Gute Nacht: Schlaf dich frei!

Nr. 8 –

Die schlaffste Form von Widerstand: Der Schlaf wurde immer weiter zurückgedrängt, jetzt sollen wir ihn wieder auskosten. Müssen wir ihn retten? Und wenn ja, vor wem?

Dieser Text ist kein Schlaflied. In diesen Wörtern ist kein Baldrian enthalten, kein Stilnox und kein Benocten. Und doch, genau das wäre die Idee: dass hier niemand bis zum Ende liest. Aber nicht, weil Sie einfach aussteigen und weiterblättern. Sondern weil Sie so schläfrig werden, dass Sie irgendwann zwischen den Zeilen wegdämmern. Stiller Protest gegen die allgemeine Lage, oder so.

«Schlafen für eine gute Welt», so singen die Reines Prochaines in einem neueren Lied. Schlaf als politischer Akt: Schön und gut, aber wie soll das gehen? Schlaf ist zwar die schlaffste Form von Widerstand, die man sich denken kann, aber das macht ihn gerade radikal. Schliesslich ist der Schlaf die letzte Zone unseres Alltagslebens, die sich der umfassenden Verwertungslogik entzieht, der wir sonst nirgends entkommen. Wer schläft, kann nichts leisten und auch nichts konsumieren, trägt also auf keiner Ebene zu irgendeiner Wertsteigerung bei. Der Schlaf sei das letzte menschliche Grundbedürfnis, das die Industrie noch nicht auszubeuten gelernt habe, so befand vor ein paar Jahren schon der Kulturtheoretiker Jonathan Crary in seinem Buch über die 24-Stunden-Gesellschaft, die uns im Spätkapitalismus den Schlaf raubt.

Selig lächelt die Frau

Wobei, schön wärs. Den anhaltenden Boom der Schlafmittelindustrie jedenfalls scheint Crary nicht bedacht zu haben. Und längst wird ja der Schlaf als regenerierende Kraft vermessen, ausgewertet und optimiert, also instrumentell auf seinen späteren Leistungswert hin getrimmt. Diese Fixierung auf den Schlaf ist vielleicht die notwendige Kehrseite unserer Nonstop-Kultur, die verlangt, dass wir auch in den Pausen und während der Nachtruhe im Bereitschaftsmodus bleiben.

Zwar kann die Wissenschaft noch immer nicht genau erklären, warum wir überhaupt schlafen – aber statistisch gilt es als ausgemacht, dass der hypermoderne Mensch in einer umfassenden «Schlafmangelkrise» feststeckt, wie das Arianna Huffington in ihrem Bestseller «Die Schlaf-Revolution» (2016) genannt hat. Gerade weil wir notorisch zu wenig und/oder zu schlecht schlafen, ist unsere Zeit ganz versessen auf den Schlaf. Schlaf ist wichtig, so wird uns von allen Seiten wieder eingebläut. Bloss, was dabei allerorts beschworen wird, ist nicht so sehr die gute Welt, wie sie die Reines Prochaines besingen, sondern lediglich ein besseres Selbst.

Zum Beispiel so: Selig lächelt die Frau, als sie die Augen aufschlägt, dazu Klavier und Streicher und zwitschernde Vögel von irgendeiner Musikdatenbank. Kein bisschen schlaftrunken, aber schon beim Aufwachen tadellos geschminkt, erhebt sie sich wie ferngesteuert aus dem Bett: sieht aus wie ein Supermodel, bewegt sich wie ein Automat. So schreitet die Frau in Zeitlupe durchs schicke Interieur, der Alltag als Laufsteg – um dann in der Küche auf dem Smartphone sogleich ihre persönliche Schlafstatistik zu prüfen. Das Display sagt: 97 von 100 Punkten.

Der Werbespot stammt von einer chinesischen Techfirma, die mit ihren smarten Gadgets unserer chronisch gestressten Welt zu besserem Schlaf verhelfen will. In diesem Fall gehören zum Set: eine selbstregulierende Lampe, die mit rotem Licht und sanften Klängen das Einschlafen erleichtern soll und zum Aufwachen einen Sonnenaufgang simuliert, und die passende App dazu, die den Schlafzyklus überwacht und auswertet. Sieht so der Schlaf von morgen aus, wie das die Ausstellung «Schlaf gut» in Pfäffikon SZ andeutet?

Kuschelweiche Technologien

Diese Produktwerbung ist vielleicht nicht das denkwürdigste Exponat dieser umfassenden Themenschau, aber eine Sache bringt der Spot sehr schön auf den Punkt. Werbung zeigt ja immer die Wahrheit, gerade dann, wenn sie uns etwas vormacht. Und diese Wahrheit ist hier: Der gute, gesunde Schlaf ist zur Lifestyleoption geworden, zu einem Statussymbol, das man verkaufen kann. Was die Werbung natürlich verschweigt: dass die Sache mit dem Schlaf auch eine soziale Komponente hat. Mit Schichtarbeit und tiefem Einkommen etwa verschlechtern sich erwiesenermassen die Chancen auf gesunden Schlaf – dagegen hilft dann wohl auch keine smarte Nachttischlampe.

Die «Schlafmangelkrise», die Arianna Huffington unserer Zeit bescheinigt, ist also vor allem auch: ein gigantischer Markt für neue Produkte. Auch die Zürcher ETH arbeitet in ihrem Projekt «SleepLoop» daran, eine intelligente Schlaftechnologie zu entwickeln – «für bessere Leistung und Gesundheit», wie es in der Broschüre heisst. Im letzten Jahrhundert haben wir noch versucht, unser verspanntes Verhältnis zum Schlaf mit Medikamenten zu lösen, von Ambien bis Zoldorm. Jetzt sollen es neue Technologien richten.

Diese können auch kuschelweich sein. In der Ausstellung «Schlaf gut» kann man seinen Kopf in ein «Ostrich Pillow» stecken, ein spezielles Rundumkissen, dank dem man seinen Schädel einigermassen bequem auf der Tischplatte betten kann. Sieht zwar blöd aus, dafür kann man sich kurzzeitig aus dem Büroalltag ausklinken – für einen Powernap nach dem Vogelstraussprinzip. Klingt wie ein Scherz, aber für diesen Scherzartikel zahlt man seriöse 99 US-Dollar. Ein paar Schritte weiter kann man sich in die schallgedämpfte «Ergodata Relaxbox» legen – Schweizer Design, ein Réduit fürs Grossraumbüro. Wer sich so eine Ruheoase für sein Personal anschafft, investiert in den Schlaf als leistungssteigernde Massnahme.

So richtig abschalten? Wie das ohne Relaxbox gehen könnte, zeigt die Protagonistin in «Mein Jahr der Ruhe und Entspannung» (2018), dem jüngsten Roman der US-Autorin Ottessa Moshfegh. Wenn sie sich in der New Yorker Kunstgalerie, wo sie arbeitet, für den Mittagsschlaf in der Besenkammer verkriecht, taucht die junge Frau in eine schwarze Leere: «In diesem Nichts war ich weder glücklich noch verängstigt. Ich hatte keine Visionen. Ich hatte keine Ideen.» Klingt irgendwie traurig, sie findet es grossartig. Aber beim Aufwachen dann jedes Mal die Ernüchterung: «Ich war immer wieder nur ich.»

Was die Erzählerin anfangs in den Schlummer treibt, ist ihr diffuser Wunsch, aus dem Gefängnis ihres Körpers (schön) und ihres Geistes (kritisch) auszubrechen. Geplagt von solchem existenziellem Ennui, beschliesst die Erzählerin eines Tages, ein ganzes Jahr zu verschlafen. Von der bedrückenden Wirklichkeit zu pausieren und quasi Winterschlaf zu halten. Und dann? «Ich würde wie neu geboren aufwachen, als völlig neuer Mensch», so hofft sie. Im Dauerschlaf «völlig verschwinden und in neuer Form wieder auftauchen», das ist ihr Traum. Eine Ausstiegsfantasie nur für Privilegierte natürlich, und durch und durch solipsistisch. So eine Auszeit in der Horizontalen muss man sich ja auch erst mal leisten können.

Doch die Autorin hat für die Schläferin in ihrem Roman eine fiese Pointe parat. Diese realisiert nämlich, dass es nicht so einfach ist, im medikamentös beförderten Tiefschlaf vor sich selbst zu fliehen. Wenn sie zwischendurch aufwacht, stellt sie fest, dass sie im Netz offenbar Dessous und Designerjeans gekauft und Waxing-Termine vereinbart hat. Ihr Unbewusstes rebelliert gegen ihren Dauerschlaf und reagiert mit Schlafshopping. «Mein Jahr der Ruhe und Entspannung» ist der perfekte Dekadenzroman für eine Zeit, die ihr chronisches Schlafmanko damit auszutreiben versucht, dass sie den Schlaf als Biodoping fetischisiert.

Ornament körperlicher Unordnung

Das sieht man schön auch bei Arianna Huffington. Wenn sie mit ihrem Buch zur «Schlaf-Revolution» aufruft, schreibt sie zwar gegen die Heroisierung des kurzen Schlafs an, wie sie gerade auf den männlich dominierten Geschäftsetagen immer noch zum guten Ton gehört. Aber auf dem Umschlag lässt sie das Buch dann doch in den Worten von Facebook-CEO Sheryl Sandberg anpreisen: «Arianna zeigt, dass der Schlaf nicht nur für unsere Gesundheit wesentlich ist, sondern auch entscheidend für das Erreichen unserer Ziele.» Huffingtons Plädoyer für den Schlaf wird also nicht etwa als Gesundheits- oder Glücksratgeber beworben, sondern in erster Linie als Leitfaden für eine erfolgreiche Karriere. Klar doch, wer besser schläft, lebt nicht nur gesünder, sondern erbringt vor allem mehr Leistung. Oder wie Arianna Huffington uns mit dem passenden Slogan rät: «Schlaf dich hoch!»

Vielleicht also muss man den Schlaf heute nicht mehr nur vor der Nonstop-Kultur der neoliberalen Arbeitswelt retten, die, weil ihr jedes unproduktive Vakuum suspekt ist, den Schlaf einerseits zurückdrängt und andererseits als Powernap ins Büro integriert. Man muss ihn auch verteidigen gegen jene, die ihm, aus dem Geist exakt dieser Arbeitswelt heraus, wieder zu seinem Recht verhelfen wollen, also vor Karrieremenschen wie Arianna Huffington oder Sheryl Sandberg.

Und, schlafen Sie schon? Hoffentlich nicht. Protestschlafen mag ja eine schöne Idee sein. Aber wer den Schlaf als Akt des Widerstands zelebrieren will, ordnet ihn wieder nur einem strategischen Zweck unter. Das wissen auch die Reines Prochaines: «Schlafen ist individuelle Anarchie», singen sie in ihrem Lied. Wer den Schlaf als herrschaftsfreien Raum begreift, kann besser damit umgehen, dass er sich jedem Zugriff einer instrumentellen Ordnung entzieht.

In der Ausstellung «Schlaf gut» bekommt man das nirgends so schön vorgeführt wie in «The Sleep of the Beloved», einer Bildserie von Paul Maria Schneggenburger. Der österreichische Künstler fotografiert Liebespaare beim Schlafen in Langzeitbelichtung, und da zeigt sich der Schlaf, den wir gerne zum Inbegriff von Ruhe und Entspannung stilisieren, als verwischte Bewegung – ein reines Ornament körperlicher Unordnung.

«Schlaf gut» in: Pfäffikon SZ, Vögele Kultur Zentrum. Bis 24. März 2019.

Ottessa Moshfegh: «Mein Jahr der Ruhe und Entspannung». Roman. Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger. Liebeskind Verlag. München 2018. 313 Seiten. 32 Franken.

Jonathan Crary: «24/7: Schlaflos im Spätkapitalismus». Aus dem Englischen von Thomas Laugstien. Wagenbach-Verlag. Berlin 2014. 112 Seiten. 19 Franken.