Die internationale Perspektive: «Es geht nicht bloss ums Überleben»

Nr. 4 –

In der Mindestlohnpolitik war in den letzten Jahren viel Bewegung, vielerorts liegen die Löhne allerdings weiterhin unter dem Existenzminimum. Forderungen nach einem neuen Ansatz werden immer lauter.

«Genf führt den höchsten Mindestlohn der Welt ein»: So lauteten die Überschriften der internationalen Presse im vergangenen Herbst. Satte 58 Prozent der Stimmenden im Westschweizer Stadtkanton befürworteten damals die Einführung eines Mindestlohns von 23 Franken pro Arbeitsstunde. Seit November erhalten rund 30 000 Personen oder zehn Prozent der Genfer ArbeiterInnen mehr Lohn, zwei Drittel davon sind Frauen.

«Ich habe die Schlagzeilen aus Genf mit Freude zur Kenntnis genommen», sagt Lohnexperte Thorsten Schulten. «Sie zeigen, dass es Schritt für Schritt vorwärtsgeht in der Mindestlohndebatte. Das war nicht immer so.» Der Politikwissenschaftler vom Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung in Düsseldorf erinnert sich an den regen Austausch mit dem linken Schweizer Thinktank Denknetz Mitte der nuller Jahre. «Gemeinsam mit Kollegen des Institut de recherches économiques et sociales in Frankreich entwickelten wir damals vierzehn ‹Thesen für einen europäischen Mindestlohn› – die Idee wurde jedoch nicht besonders ernst genommen», so Schulten.

In der Schweiz sei die Debatte um den Mindestlohn damals weiter gewesen als in anderen europäischen Ländern. «Nach der Wirtschaftskrise in den neunziger Jahren setzten die Schweizer Gewerkschaften bewusst auf einen Mindestlohn als politische Forderung.» In Deutschland hingegen herrschte bei den Gewerkschaften lange Zeit das Gefühl, ein Mindestlohn sei nicht nötig, das bestehende System mit Tarifverträgen (in der Schweiz Gesamtarbeitsverträge) reiche aus. Eine Fehleinschätzung.

«Parallel zur schwindenden Organisationsmacht der Gewerkschaften ging in den letzten zwei Jahrzehnten auch die Tarifbindung stark zurück, sie liegt heute nur noch bei knapp fünfzig Prozent. Gleichzeitig ist der Niedriglohnsektor in Deutschland massiv gewachsen, rund acht Millionen Personen sind dort beschäftigt – europaweit ein Spitzenwert», sagt Schulten. Eine Entwicklung, die zu einem Umdenken geführt und den Mindestlohn auf die politische Agenda gebracht habe. Heute gibt es in 21 EU-Mitgliedsländern einen gesetzlichen Mindestlohn, auch in Deutschland. Aktuell liegt er dort bei 9,50 Euro, Gewerkschaften, SPD und Linke fordern aber eine Erhöhung auf 12 Euro.

Kein «revolutionärer Wurf»

Wie viel Bewegung in der Mindestlohndebatte steckt, zeigte sich für Thorsten Schulten zuletzt auch in Brüssel, als die EU-Kommission Ende Oktober eine Richtlinie «für angemessene Mindestlöhne in allen Mitgliedstaaten» vorstellte. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sprach damals von einem «wichtigen Signal, dass die Würde der Arbeit auch in Krisenzeiten unantastbar sein muss». ArbeiterInnen sollten Zugang zu «angemessenen Mindestlöhnen und einem angemessenen Lebensstandard haben».

Die EU-Richtlinie sorgte umgehend für heftige Kritik von allen Seiten. Die Arbeitgeberverbände, die Mindestlöhne grundsätzlich ablehnen, verwahrten sich gegen eine EU-weite Koordinierung und Regelung. «Die Lohnfindung ist eine nationale Aufgabe», schrieb etwa der mächtige Lobbyverband Businesseurope. Es ist absehbar, dass die Arbeitgeberverbände diese Linie auch vor nationalen Gerichten verteidigen – und das Vorhaben so verzögern oder gar ganz verhindern werden.

Widerstand droht auch aus Schweden und Dänemark, denn in den beiden skandinavischen Staaten ist – im Unterschied zu vielen Ländern im restlichen Europa – die Tarifbindung noch relativ intakt. Sie fürchten einen Eingriff in ihre Autonomie. Von linker Seite wird hingegen bemängelt, dass jegliche rechtliche Verbindlichkeit fehle, um die Mitgliedstaaten zu verpflichten, Mindestlöhne auch wirklich einzuführen.

Auch Lohnexperte Thorsten Schulten sieht in der EU-Richtlinie zwar keinen «revolutionären Wurf», ihr grosses Verdienst liege aber darin, dass sie einen entscheidenden Punkt hervorhebe: «Die Richtlinie fordert einen angemessenen Mindestlohn, das heisst einen Lohn, der den Beschäftigten am Ort ihrer Arbeit einen angemessenen Lebensstandard ermöglichen soll.»

Diese Definition sei wichtig, weil heute die gesetzlich festgeschriebenen Mindestlöhne in vielen Ländern Armutslöhne seien, die zwar hemmungsloses Lohndumping verhindern, aber noch kein würdiges Leben inklusive gesellschaftlicher Teilhabe ermöglichen würden. «Ich halte es für entscheidend», sagt Schulten, «dass wir in Zukunft nicht nur für einen gesetzlich festgelegten Mindestlohn kämpfen, der eine Untergrenze definiert, sondern vielmehr die Frage ins Zentrum stellen, welcher Lohn eigentlich angemessen ist, um den Beschäftigten einen Lohn zum Leben zu bieten.»

Es gebe auch durchaus sinnvolle und praktikable Verfahren, um einen solchen Lohn zu definieren, sagt Schulten: «Ich plädiere für die Verwendung des nach einem US-amerikanischen Statistiker benannten Kaitz-Index. Dieser entspricht dem Verhältnis zwischen Mindest- und Medianlohn im jeweiligen Land.» In Anlehnung an die Armutsforschung habe sich die Schwelle von sechzig Prozent als realistische Zielmarke erwiesen. Heisst: Wer mindestens sechzig Prozent des mittleren Lohns verdient, kann davon leben, ohne den Anschluss an die Gesellschaft zu verlieren. «Dieser Wert gilt in der Sozial- und Lohnforschung auch als geeigneter Ausgangspunkt für eine europäische Mindestlohnpolitik.»

Der FC Liverpool machts vor

Zu den VerfechterInnen eines «Lohns zum Leben» gehört auch der Arbeitssoziologe Klaus Dörre von der Universität Jena. «Es geht nicht ums Überleben, es geht um gutes Leben», sagt er. Sogenannte Löhne zum Leben müssten deshalb auch das Grundrecht auf Bildung und Kultur oder das Recht auf Mobilität einschliessen. «Das bedeutet natürlich, dass solche Löhne deutlich höher sind als die heute existierenden Mindestlöhne.»

Dörre verweist auf Grossbritannien: «Eine Stiftung arbeitet dort ziemlich erfolgreich daran, Unternehmen zur Zahlung eines Living Wage zu bewegen, eines unabhängig berechneten Mindestlohns zur Deckung der Grundbedürfnisse der Arbeiterinnen und Arbeiter.» Im September 2018 habe sich zum Beispiel der FC Liverpool dazu verpflichtet, «was mich als Fan natürlich gefreut hat», so Dörre. Neben dem populären Fussballklub hätten sich bisher über 7000 weitere Unternehmen zu Living Wages verpflichtet, wovon rund 250 000 Beschäftigte profitierten.

«Die Sache hat allerdings einen Pferdefuss: Sie beruht auf Freiwilligkeit», so Dörre. Weil es den Gewerkschaften und linken Parteien zu wenig weit gehe, habe das Konzept in Deutschland einen schweren Stand. Dörre bedauert das. Für ihn könnte der Ansatz durchaus als wichtiger Zwischenschritt funktionieren. «Wenn sich erst mal eine gewisse Anzahl an Unternehmen in Deutschland dazu verpflichten würde, hätte das durchaus eine Wirkung. Die Arbeitergeberseite tritt hier immer als Einheitsfront gegen Mindestlöhne auf, das wäre dann viel schwieriger», so Dörre.

Langsames Umdenken

Was die Zukunft betrifft, geben sich Schulten wie Dörre «verhalten optimistisch». Beide gehen davon aus, dass die Coronakrise Schwung in die Debatte bringen wird. «Es ist sehr klar geworden, welche Wertigkeit bisher sehr schlecht bezahlte und meist von Frauen ausgeübte Berufe für unsere Gesellschaft haben: das Pflegepersonal, die Supermarktangestellten, Reinigungskräfte. Ich bin sicher, dass in weiten Teilen der Bevölkerung das Bewusstsein vorhanden ist, dass es nötig ist, diese Berufe endlich finanziell aufzuwerten», sagt Dörre.

Leider reagierten die Politik und der Staat bisher sehr zögerlich. Gerade die öffentliche Hand müsste jetzt vorangehen und in Institutionen wie etwa der Altenpflege neue Lohnstandards setzen. «Die Mittel müsste sich der Staat über Steuererhöhungen bei Einkommensstarken und Reichen beschaffen, aber bisher wagt sich niemand daran. Dabei ist die grassierende Ungleichheit längst zu einer Gefahr für die Demokratie geworden.»

Diese Einschätzung teilt auch Thorsten Schulten. Und er erkennt diesbezüglich langsam ein Umdenken. «Nach der Finanzkrise 2008 zog die EU-Kommission ein knallhartes Sparprogramm in den verschuldeten Ländern im südlichen Europa durch. Auch die Löhne kamen unter die Räder. Die Probleme sind dadurch aber nicht gelöst worden, im Gegenteil, die Armut nahm teils drastisch zu. Und der Ruf der EU war in weiten Teilen Europas ruiniert», sagt Schulten. Die aktuelle Regelung der EU-Kommission zum Mindestlohn sieht er auch als Folge dieser Legitimationskrise. «Sie wissen, dass es auch soziale und verbindende Projekte braucht, damit die EU nicht weiter auseinanderdriftet.»

Alarmistische Szenarien

Ein erfreuliches Signal sendete vor zwei Wochen übrigens der neue US-Präsident Joe Biden. Der Demokrat kündigte im Rahmen eines riesigen, 1,9 Billionen schweren Coronahilfspakets an, den gesetzlich festgelegten Mindestlohn landesweit auf 15 US-Dollar pro Stunde erhöhen zu wollen – was einer Verdopplung entspricht. «Niemand, der vierzig Stunden pro Woche arbeitet, sollte unterhalb der Armutsgrenze leben», sagte Biden, der damit die Forderung der gewerkschaftlich geprägten sozialen Bewegung «Fight for $15» aufnahm.

Hoffnung bietet schliesslich auch die Evidenz. An sämtlichen Orten, wo ein Mindestlohn eingeführt wurde, gab es im Vorfeld heftigen politischen Widerstand. Er schade der Wirtschaft und gefährde Arbeitsplätze, so die stets gleich lautenden Argumente. Bis jetzt ist Schulten kein konkretes Beispiel bekannt, wo sich die von neoklassischen ÖkonomInnen und Arbeitgeberverbänden heraufbeschworenen Szenarien bewahrheitet hätten. Ganz anders sieht es bei den von tiefen Löhnen Betroffenen aus: «Ihre Löhne sind gestiegen, ihre Leben haben sich verbessert.»

Ein Beitrag zur Gleichstellung

Im November hat ein Bündnis aus Gewerkschaften, Hilfswerken und linken Parteien in den Städten Zürich, Winterthur und Kloten die Initiative «Ein Lohn zum Leben» eingereicht. Geht es nach dem Initiativkomitee, soll in Zukunft niemand weniger als 23 Franken pro Stunde verdienen – aktuell die Lebensrealität von Tausenden Angestellten in den drei grössten Städten des Kantons.

Allein in der Stadt Zürich arbeiten über 17 000 Personen in sogenannten Tieflohnbranchen wie der Reinigung und der Gastronomie oder als Bordpersonal. Da in diesen Berufen besonders viele Frauen beschäftigt sind, bekämpfe die Vorlage nicht nur Armut, sondern leiste auch einen wichtigen Beitrag zur Gleichstellung, argumentiert das Komitee.

Die Initiative ist der schweizweit erste Versuch, auf Gemeindeebene einen Mindestlohn einzuführen, und laut eines von den InitiantInnen eingeholten Rechtsgutachtens zulässig. In einem nächsten Schritt müssen sich die StadträtInnen der drei Gemeinden mit dem Vorschlag befassen.