Nothilfe für Geflüchtete: Ein SVP-Mann missioniert seine Partei

Nr. 41 –

Im Kanton Bern spannen ein sozial engagierter Pfarrer und ein eigenwilliger SVP-Parlamentarier zusammen. Ihr Ziel: eine bessere Asylpolitik.

«Der Regierungsrat wird beauftragt, den privat untergebrachten abgewiesenen Asylsuchenden die Nothilfe von 8 Franken pro Tag auszurichten.» So lautet der Inhalt einer Motion, die am 9. September vom Grossen Rat des Kantons Bern angenommen wurde. Das ist gleich in doppelter Hinsicht bemerkenswert: Weil der rechtskonservativ dominierte bernische Grosse Rat mit der Motion für einmal einen Vorstoss angenommen hat, der für Geflüchtete keine Verschlechterung ihrer Lebenssituation zur Folge hat. Und wegen ihres Absenders: eines SVP-Grossrats.

Die Nothilfe für abgewiesene Asylsuchende, die laut Bundesverfassung jedem Menschen ein Leben in Würde ermöglichen sollte, ist in der Praxis so ausgestaltet, dass sie Betroffene zur freiwilligen Ausreise bewegen soll. Abgesehen von der obligatorischen Krankenversicherung und einem Bett in einer Kollektivunterkunft erhalten die Betroffenen je nach Kanton zwischen sechs und zwölf Franken pro Tag. Im Kanton Bern sind es acht Franken. «Der Begriff ‹Nothilfe› ist bei Asylsuchenden ein Euphemismus», findet Daniel Winkler. Für den Pfarrer der Berner Gemeinde Riggisberg ist die Nothilfe ein repressives Konzept, da die Betroffenen weder arbeiten noch Schulen oder Deutschkurse besuchen dürfen und sich faktisch in der Illegalität befinden. Als im Juli 2014 in Riggisberg ein Durchgangszentrum für Asylsuchende eröffnet wird, beginnt Winkler, sich zu engagieren. Seither setzt sich der «Aktivist», wie er sich selbst nennt, auf zivilgesellschaftlicher und politischer Ebene für Geflüchtete ein. Etwa mit der Gründung von «Riggi-Asyl», einer kirchlichen Initiative, die auch vier Jahre nach der Schliessung des Asylzentrums noch aktiv ist. Gemeinsam mit Gemeindemitgliedern hat der Pfarrer die private Unterbringung von dreissig Geflüchteten organisiert.

Im Kanton Bern können Privatpersonen, anders als im Schweizer Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) vorgesehen, seit Herbst 2019 abgewiesene Asylsuchende aufnehmen, ohne sich strafbar zu machen. Passend zur widersprüchlichen Asylpolitik erlosch aber bisher bei privater Unterbringung der Anspruch auf die acht Franken Nothilfe. Denn, so die Argumentation des Regierungsrats: «Nicht bedürftig ist, wer von Dritten Unterstützung erhält oder die ihnen angebotenen Leistungen nicht in Anspruch nimmt.» Wer sich also dazu entschied, Personen bei sich aufzunehmen, musste auch für deren Verpflegung, für Hygieneartikel, Kleider und Kommunikationskosten aufkommen. Diesem Missstand wollten Daniel Winkler und seine Mitstreiter der neu gegründeten «Aktionsgruppe Nothilfe» abhelfen. Als politischen Verbündeten suchten sie sich Walter Schilt aus.

Grundsatz: Nicht verbiegen

«Wenn diese Menschen nach zehn Jahren noch immer in der Schweiz sind, dann war doch offensichtlich der negative Asylentscheid falsch!» Eine solche Aussage aus dem Mund eines SVP-Politikers zu hören, ist ungewöhnlich. Doch Walter Schilt ist kein gewöhnlicher SVPler. Der Präsident der Gemeinde Vechigen, deren Gebiet zehn Kilometer östlich der Stadt Bern beginnt, ist seit 2018 Teil des Kantonsparlaments. Seine Kernthemen sind erneuerbare Energien und Veloverkehr. Und nun also diese Motion, die sich für Geflüchtete einsetzt. Während er von Betroffenen erzählt, die er persönlich kennt, zitiert er Jean Ziegler und sagt Dinge wie «Sollten wir nicht bereit sein, ein kleines bisschen unseres Wohlstands abzugeben?» Man fragt sich unweigerlich: Ist dieser Mann nicht etwas zu links für die SVP?

«Was heisst schon links oder rechts?», fragt Schilt zurück. Als ihn vor über zehn Jahren ein befreundeter Bauer gefragt habe, ob er nicht für die SVP politisieren wolle, habe er zugestimmt – allerdings nur unter der Voraussetzung, dass er sich nicht verbiegen müsse. «Diesem Grundsatz bin ich bis heute treu geblieben und werde es auch weiterhin tun.» Er sei bei Abstimmungen im Grossen Rat oft auf der Linie der SVP. Tatsächlich steht er mit seinen Positionen aber auch häufig alleine da in seiner Partei. So wie im Falle der Abstimmung über seine Nothilfemotion, die bis auf eine Enthaltung von der gesamten Fraktion abgelehnt wurde.

Missionieren in der Fraktion

Zu den parteiinternen Diskussionen, die sein Engagement ausgelöst hat, möchte sich der Grossrat nicht äussern. Er hegt trotz Misstönen aus den eigenen Reihen keinen Zweifel daran, dass er in der richtigen Partei ist: «Du musst da missionieren, wo das grösste Missionsfeld ist», sagt Schilt und lacht. Er freut sich über den Erfolg seiner Motion, für die er Grossräte aller Fraktionen ausser der SVP gewinnen konnte – sogar einen EDU-Politiker. Er findet aber, dass seine Motion eigentlich nicht besonders weit geht.

Auch für Daniel Winkler ist die Situation für die abgewiesenen Asylsuchenden weiterhin nicht tragbar. Er lobbyiert bereits auf nationaler Ebene für eine vorläufige Aufnahme von Langzeitfällen, denn für ihn ist klar: Das Nothilferegime der Schweiz muss grundlegend verändert werden. «Es ist eine Form von physischer und psychischer Gewalt.»

Demo für Lesbos

Justizministerin Karin Keller-Sutter gibt sich gern als stolze Ostschweizerin. Ihr stures Verhalten in der Flüchtlingspolitik stösst aber selbst dort auf Unverständnis. Ihre Wohngemeinde Wil wie auch der Kanton St. Gallen fordern den Bundesrat auf, mehr Geflüchtete aus Lesbos aufzunehmen.

Damit die Forderung der Städte endlich in Bern ankommt, rufen zahlreiche Organisationen für diesen Samstag zu einer Flüchtlingsdemo auf. Gefordert werden die Evakuierung von Lesbos und eine menschenwürdige Asylpolitik. Platz hat es ja genug von Genf bis Wil.

Samstag, 10. Oktober 2020, 14.30 Uhr, Bern, Bundesplatz.