Russische Justiz: Schauprozesse im Sinne der Angeklagten

Nr. 33 –

Als Strafverteidiger von Pussy Riot machte er sich einen Namen. Heute gilt Mark Feygin als Spezialist für politische Auseinandersetzungen zwischen der Ukraine und Russland.

Die junge Frau hinter Gittern klettert auf die Sitzbank und streckt den Mittelfinger aus. «Ich erkenne weder die Schuld noch das Urteil des russischen Gerichts an», ruft sie in den Saal. Als sich die Richter und Anwälte erheben, stimmt sie lauthals die ukrainische Hymne an.

Polternde Exzentrik ist üblicherweise keine Eigenschaft, die Angeklagten vor Gericht hilft. Doch beim Fall der Kampfpilotin Nadja Sawtschenko wurde sie zum Kalkül: das Bild der aufrechten Patriotin, die Wladimir Putin einen Lügner und Verbrecher schilt. «Eine Jeanne d’Arc der Ukraine» nannte sie die «Financial Times». Mark Feygin hat massgeblich an diesem Drehbuch mitgeschrieben. Der russische Anwalt hat Sawtschenko vor Gericht verteidigt – und geholfen, sie als Galionsfigur gegen Russlands Unrechtsjustiz zu inszenieren. Sie wurde zwar im März 2016 zu 22 Jahren Haft verurteilt, wenig später jedoch wieder freigelassen. Auch auf Druck der Öffentlichkeit, ist der Jurist überzeugt.

Auch Feygin selbst steht gerne im Mittelpunkt. Jahrgang 1971, bullig und mit Stoppelfrisur, ist er mit der Perestroika aufgewachsen und sass ab 1994 für die liberale Partei Wybor Rossii (Russlands Wahl) in der Staatsduma; als jüngster Abgeordneter mit 22 Jahren – ein Rekord, den er bis heute hält. Dass er kurze Zeit auch an der Seite des serbisch-bosnischen Generals Ratko Mladic im Bosnienkrieg kämpfte, gehört zu den Dingen, über die Feygin nicht so gerne spricht. Bevor er sich auf politische Gerichtsfälle spezialisierte, war er Vizebürgermeister seiner Heimatstadt Samara in Südrussland. «Das ist das Ende des Regimes!», rief Feygin bei den Moskauer Winterprotesten 2011/12, die sich an Wahlfälschungen entzündet hatten, von der RednerInnenbühne.

Rettung durch Öffentlichkeit

Der Fall Sawtschenko war der Auftakt zu einer Reihe heikler Mandate mit Bezug zur Ukraine. Derzeit verteidigt er Ilmi Umerow, einen der bekanntesten Politiker der KrimtatarInnen. Wie viele der 250 000 Personen starken Volksgruppe auf der Halbinsel gilt dieser als erbitterter Gegner der russischen Annexion. In einem Interview hatte Umerow gesagt, die Krim bleibe Teil der Ukraine – laut russischer Justiz ein Verstoss gegen den «Separatismusparagrafen».

Juristisch gelten die Fälle als aussichtslos. Einen Freispruch gibt es in weniger als einem Prozent, bei politischen Prozessen sind die Chancen gleich null. Laut Freedom House gehört Russland punkto Rechtssicherheit zu den unfreisten Ländern. Wie arbeitet man als Strafverteidiger, wenn der Schuldspruch oft nur Formsache ist? Lange vor der Ukrainekrise wurde für Feygin ein Prozess zum Muster: Drei Aktivistinnen von Pussy Riot waren 2012 wegen Rowdytum angeklagt worden, als sie in einer Moskauer Kirche ein «Punkgebet» gegen Putin aufführten. Während sie zunächst abstritten, dort gewesen zu sein, änderte das Anwaltsteam um Feygin später die Strategie: «Nicht das Gericht, sondern die Öffentlichkeit wird euch retten», soll Feygin ihnen gesagt haben.

Wenngleich der Prozess mit einem Zerwürfnis zwischen den Angeklagten und dem Anwalt endete, wurde der Fall so bekannt, dass sich sogar Stars wie Madonna mit Pussy Riot solidarisierten. Die Aktivistinnen wurden zu zwei statt der geforderten sieben Jahre Arbeitslager verurteilt.

Ein Schauprozess im Sinne der Angeklagten, um Verfahrensfehler und Absurditäten aufzuzeigen, so kompromisslos, politisch und öffentlich wie möglich – die Formel gilt für Feygin noch heute: «Wir hoffen, dass wir viel Aufmerksamkeit bekommen, um die Repressionen gegen die Krimtataren zu beenden», sagt er über den Fall von Ilmi Umerow. Ob die Taktik auch diesmal aufgeht, ist unklar. Videoaufnahmen aus dem Gerichtssaal sind verboten, die Krim ist aus den Schlagzeilen verschwunden. Das Urteil wird für September erwartet.

«Horror, Trash, Politik»

«Politische Fälle in die Öffentlichkeit zu tragen, ist der richtige Weg – allerdings mit Bedacht, ohne den Aktivisten zu schaden», sagt Oleg Besnizko, juristischer Leiter der NGO Für Menschenrechte. Gerade dieser Punkt hat Feygin Kritik eingebracht: Kampfpilotin Sawtschenko etwa wurde während des Prozesses in ihrer Heimat zur Nationalheldin überhöht. Als sie vor einem Jahr freikam, handelte man sie sogar als neue Präsidentin. Die Enttäuschung war gross, als sich Sawtschenko auch im ukrainischen Politbetrieb von ihrer exzentrischen Seite zeigte. Ist Feygins Strategie für diese übersteigerten Erwartungen verantwortlich? «Meine Aufgabe war es nicht, einen neuen Präsidenten für die Ukraine zu erschaffen, sondern die Angeklagte freizubekommen», sagt er heute.

Bei aller Kritik schaden die Schauprozesse vor allem einer Institution: dem Kreml. Wer sie öffentlich macht, untergräbt den Glauben an die russische Justiz. So wird auch Feygin selbst immer wieder unter Druck gesetzt, sei es durch Klage- und Morddrohungen oder den angedrohten Verlust der Lizenz. Im Fernsehen wird er als «ukrainischer Spion» geschmäht.

Einen Eindruck davon, wie sich Feygin selbst sieht, gibt indes sein Youtube-Kanal: «Horror, Trash, Politik», flimmern die Worte über den schwarzen Bildschirm, bevor eine martialische Comicfigur mit kantigen Gesichtszügen auftritt: «Brutal MF», der brutale Mark Feygin.