Türkei: Die Zukunft ist ungewiss

Nr. 45 –

Präsident Erdogans Angstwahlkampf hat sich ausgezahlt. Das verheisst nichts Gutes – weder für die Flüchtlinge noch für den Syrienkrieg.

«Wenn Wahlen etwas bewirken würden, wären sie verboten», soll Kurt Tucholsky einmal gesagt haben. Der Sieg von Präsident Recep Tayyip Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) deutet den viel zitierten Satz um. Die Neuwahlen vom vergangenen Sonntag konnten nur stattfinden, weil sie etwas bewirken sollten: den «Fehler vom Juni korrigieren», wie der Präsident selbst erklärt hatte. Dieser «Fehler» war der Triumph der prokurdischen HDP, die aus dem Stand mehr als zwölf Prozent der Stimmen holte. Und der «Fehler» war die Niederlage der AKP, die ihre absolute Mehrheit im Parlament verlor.

Seitdem hat sich in der Türkei einiges verändert. Knapp 150 Menschen kamen bei drei Terroranschlägen ums Leben, die meisten von ihnen KurdInnen. Hinter den Anschlägen steckt vielleicht der Islamische Staat (IS). Die politische Verantwortung trägt jedoch die AKP. Sie hatte sich der Terrormiliz in den letzten Monaten höchstens symbolisch in den Weg gestellt.

Statt gegen den IS kämpfte Erdogan lieber gegen die verbotene kurdische Arbeiterpartei PKK. Und er unternahm alles, um die HDP als deren «verlängerten Arm» zu diskreditieren. Auch die PKK griff in den letzten Monaten zu den Waffen und machte so der HDP zusätzlich das Leben schwer. Die zuvor mühsam erarbeitete Annäherung an die KurdInnen wich einem mehrmonatigen Ausnahmezustand. Erdogan führte derweil seinen Feldzug gegen oppositionelle Medien fort, liess Fernsehsender kapern und Zeitungen «auf Linie bringen». Er polarisierte die bereits gespaltene Bevölkerung weiter. Und kultivierte mithilfe der staatsnahen Medien eine paranoide Erzählung voller verschwörerischer Feinde, die es auf die Türkei abgesehen hätten.

Der Präsident hatte das Chaos selbst gesät – und präsentierte seine AKP dann als Stabilitätsanker. Dieses zynische Kalkül hielt 49,4 Prozent der WählerInnen nicht davon ab, die AKP zu wählen: Sie holte 317 der 550 Parlamentssitze und erhielt die absolute Mehrheit zurück. Die Wahl vom Juni sei ein Ausreisser und nicht die Regel gewesen, sagt der britische Türkeiexperte Gareth Jenkins, der seit 26 Jahren in Istanbul lebt. «Traditionell wählt ein Grossteil der Türken Mitte-rechts oder rechts – die AKP ist erfolgreich, weil keine andere Partei dieses Feld bedient.»

So lässt sich auch erklären, dass vor allem die ultranationalistische MHP massiv verloren, sich ihre Sitzzahl halbiert hat. Ankaras Verhandlungen mit der PKK hatten der Partei im Juni Millionen WählerInnenstimmen beschert. Nach Monaten aggressiver Rhetorik kehrten diese WählerInnen zur AKP zurück.

Manipulation war vorher

Zu den nominellen Verlierern zählt neben der MHP auch die prokurdische HDP. Sie büsste eine Million Stimmen ein und schaffte den Einzug ins Parlament nur noch knapp. Ihr Dilemma lässt sich wohl nirgendwo deutlicher ablesen als an den Ergebnissen in Diyarbakir: Allein in ihrer Hochburg verlor die HDP sieben Prozent der Stimmen an die AKP.

Wirklich demokratisch seien die Wahlen nicht gewesen, schreibt Andreas Gross auf Anfrage. Der abtretende SP-Nationalrat war im Auftrag des Europarats als Wahlbeobachter in der Türkei. «Diese Wahlen waren zwar frei, weil sich Parteien aus dem ganzen politischen Spektrum zur Wahl stellten. Die letzten fünf Wochen waren aber so sehr von Gewalt, Aggression, Einschüchterung und Angst geprägt, dass von fairen Bedingungen für den Wettbewerb und die Meinungsbildung keine Rede sein kann», so Gross.

Ähnliches hatte die HDP selbst nach der Bekanntgabe der Wahlergebnisse erklärt. Manche werfen der Partei jedoch vor, sich in den letzten Monaten nicht laut genug von der PKK distanziert zu haben. Egal ob dieser Vorwurf stimmt: Tatsache ist, dass auch KurdInnen, vor allem die konservativ eingestellten, am Sonntag die AKP wählten. Diese hatte es gar nicht nötig, die Wahlen zu manipulieren, um die absolute Mehrheit zu erlangen. Die eigentliche Manipulation des WählerInnenwillens war Erdogans ganzer Angstwahlkampf der vergangenen Monate.

Zwischen Angst und Hoffnung

Was bedeutet der klare Sieg der AKP für die HDP? «Dass sie zum zweiten Mal innerhalb weniger Monate die unselige Zehnprozenthürde überhaupt geschafft hat, ist grundsätzlich eine grosse Quelle von Hoffnung», schreibt Andreas Gross. Ähnlich optimistisch blickt Parteikollege Mustafa Atici in die Zukunft. Der Vizepräsident der SP Basel-Stadt unterstützt – wie knapp 50 Prozent der türkischen BürgerInnen in der Schweiz – die HDP. Für ihn seien die 10,6 Prozent der WählerInnenstimmen ein «riesiger Erfolg». «Ich hoffe, dass die HDP ihren friedlichen Kurs fortsetzt», sagt er.

Bei allem Optimismus: Der AKP-Konfrontationskurs gegenüber den KurdInnen wird sich kaum entspannen. «Warum sollte Erdogan seine aggressive Rhetorik gegenüber den Kurden ändern?», so Türkeikenner Jenkins. Schliesslich habe er damit Erfolg gehabt. Wie wichtig der Friedensprozess mit den KurdInnen für die Türkei ist, sei Ankara zudem auch weiterhin nicht klar, glaubt Jenkins.

Sollte Erdogan diese Dringlichkeit nicht erkennen, wird die Lage weiter eskalieren. Und auch die Reaktion der PKK ist schwer einzuschätzen. Während der Wintermonate werden die Angriffe vermutlich zurückgehen, glaubt Jenkins. Was danach passiert – das wisse niemand.

Hoher Preis für die EU

Derweil dürfte der Wahlausgang auch Brüssel Sorgen bereiten. Um den Flüchtlingstreck nach Europa aufzuhalten, ist die EU auf den Schlüsselstaat Türkei angewiesen. Das wusste auch Bundeskanzlerin Angela Merkel, als sie im Oktober nach Istanbul reiste und so Wahlkampfhilfe für die AKP leistete. Nebenbei sicherte sie Erdogan im Gegenzug für seine Unterstützung in der Flüchtlingsabwehr Visaerleichterungen und Finanzhilfen zu. Und die EU hielt einen kritischen Kommissionsbericht zurück, um Erdogan und die AKP vor den Wahlen nicht zu verärgern.

Dabei dürfte Erdogan schon lange klar sein, wie weit es mit den «europäischen Werten» her ist, wenn es um die Interessen der EU geht. Ähnliches hatte auch schon der Umgang mit Libyens Machthaber Muammar al-Gaddafi gezeigt: Vor seinem Sturz entlöhnte die EU ihn fürstlich dafür, afrikanische Flüchtlinge vom europäischen Festland fernzuhalten. Der Preis, den sie Erdogan für die Flüchtlingsabwehr in Zukunft zahlen müsste, ist seit dem Wahlsieg zusammen mit der Macht der AKP gestiegen.

Wahrscheinlich wird Ankara dazu sowieso kaum in der Lage sein. «Die EU kann gar nicht genug Zugeständnisse machen, um den Flüchtlingstreck aufzuhalten», glaubt Jenkins. Kommen, wie anzunehmen ist, mehr Flüchtlinge in die Türkei, werden dort die sozialen Spannungen steigen, und der Deal könnte obsolet werden.

Neue Spannungen

Auch deshalb drängt die Türkei auf Schutzzonen im Norden Syriens; am liebsten wäre ihr eine Flugverbotszone. Statt die Grenze zum Nachbarland zu überschreiten, würden die Flüchtlinge so in Syrien selbst unterkommen. Zugleich wird die AKP kaum bereit sein, ihre Politik – etwa den syrischen KurdInnen gegenüber, deren Stellungen sie bombardiert – aufzugeben. «Mit den USA wie auch mit Russland dürfte es neue Spannungen geben», prognostiziert Jenkins. Mit den USA, weil diese die KurdInnen unterstützen und Eliteeinheiten auf ihrem Gebiet stationieren wollen. Und mit Russland, weil Präsident Wladimir Putin an Syriens Machthaber Baschar al-Assad festhält. Viele türkische Warenexporte laufen zudem über russisches Territorium; Spannungen mit Moskau würden also auch die türkische Wirtschaft treffen.

In welche Richtung sich die geopolitisch immens wichtige Türkei entwickelt, ist schwer vorherzusehen. Eines ist jedoch sicher: Seine Allmachtsfantasien wird der Präsident kaum aufgeben. Vermutlich wird die angestrebte Verfassungsänderung, die Erdogan noch mehr Macht einräumen soll, nicht so bald umzusetzen sein. Da Erdogan bereits heute nach Belieben regiert, dürfte diese Formalie jedoch kaum relevant sein. Faktisch sei die Türkei sowieso schon ein Präsidialsystem, hatte Erdogan 2014 selbst öffentlich erklärt. Und auch sein Ziel hat er mehrfach formuliert: 2023 – wenn die türkische Republik ihren 100. Geburtstag feiern wird – immer noch der mächtigste Mann des Landes zu sein.

Einen möglichen Vorgeschmack auf Ankaras künftigen Kurs lieferten die vergangenen Tage: Das Militär bombardierte weiterhin Stellungen der PKK. Und ein Gericht ging gegen das regierungskritische Magazin «Nokta» vor. Das Blatt hatte den Wahlausgang mit einem Bild von Erdogan und folgender Schlagzeile kommentiert: «Montag, 2. November: Beginn des türkischen Bürgerkriegs».