Durch den Monat mit Daniel Winkler (Teil 1): Warum war Ihr SVP-dominiertes Dorf so solidarisch?

Nr. 48 –

Als 150 Geflüchtete nach Riggisberg BE kamen, war für Pfarrer Daniel Winkler klar: Die Kirchgemeinde engagiert sich für sie. Manchmal ging das nicht ohne Bevormundung. Seither setzt er sich für eine andere Asylpolitik ein.

«Wenn Not leidende Menschen kommen, engagieren wir uns für sie. Das ist ein Kernauftrag unserer Kirche»: Daniel Winkler vor der einst als Asylunterkunft genutzten Zivilschutzanlage.

WOZ: Daniel Winkler, was muss man tun, damit sich Schweizer:innen Geflüchteten gegenüber gastfreundlich zeigen?
Daniel Winkler: Ein Mittel ist Begegnung: Sobald man einen Menschen vor sich hat, ein Gegenüber, passiert etwas mit den Leuten. Auch jene, die Vorurteile hatten, merken: Das ist ja ein Mensch mit Sorgen, Hoffnungen, Freuden und Ängsten, ein Mensch wie ich. Als das Asylzentrum im Dorf war, hatten wir ein gemeinnütziges Beschäftigungsprogramm im Altersheim. Einige Mitarbeitende hatten grosse Vorurteile, zum Teil eine richtige Aversion gegen Ausländer. Dann ging eine Eritreerin dort helfen, und sie bekamen sie richtig gern. Es war sehr schön, das zu erleben.

Riggisberg war vor sieben Jahren in allen Medien: ein Dorf mit fünfzig Prozent SVP-Wähler:innenanteil, das Asylsuchende mit offenen Armen aufnahm. Warum war das möglich?
Die damalige Gemeindepräsidentin – Christine Bär, auch Pfarrerin – rief mich im Juni 2014 an und fragte: Wenn 150 Flüchtlinge nach Riggisberg kämen, würdet ihr als Kirchgemeinde mithelfen? Da habe ich zuerst leer geschluckt, aber für mich war klar: Wenn Not leidende Menschen kommen, engagieren wir uns für sie. Das ist für mich ein Kernauftrag unserer Kirche.

Was hat die Bevölkerung überzeugt?
Es gab keine Vernehmlassung oder Abstimmung, das wäre nie durchgekommen. Ganz wichtig war, dass sich der SVP-dominierte Gemeinderat einstimmig dafür entschied. Christine Bär schaffte es, einen guten Boden zu bereiten. Der Rat hatte einen guten Zusammenhalt und war sehr sachpolitisch orientiert.

Sie stellten in kurzer Zeit eine Riesenpalette von Aktivitäten auf die Beine, von Kinderausflügen über gemeinnützige Arbeit, Sport und Handwerk bis zu Unterstützung im Alltag.
Die öffentliche Aufmerksamkeit half sehr. So entstand eine sehr heterogene Freiwilligengruppe – da gabs auch Agnostiker, Katholiken, Mitglieder von Freikirchen – um die reformierte Kirchgemeinde herum.

Sie haben oft pädagogisch gehandelt, zum Beispiel den Geflüchteten erklärt, wie man in der Schweiz einkauft, dass man das Gemüse nicht betastet und nicht mitten im Dorf pinkelt …
… und dass sie auf dem Dorfplatz kein Bier trinken sollen. Als ich das gesehen habe, habe ich sie angesprochen: Ihr dürft so viel Bier trinken, wie ihr wollt, aber bitte nicht hier. Für mich ist der Framing-Effekt immer wichtig. Auch wenn jemand Militärhosen trug – die haben sie häufig aus Brockis oder gratis bekommen. Aber da denken die Einheimischen gleich an Krieg.

Viele Linke hätten Hemmungen, das zu tun, aus Sorge, bevormundend oder sogar rassistisch rüberzukommen.
Mikroaggression! (Lacht.)

Aber die Vermittlung braucht es?
Unbedingt! Natürlich ist es bevormundend. Aber das ist eine Güterabwägung, wie so vieles. Ich tat es, um die Flüchtlinge zu schützen und die Sympathie im Dorf zu bewahren.

Das Asylzentrum ist längst wieder geschlossen. Was bleibt heute von den solidarischen Strukturen?
Einige Flüchtlinge, die anerkannt oder vorläufig aufgenommen wurden, wohnen immer noch im Dorf. Wir haben Wohnungen für sie gesucht, auch ein Haus gekauft, und konnten sie auf dem Weg in den ersten Arbeitsmarkt begleiten. Wir bieten auch noch Lernhilfe an, und die Kirchgemeinde verwaltet einen Fonds, der für 26 abgewiesene Asylsuchende Nothilfe und Wohnkosten bezahlt. Im Kanton Bern darf man Abgewiesene privat unterbringen. Allerdings bezahlt der Kanton dann die acht Franken pro Tag nicht, auf die diese Menschen Anspruch haben. Ich versuche, mir mit Medienarbeit gegen das Nothilferegime Gehör zu verschaffen. Aber es ist sehr, sehr zermürbend.

Das Nothilferegime wurde demokratisch abgesegnet.
Ja. Ich sehe kein Licht am Ende des Tunnels. Aber wenn die Schweizer:innen wüssten, was Langzeitnothilfe wirklich bedeutet – sie würden es nicht wollen! Die Situation in den Rückkehrzentren ist unmenschlich, auch durch den Wechsel von Reizentzug und Reizüberflutung: Du darfst nichts tun, weder arbeiten noch eine Ausbildung machen, musst den ganzen Tag Däumchen drehen, und plötzlich hast du Lärm und Polizei im Haus, immer wieder. Natürlich sind die Leute da dünnhäutig, es gibt viel Aggression und grosse Verzweiflung.

Was fordern Sie?
Die Menschen, die nicht zurückkönnen, aus Afghanistan, Eritrea und jetzt auch Äthiopien, muss man zumindest vorläufig aufnehmen. Damit sie menschenwürdig leben, etwas arbeiten, sich entfalten können. Mindestens das. Solange ich lebe, werde ich mich für diese Leute einsetzen. Aber ich habe nicht viel Hoffnung: Wir haben inzwischen eine so restriktive Asylpolitik, und sie wird von der Mehrheit der Bevölkerung getragen. Das ist für uns sehr traurig, weil wir die Leute, die es betrifft, persönlich kennen. Das ist das Schlimmste: dass ich hier keine Hoffnung sehe – obwohl mein Beruf ja die Hoffnung wäre.

Daniel Winkler (54) ist seit siebzehn Jahren reformierter Pfarrer von Riggisberg, einem Dorf mit 3000 Einwohner:innen zwanzig Kilometer südlich von Bern.