, wenn sie vor diesem Bildschirm sitzt, aber eines Morgens, es war noch ganz dunkel draussen, lächelte sie. Ich ging ein paar Schritte weiter und konnte, ihr quasi über die Schulter blickend, erkennen, dass sie eine Tabelle studierte. Keinen Film, keine Zeichnung, keinen Brief – einfach nur ein elektronisches Blatt, darauf schnurgerade Linien, die Felder bildeten, und darin Buchstaben, die Wörter und Sätze ergaben.

Dass etwas aus der Distanz so nüchtern Wirkendes ganz offensichtlich das Herz eines Menschen bewegen konnte, kam mir in dem Moment recht seltsam vor. Klar, in der Tabelle wurden vielleicht Liebesgeschichten erzählt oder charmante Lebensweisheiten oder auch Witze. Oder die Betrachterin fühlte sich an etwas erinnert oder in einer Sache bestätigt – es gibt viele Möglichkeiten. Trotzdem. Ich ging weiter.

An der Langstrasse ist so vieles so explizit. Die Raufereien in der Nacht, morgens die Scherben von Wodkaflaschen und die Resten von Kebab auf dem Boden. Die Körper und die Moden und die Frauen und Männer, die sich nach einer langen, lauten Nacht schwankend Richtung Bahnhof davonmachen, so gut es eben geht – lachend oder heulend oder innehaltend, um sich zu übergeben oder an einen Baum zu pinkeln. Wenn sie das nicht schon in meiner Gasse getan haben.

Es wird immer mal wieder diskutiert, inwiefern die Umgebung auf die Menschen wirkt. Härtet oder stumpft die Langstrasse uns AnwohnerInnen gar ab? Kommt uns langsam, aber kontinuierlich der Sinn fürs Leise und Subtile abhanden? Gibt es deshalb von Jahr zu Jahr mehr Yoga- und Meditationsstudios im Quartier? Nichts da, sagt der Galerist um die Ecke, die Langstrasse habe seine eigenen Sinne vielmehr geschärft. Und die Frau vom Café findet, dass hier im Quartier stadtweit die angenehmste Temperatur herrsche, zwischenmenschlich, wie sie betont, nämlich «365 Tage im Jahr warm und heiter».

Als ich am nächsten Morgen wieder am Schaufenster vorbeikomme und die Frau vor ihrem Bildschirm sitzen sehe, nun wieder ernst, fällt mir auf, wie reglos sie ihre Arbeit verrichtet. Und dass das ja auf die meisten Menschen zutrifft, die am Computer sitzend arbeiten, ob sie nun etwas berechnen oder nach Informationen suchen oder ebensolche zu vermitteln versuchen.

Still, ja beinahe regungslos vollbringen wir unsere Taten, verbringen wir die Tage, tragen wir zum Bruttoinlandsprodukt bei, schaffen wir Wert. Vielleicht greifen wir dabei zwischendurch zum Telefonhörer. Aber seit es die E-Mail gibt, ist es in den Büros und Ateliers noch viel ruhiger und statischer geworden. Auch vermögen die Computertastaturen nicht mitzuhalten mit den schreibbedingten Emissionen von früher, von den Schreibmaschinen. Das verleiht dieser Art von Arbeit etwas Gespenstisches oder zumindest Intransparentes. Deshalb mag ich es gerne, wenn Menschen vor dem Bildschirm sitzend wenigstens lächeln – auch wenn sie dabei nur Tabellen studieren.

Esther Banz ist freie Journalistin in Zürich.