Streik in Frankreich: Eine Party für Macron

Nr. 15 –

Die französischen EisenbahnerInnen legen derzeit aus Protest gegen Emmanuel Macrons geplante Bahnreform das Land lahm. Doch auch andernorts gärt es. Kommt es zu einer gemeinsamen Front gegen die Liberalisierungspolitik?

Die Geschichte vergangener sozialer Kämpfe ist eine der verpassten Gelegenheiten. Daran erinnert ein Text des französischen Philosophen Louis Althusser über den 13. Mai 1968, als gewaltige Demonstrationen von StudentInnen wie auch von streikenden ArbeiterInnen durch Paris zogen: Die Protestzüge kreuzten sich, ohne dass es allerdings zu einer wirklichen Vereinigung der beiden gekommen wäre. «Welches Resultat hätte dies doch haben können!», schrieb der 1990 verstorbene Theoretiker in der Rückschau, voller Bedauern über die ungenutzte Chance.

Fast genau fünfzig Jahre später treibt die Frage nach der «convergence des luttes», der Zusammenführung der Kämpfe, die Linke in Frankreich erneut um. Das Land ist in diesem Frühling – knapp ein Jahr nach der Wahl Emmanuel Macrons zum Präsidenten – Schauplatz unerwartet zahlreicher Auseinandersetzungen. «Während es nach Macrons Wahl lang ruhig blieb, ist die soziale Wetterlage plötzlich in ein Gewitter übergegangen», diagnostiziert die linksliberale Zeitung «Libération».

Anachronistische «Privilegien»?

Das Zentrum dieses Unwetters bilden die Streiks bei der öffentlichen Eisenbahngesellschaft SNCF. Vergangenen Dienstag haben die «cheminots» begonnen, die Arbeit niederzulegen, mindestens drei Monate lang wollen sie nun protestieren, und zwar stets im Rhythmus drei Tage Arbeit, zwei Tage Streik. Grund für die Auseinandersetzung sind die Pläne der Regierung zur Neustrukturierung des Schienenverkehrs: Dieser soll für internationale Wettbewerber geöffnet werden, ausserdem werden die Arbeitsverträge neu eingestellter EisenbahnerInnen deutlich schlechter sein als bisher, da ihr beamtenähnlicher Status wegfallen soll.

Die Situation sei alarmierend, hatte Premierminister Éduoard Philippe bei der Vorstellung der Reformpläne im Februar erklärt. Die FranzösInnen müssten immer mehr für eine öffentliche Dienstleistung bezahlen, die immer schlechter funktioniere. Die SNCF hat zudem fünfzig Milliarden Euro Schulden angehäuft, die weiter wachsen, da der laufende Betrieb defizitär ist. Deswegen, so Philippe, seien die herrschenden – mit der Privatwirtschaft verglichen – anachronistischen «Privilegien» der «cheminots» nicht länger zu rechtfertigen. Durch die Öffnung für Privatinvestitionen erhofft sich die Regierung einen wirtschaftlicheren Bahnbetrieb, der für die Reisenden billiger und komfortabler werden soll.

Diese Argumentation ist allerdings fragwürdig. So legen die Erfahrungen in anderen Ländern eher den Schluss nahe, dass eine Öffnung des Schienenverkehrs für den freien Markt weder im Sinn der Reisenden noch der Beschäftigten ist. In Britannien ist die in den neunziger Jahren privatisierte und zersplitterte Eisenbahngesellschaft in einem solch desolaten Zustand, dass die Labour Party ihre Wiederverstaatlichung fordert. Zudem sind die in den Medien kursierenden Darstellungen der paradiesischen Arbeitsverhältnisse bei der SNCF überzeichnet. Das gilt etwa für das kolportierte Renteneintrittsalter fünfzig; ein Gewerkschafter der Gewerkschaft SUD Rail wies darauf hin, dass es zwar möglich sei, so früh in den Ruhestand zu treten, dies aber einen Lebensabend in Armut bedeute. Denn auch die «cheminots» müssten zwischen 41 und 42 Jahre lang Beiträge zahlen, um eine volle Rente zu erhalten.

Fragwürdige Verkehrspolitik

Zudem lohnt sich ein genauer Blick auf die Ursachen für die Verschuldung der SNCF; diese ist nämlich auch das Ergebnis des wachsenden Konkurrenzdrucks vonseiten des Flug- und Fernbusverkehrs, der wiederum politisch gewollt war. Pikanterweise war es Macron höchstpersönlich, der als Wirtschaftsminister der sozialistischen Regierung unter Präsident François Hollande dem privaten Fernbusverkehr den Weg bereitete – und damit eine billigere Alternative zur Bahn schuf, was sich nun auch in den Bilanzen der SNCF niederschlägt. Der Grünen-Politiker David Cormand verwies zudem darauf, dass Frankreich auch für die Instandhaltung des Strassennetzes trotz Autobahnmaut jährlich sechzehn Milliarden Euro bezahlt. Diese Subventionierung bringt wegen der dadurch verursachten Luftverschmutzung weitere, obgleich nur schwer zu beziffernde Kosten mit sich.

Diese Argumente relativieren das düstere Bild von einer viel zu kostspieligen und aus der Zeit gefallenen staatlichen Bahngesellschaft. Die entscheidende Frage ist ohnehin, inwieweit der Service public mit denselben Massstäben wie privatwirtschaftliche Unternehmen zu messen ist, geht es hier doch um die öffentliche Bereitstellung eines Guts – Mobilität für alle – und nicht um Profitmaximierung. Macrons Reformagenda folgt indes der bekannten Logik, der zufolge mehr Markt und mehr Wettbewerb stets frischen Wind bringen. Die Pläne zur Reform der SNCF fügen sich damit in die rechte Wirtschaftspolitik, die die französische Regierung seit Monaten betreibt.

Weitere Proteste im Land

Bislang hat sie dabei die Oberhand behalten. Das könnte sich nun allerdings ändern. Wie gross die Wut zumindest bei den Beschäftigten im öffentlichen Dienst ist, veranschaulichte ein Wortgefecht, das sich der Präsident vor ein paar Tagen beim Besuch eines Spitals mit zwei Krankenschwestern lieferte. Diese klagten vor laufenden Kameras, dass angesichts der unzureichenden Ausstattung des Gesundheitssektors die PatientInnen kaum angemessen zu versorgen seien, woraufhin Macron meinte, man könne eben kein Geld herbeizaubern, sondern müsse reformieren. Eine der Schwestern entgegnete, dass für die Rettung maroder Banken auch Mittel verfügbar gewesen seien. Die Debatte wurde zunehmend patziger, bis der Präsident pikiert über den «unhöflichen» Empfang von dannen zog.

Aber nicht nur bei der Bahn und in den Spitälern, sondern auch an den Universitäten gärt es: In mehreren Städten – unter anderem in Paris und Montpellier – sind Fakultäten besetzt. Die Proteste der Studierenden richten sich gegen die Unterfinanzierung der Bildungsinstitute sowie gegen die von der Regierung im Februar durchgesetzte Hochschulreform, die ein neues Auswahlverfahren vorsieht, das aus Sicht der KritikerInnen die Chancengleichheit untergräbt. Ausserdem streiken die MitarbeiterInnen von Air France für mehr Lohn; Auseinandersetzungen gibt es auch bei der Müllabfuhr einiger Städte sowie bei der grossen Einzelhandelskette Carrefour.

Weiteren Sprengstoff birgt die seit Anfang Woche laufende Räumung der Zone à défendre (ZAD) bei Nantes, einer grossflächigen Besetzung, die vor Jahren aus Protest gegen den Bau eines neuen Flughafens entstanden war (siehe WOZ Nr. 14/2017 ); Intellektuelle wie der Philosoph Geoffroy de Lagasnerie riefen bereits «zur Verteidigung der ZAD und zum Widerstand gegen Macron und seine Welt» auf.

Die Kämpfe zusammenführen

Ob all die Proteste zu einer gemeinsamen Front gegen die Reformpolitik der Regierung zusammenfinden, ist kaum abzuschätzen. Es gebe aber eine Schnittmenge zwischen den meisten dieser Kämpfe, so «Libération»-Chefredaktor Laurent Joffrin; diese liege in der «Ablehnung von Liberalisierungen und der Verteidigung einer bestimmten Tradition des Service public». Daher bestehe für die Regierung durchaus das Risiko, dass sich die gegenwärtigen Bewegungen früher oder später vereinigen würden und der Protest zu einer Art «informellem Referendum» über die Politik Macrons werde.

Genau das versuchen verschiedene politische Akteure zu forcieren. Philippe Martinez, der Generalsekretär der linken Gewerkschaft CGT, hat für den 19. April zu einem branchenübergreifenden Aktionstag «zur Zusammenführung der Kämpfe» aufgerufen. Ähnliches hat auch der linke Aktivist und Parlamentarier François Ruffin (siehe WOZ Nr. 23/2017 ) im Sinn und will deswegen am 5. Mai einen Protesttag organisieren: Unter dem Motto «Faire la fête à Macron» (Eine Party für Macron) sollen dann kurz vor dem ersten Jahrestag von dessen Wahl zum Präsidenten EisenbahnerInnen, Pflegekräfte, Studierende und generell alle mit der Regierung Unzufriedenen in Paris demonstrieren.

Was für eine Schlagkraft ein breites Bündnis entfalten kann, lehrt die französische Geschichte. Und dabei muss man gar nicht bis in die Sechziger zurückblicken: 1995 verhinderte ein Generalstreik eine von der Regierung geplante Reform der Sozialversicherung. Präsident war damals der Konservative Jacques Chirac – der damals ebenfalls kaum ein Jahr im Amt war.