Durch den Monat mit Helen Keller (Teil 3): Sind die Attentäter zu Recht erschossen worden?

Nr. 4 –

Die Strassburger Menschenrechtsrichterin sagt, was im Umgang mit der Meinungsfreiheit zu beachten ist und dass Erschiessungen durch die Polizei nur als letztes Mittel menschenrechtlich vertretbar sind.

Helen Keller in ihrem Büro in Strassburg: «In der öffentlichen Debatte sind wir über den Konsens von ‹Je suis Charlie› noch nicht hinausgekommen.»

WOZ: Frau Keller, alle diskutieren in diesen Tagen über Meinungsfreiheit. Sie ist in Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert. Wenn Sie in Strassburg entscheiden müssten, ob die «Charlie Hebdo»-Karikaturen von Mohammed die Rechte von Muslimen verletzen, wie würden Sie entscheiden?
Helen Keller: Ich weiss es nicht. Spontan kommt mir da ein Urteil von 1994 in den Sinn, in dem es um den österreichischen Film «Liebeskonzil» ging, eine antikatholische Satire, in der Jesus und Maria Zeugen von Sexorgien werden. Da geht es um ähnliche Fragen wie bei den Mohammed-Karikaturen. Die Vorführung des Films wurde damals von den österreichischen Behörden verboten. Der Menschenrechtsgerichtshof stützte diesen Entscheid, da der Film die religiösen Gefühle von Katholiken verletze. Aber das ist zwanzig Jahre her, ich bin nicht sicher, ob man das heute auch noch so sähe.

Weshalb?
Der Kontext, in dem eine bestimmte Aussage gemacht wird, ist sehr wichtig. Holocaustleugnung wurde zum Beispiel über lange Jahre sehr strikt sanktioniert. In Deutschland war auch eine indirekte Holocaustleugnung schlicht tabu. Heute sieht man das nicht mehr ganz so eng, weil der zeitliche Abstand zum Holocaust grösser ist.

Aber müssen religiöse Minderheiten nicht speziell geschützt werden?
Doch, grundsätzlich schon, aber der Glaube schützt nicht davor, dass man sich mit anderen Meinungen auseinandersetzen muss. Wenn die religiösen Gefühle von Gläubigen verletzt werden, die im betroffenen Staat eine grosse Minderheit bilden, liegt ein Fall zudem anders, als wenn es sich um eine kleine Gruppe handelt. Das Argument, der Staat wolle den öffentlichen Frieden sichern, wird gewichtiger, wenn es um eine grosse Minderheit geht. Die Umstände des Einzelfalls sind bei Artikel 10 oft ausschlaggebend.

Die Ereignisse in Paris vom 7. und 8. Januar bedrohten nicht nur die Meinungsfreiheit, sondern auch den Rechtsstaat: Die mutmasslichen Attentäter wurden von der Pariser Polizei erschossen, sie können nicht mehr vor Gericht gestellt werden. Bedauern Sie das als Richterin?
Die Erschiessung eines Menschen durch die Polizei ist immer nur als Ultima Ratio menschenrechtskonform. Die Justiz kam bis jetzt im Pariser Fall allerdings noch gar nicht zum Zug. Nur die Exekutive mit ihrem verlängerten Arm, der Polizei, war in Aktion. In der öffentlichen Debatte sind wir über den Konsens von «Je suis Charlie» noch nicht hinausgekommen. Eine vertiefte Diskussion muss noch stattfinden.

Finden Sie diesen Konsens nicht beängstigend? Ihre Arbeit als Richterin basiert ja immer auf irgendeiner Art von gesellschaftlichem Dissens.
Gerade die vielen Fälle am EGMR zur Meinungsäusserungsfreiheit zeigen in der Tat, dass wir uns gar nicht einig sind. Auch innerhalb dieses Gerichtshofs nicht. Oder denken Sie an den französischen Komiker Dieudonné: In verschiedenen französischen Städten darf er wegen antisemitischer Äusserungen nicht mehr auftreten. Letzte Woche wurde er in Frankreich wegen «Verherrlichung des Terrorismus» sogar vorübergehend in Haft genommen. In der Romandie tritt er immer noch auf.

Ist nicht jeder tote Zeuge eines Verbrechens ein Toter zu viel, egal ob Täter oder Opfer? Mit jedem Toten stirbt doch auch ein Wissen über ein Verbrechen.
Ich kann zum aktuellen Fall nichts sagen. Nur so viel: Als Usama Bin Laden 2011 in Pakistan von amerikanischen Soldaten erschossen wurde, schrieb ich im «Tages-Anzeiger», dass es gemäss internationalen Standards sofort eine unabhängige Untersuchung der US-Kommandoaktion brauche. Insbesondere die Verhältnismässigkeit des Schusswaffengebrauchs müsse überprüft werden. Damals war ich noch Mitglied des Menschenrechtsausschusses der Uno. Der zuständige UN-Sonderberichterstatter bestätigte diese Sichtweise ein paar Tage später. In der Strassburger Rechtsprechung – Artikel 2, Recht auf Leben – wird in solchen Fällen ein sehr strenger Massstab angelegt.

Bisher hat es diese unabhängige Untersuchung der «Operation Neptune’s Spear» nicht gegeben.
Nein. Hier gilt das alte Sprichwort: Wo kein Kläger, da kein Richter. Eine unabhängige Untersuchung wird wohl nur stattfinden, wenn sie jemand verlangt. Und wer hat schon den Mut, die Position von schrecklichen Attentätern einzunehmen und zu fragen: Sind sie zu Recht erschossen worden oder nicht?

Um das zu fragen, muss man doch nicht Partei für die Attentäter ergreifen. Man kann einfach sagen: Je mehr die rechtsstaatliche Ordnung durch den Terror infrage gestellt wird, desto konsequenter muss sie verteidigt werden.
Da bin ich mit Ihnen einverstanden. Aber Sie werden auch mir recht geben, dass jemand, der in diese Richtung die Stimme erhebt, Gefahr läuft, als Nestbeschmutzer hingestellt zu werden. Die schlimmsten E-Mails in meiner Karriere habe ich nach jenem Artikel zur Tötung Bin Ladens bekommen.

Nächste Woche wird in Strassburg der Fall 
des vom Bundesgericht verurteilten türkischen Genozidleugners Dogu Perincek verhandelt. Richterin Helen Keller wird dann unter anderen Anwältin Amal Clooney anhören, die die armenische Seite vertritt.