Testen, messen, kontrollieren: Der gewünschte Output in der gesetzten Zeit

Nr. 38 –

Seit sich die Ökonomie mit Kennzahlen und Performancemessung in das Bildungswesen frisst, wird Anpassung immer mehr zur Schlüsselkompetenz.

Big Data hat auch die Bildungsforschung erreicht. Es überschwemmt Europa mit Diagnosen, Analysen, Prognosen. Die wachsenden Datensilos und elaborierten statistischen Methoden beflügeln eine «evidenzbasierte» Erziehungswissenschaft in ihrem Vorhaben, Bildung nun endlich auf ein robustes Fundament von Daten und Zahlen zu stellen. Um Daten zu generieren, muss man testen. Das war in der Schule – neben Labor, Fabrik oder Kaserne – immer so. Wer in Form sein will, muss einem Testformat genügen. Wahres Leben ist getestetes Leben. Es gehört längst zu den Binsenwahrheiten des pädagogischen Alltags, dass die Schule sich vor den meisten SchülerInnen als Hürdenlauf von Examen aufbaut. Wir alle kennen die didaktische Bulimie, der wir uns zu diesem Zweck unterziehen. Aber nicht nur in der Schule, in der Gesellschaft generell zeigt sich eine Testmanie, die uns nachdenklich stimmen sollte.

Der Grundparameter jeglicher Leistungsmessung ist die Zeit. Eigentlich testet man in einer Prüfung eher das Problemlösetempo als das Verständnis. Mir ist als Mathematiklehrer immer wieder aufgefallen, dass bestimmte Schülerinnen und Schüler durchaus fähig sind, ein Problem zu verstehen, es in mathematische Sprache zu übersetzen und einen Lösungsweg zu erarbeiten; nur erreichen sie das Resultat nicht – sie sind langsame Brüter. Man befindet sich dann als Lehrer in einer Zwickmühle. Die Anlagen zur Lösung sind da, sie werden aber durch eine gleichmacherische Zeitklappe an ihrer Entfaltung gehindert.

Es gibt im Besonderen die notorisch «sperrigen» ProblemlöserInnen, die eigenwillige, oft recht gewundene Wege einschlagen und sich dann verheddern und verirren. Wenn der Lehrer nach einer vielleicht schon beträchtlichen Menge an korrigierten Arbeiten, ermüdet und zunehmend genervt, solchen Wegen folgen soll, dann geschieht es leicht, dass er «keine Zeit» mehr hat und die Aufgabe als falsch oder nur teilweise gelöst bewertet, um dann vielleicht von einem entspannteren gegenkorrigierenden Kollegen darauf aufmerksam gemacht zu werden, dass man es hier ja mit einem ganz originellen Gedankengang zu tun habe.

Äpfel und Birnen

Kann man Bildung messen? Man kann alles messen, vorausgesetzt, ein Merkmal lässt sich mittels geeigneter Definition auf einer Zahlenskala abbilden. Messen heisst Qualitätsreduktion. Vor mir steht ein Korb voller verschiedener Früchte. Jede Frucht ein Individuum mit besonderen Qualitäten. Nehmen wir an, uns stünde nur ein Messverfahren zur Verfügung, nämlich eine Waage. Mit dem Gewicht führe ich eine Kategorisierung im Korb ein. Ich kann nun die Früchte nach einem einzigen Kriterium sortieren, buchstäblich Äpfel mit Birnen vergleichen. Und ich tue das vor allem, wenn ich an einer statistischen Charakterisierung des Korbinhalts interessiert bin.

Nehmen wir nun an, wir hätten einen «Korb» SchülerInnen vor uns, bei denen wir einen bestimmten Test über den IQ durchführen. Wir bilden also das, was uns PsychologInnen als Intelligenz definieren, auf einer Skala ab; und wir können mit den IQ-Werten eine statistische Verteilung aufstellen, die meist drei Hauptkategorien definiert: die «Normalen», die «Guten» und die «Schlechten» (Analoges geschieht heute auch mit Kranken und StraftäterInnen). Die implizite Frage im Hintergrund ist stets, wozu eine statistische Charakterisierung verwendet werden soll. Alles scheinbar neutrale quantitative Vergleichen hängt vom Standpunkt eines Dritten ab, vom Standpunkt der Bildungsingenieurin, des Lehrers, der Personalchefin.

Natürlich werden die meisten Menschen intuitiv einwenden, dass Zahlen nicht «alles» sagen, da sie ja vom Test abhängen. Das ist richtig. Es kommt sehr darauf an, wer das «alles» definiert. Das tun heute mächtige Wirtschaftsorganisationen wie die OECD: «Wir messen Produktivität und weltweite Waren- und Finanzströme. Wir analysieren und vergleichen Daten, um Trends vorauszusagen. Und wir setzen internationale Standards – in der Landwirtschaft, in der Steuerpolitik oder bei der Sicherheit von Chemikalien.» Oder eben: in der Bildung.

Lebens- statt Schulnoten

Die Schule war schon immer eine Anstalt der Anpassung an eine Messgrösse: die Note. Pisa treibt die Benotung ins Extrem. Nun passen sich ganze Schulen dem Diktat eines internationalen Bewertungssystems an. Noten schaffen Klarheit, sagen die einen; eben gerade nicht, sagen die anderen. Seit Jahrzehnten schwelt der Konflikt unter Lehrpersonen, Eltern, Erziehungswissenschaftlerinnen und Psychologen über Sinn und Effekt der Benotung. Schon der Schöpfer des Kompetenzbegriffs – der Psychologe David McClelland – forderte vor vierzig Jahren nicht Schulnoten, sondern Lebensnoten.

Ich kann hier auf eine Erfahrung zurückgreifen, die ich Ende der achtziger Jahre in einem Schulversuch am Lehrerseminar Marzili Bern gemacht habe. Notenfreie Beurteilungsmethoden wurden erprobt. Es gab BefürworterInnen und GegnerInnen in der LehrerInnenschaft; es gab erwartungsgemäss auch grosse Differenzen zwischen den Fächern. Die notenfreie Beurteilung stellte sich als oft mühsam und zeitaufwendig heraus, sie bestand etwa im Abhaken eines Kriterienkatalogs; zudem hatten die SchülerInnen die Möglichkeit, sich selbst zu beurteilen.

Die Beurteilung des Lehrers kollidierte mehr als einmal mit dem Feedback des Schülers, was oft zu unbefriedigenden Pattsituationen oder dann letztlich wiederum zu einem «Machtspruch» der Fachautorität führte. Anspruch des Lehrers und Antwort des Schülers standen in einem – pädagogisch wahrscheinlich unaufhebbaren – asymmetrischen Verhältnis.

Was ich aufs Ganze gesehen trotzdem positiv in Erinnerung behalte, ist ein «experimenteller» Wille zur Erweiterung des Fragehorizonts seitens der LehrerInnen. Eine Schülerin konnte zum Beispiel ihre Physikkenntnisse demonstrieren, nicht indem sie Standardaufgaben löste, sondern indem sie ein Referat zu einem Thema aus dem Alltag oder aus der Geschichte hielt oder einen Essay schrieb. Es war oft erstaunlich, welch ein Verständnis sich in diesen Formaten ausdrückte – und damals existierten Wikipedia und Google notabene noch nicht.

Kurz, nicht das Notensystem und andere quantitative Beurteilungsverfahren sind das Problem, sondern das Menschenbild dahinter. Das Bildungskonzept der OECD lässt da keine Zweifel aufkommen. Es spricht von der Erziehung als «wirtschaftlicher Investition» in den Menschen; vom «Produktionsfaktor Lehrer» und dem «Rohmaterial Schüler». Bereits 1961 formulierte der Bericht der OECD-Konferenz in Washington unverblümt: «Heute versteht es sich von selbst, dass auch das Erziehungswesen in den Komplex der Wirtschaft gehört, dass es genauso notwendig ist, Menschen für die Wirtschaft vorzubereiten wie Sachgüter und Maschinen. Das Erziehungswesen steht nun gleichwertig neben Autobahnen, Stahlwerken und Kunstdüngerfabriken.»

Anpassung ist die Schlüsselkompetenz. Insofern erfährt der Wissensbegriff eine verkappte Umdeutung in Richtung Nutzen und Anwendung. Das leistet der Begriff der Kompetenz. Etwas wissen heisst nun nicht mehr wissen, warum etwas so ist oder was der Sinn von etwas ist, sondern in gesetzter Zeit aus einem bestimmten Input einen gewünschten Output generieren. Der französische Philosoph Jean-François Lyotard bezeichnete das vor drei Jahrzehnten in seinem Buch «Das postmoderne Wissen» als «Performativität»: Wissen heisst, etwas «performen» können in den Arenen des Wettbewerbs. Performances sind sichtbares, testbares, messbares Handeln (im Französischen wird Kompetenz als «performance» bezeichnet). Was nicht selten heisst: so tun als ob.

Prüfender Zugriff auf das Innere

Bildung fragt immer auch: Wer bist du? Kompetenz dagegen fragt: Was lässt sich dir antrainieren und an dir testen? Der am heute massgebenden Kompetenzbegriff beteiligte Psychologe Franz E. Weinert definiert Kompetenz als «die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften (…), um Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.»

Man muss genau hinhören. Kompetenz als «Bereitschaft» bedeutet: Man will auch den prüfenden Zugriff auf das Innere – auf Beweggründe, Absichten, Sozialverhalten – von Individuen haben, um es völlig unterschiedlichen Bedingungen anpassen zu können. Ganz nach dieser Logik schreibt zum Beispiel das Landesinstitut für Schulentwicklung Baden-Württemberg, dass sich «der Fokus von Bildung im Humboldtschen Sinne von der individuellen intellektuellen Entwicklung zu den jeweiligen Kontexten (verschiebt), in denen eine Person kompetent agieren können sollte. Der jeweilige Kontext schafft einen neuen Bezugsrahmen: Die ‹Outputorientierung von Lernprozessen› steht von nun an im Zentrum des Bildungsbegriffs.» Und mit der Outputorientierung natürlich auch die Formbarkeit des Individuums nach den Kriterien immer kurzfristigerer Beschäftigungsverhältnisse.

Was nicht verwundert, denn die neue Bildungsökonomie ist im Wesentlichen Betriebsökonomie. Die Weltbank definiert Outputorientierung klar. Sie bedeutet, «dass Prioritäten in der Bildung bestimmt werden durch eine wirtschaftliche Analyse, das Setzen von Standards und die Messung, ob die Standards erreicht worden sind». Bildung erschöpft sich so in Ergebniserwartungen – Standards – und deren Messung – Evaluation. Getestetes und «Belohntes» zählen, Outputfaktoren wie AbsolventInnenzahlen, Auslastungsquoten, Rankings. Betrieb, Psychologie und Pädagogik verschmelzen zu einem einzigen Anwendungskomplex.

Kompetent ist, wer seinen Job erledigt. Kompetenz wird zum Kapital und der Kompetenztest zu einem neuen Absatzmarkt. Nicht nur geistert in den Bildungstheorien die unselige Gleichung «Ich = mein Humankapital» herum. Ein Handbuch aus dem Jahr 2007 stellt fest: «Das Kompetenzkapital eines Unternehmens oder gar eines Landes (entscheidet) über seine Wettbewerbsfähigkeit im europäischen und globalen Massstab.»

Möglichst inhaltsfreie Kompetenz

Um einem Missverständnis zu begegnen: Zur Debatte stehen nicht Kompetenzen, sondern der ganze Wandel vom inhaltsorientierten zum kompetenzorientierten pädagogischen Kosmos, der von einer offensiven Ideologie mobilisiert wird. Dieser Wandel ist kein rein pädagogisches Ereignis, sondern ein sozial- und kulturpolitisches. Im Kern steckt die Grundthese: Kompetenz lässt sich von der Sache, vom Fach ablösen; der Inhalt ist sekundär, die Kompetenz primär.

Etwas boshafter formuliert: Auf möglichst inhaltsfreie Kompetenz kommt es an. Oder sarkastischer, mit dem Erziehungswissenschaftler Volker Ladenthin gesprochen: «Ein Trainingslager der Neonazis ist unter kompetenztheoretischen Gesichtspunkten von einer Ausbildung in der Altenpflege nicht zu unterscheiden.»

Gerade diese Vorherrschaft ruft nach einer Gegenbewegung, die sich an die These hält: In der Bildung geht es immer um Inhalte, nicht um Kompetenzen; um mathematische Gleichungen, literarische Texte, historische Zusammenhänge. Anders gesagt: Wenn sich meine Motivation und Lust erst einmal an einer Sache entzündet haben – an der Gleichung, am Text, am historischen Dokument –, dann werde ich mit grosser Wahrscheinlichkeit auch selber erkennen, welche Kompetenzen nötig sind, um damit erfolgreich und – im Idealfall – erkenntnisbringend umzugehen.

Man unterrichtet nicht «sprachmotorische Kompetenz», sondern Deutsch, und dabei bildet sich normalerweise die Kompetenz von selbst heraus, im Dreieck Lehrer-Schülerin-Sache. Es ist dem Lehrplan 21 zugutezuhalten, dass er – obwohl auch er sich der Kompetenzorientierung verpflichtet – dies explizit festhält: «Die dem Lehrplan zugrunde liegende Idee der Kompetenzorientierung bedeutet keine Abkehr von einer tief verstandenen fachlichen Wissens- und Kulturbildung, sondern im Gegenteil deren Verstärkung und Festigung durch ein auf Verständnis, Wissensnutzung und Können hin orientiertes Bildungsverständnis.»

Beherzte Worte. Ob sie sich gegen die Messerei und Testerei durchsetzen werden, bleibt abzuwarten. Die Bildungsmaschine kommt auf Touren. «Die zunehmende Bürokratisierung des Schulsystems führt dazu, dass das ursprüngliche Ziel der Effizienzsteigerung nicht nur in Frage gestellt wird, sondern sich sogar ins Gegenteil verkehrt», stellt eine Schweizer Studie («Ist unsere Schule noch zeitgemäss und artgerecht?») aus dem Jahr 2009 fest. «Immer mehr Geld geht in Strukturmassnahmen, Verwaltungs- und Koordinationsarbeit, immer weniger bleibt für das Kerngeschäft, die Arbeit mit den Schülerinnen und Schülern übrig.»

Man möchte vor diesem Hintergrund den LehrerInnen von heute mit Günter Eich zurufen: Seid Sand, nicht das Öl im Getriebe der Bildungsmaschine.

Der Physiker, Philosoph und Buchautor Eduard Kaeser war früher Gymnasiallehrer in Bern.