Türkische Währungskrise: Die Zeichen stehen auf Sturm

Nr. 49 –

Der Kurs der Lira fällt und fällt, die Löhne in der Türkei schmelzen dahin. Unternehmen können reihenweise die Kredite von europäischen Banken nicht mehr zurückzahlen. Droht eine neue globale Finanzkrise?

Wenn wir dem türkischen Autokraten Recep Tayyip Erdogan glauben, dann befindet sich sein Land im Krieg, in einem «wirtschaftlichen Unabhängigkeitskrieg» gegen alle Imperialismen der Welt. Das Ausland soll schuld sein an der Misere in der Türkei, so Erdogan. Denn seit 2015 fällt der Kurs der türkischen Lira unaufhaltsam, seit November 2017 taumelt die Lira von Absturz zu Absturz. Die offizielle Inflationsrate beträgt derzeit über 20 Prozent – und steigt weiter. Im neuen Jahr dürfte sie die Marke von 25 Prozent erreichen.

Die Lebenshaltungskosten sind allein im November um 21,7 Prozent gegenüber dem Vormonat gestiegen. Die Preise für Verkehr, Mieten und Lebensmittel haben überdurchschnittlich stark angezogen. Für Lebensmittel in den Läden und auf den Märkten werden Preissteigerungen von 30 Prozent und mehr verzeichnet. Seit Oktober 2020 steigen die Verbraucher:innenpreise von Monat zu Monat beschleunigt an. Folglich schmelzen die Reallöhne dahin, der Mindestlohn von 3577 Lira (umgerechnet 240 Franken) pro Monat reicht schon lange nicht mehr zum Überleben. Fast ein Fünftel der Lohnempfänger:innen in der Türkei verdienen deutlich weniger als das.

Lange Schlangen vor den Geschäften

Die Folgen der Inflation zeigen sich überall: Auf den Märkten, in den Läden wird gehamstert, denn schon morgen werden die gleichen Dinge erheblich teurer sein. Die Händler:innen halten ihre Waren zurück, denn morgen schon können sie sie zu einem deutlich höheren Preis losschlagen. Beides treibt die Preise weiter in die Höhe, auch für diejenigen, die kein Geld zum Hamstern haben. Vor den Geschäften bilden sich lange Schlangen; die Leute stehen für Benzin, Gasflaschen, selbst für Brot an. Speiseöl wird inzwischen in kleinen Bechern verkauft; einen Liter Öl auf einmal zu kaufen, können sich die meisten nicht mehr leisten. Brot und Brezeln werden in Hälften gekauft, mehr ist nicht drin.

Die Regierungspartei AKP ergeht sich in guten Ratschlägen an die Bevölkerung, wie man in der Inflation sparen könne: Die Heizung runterdrehen oder ganz abstellen, weniger Fleisch essen, Brot und Zwiebeln täten es auch. Daraus spricht die reine Verzweiflung, denn an der Abhängigkeit der Türkei von Rohstoff- und Energieimporten lässt sich nicht viel ändern. Mit der Inflation steigen unweigerlich auch die Erzeugerpreise überall im Land.

Im Ausland ist die Türkei hoch verschuldet, sie hat derzeit mehr als 576 Milliarden Dollar Schulden in Fremdwährungen – vor allem in Dollar und Euro, also den Währungen, gegenüber denen die Lira im Moment am stärksten verliert. Über die Hälfte davon entfällt auf türkische Privatunternehmen, darunter viele Banken. Die Kredite kamen hauptsächlich von europäischen Banken, aber auch etliche grosse US-Banken sind betroffen.

Horrende Zinsen

In den nächsten zwölf Monaten werden Auslandsschulden in Höhe von 168 Milliarden Dollar fällig. Mit dem Absturz der Lira werden viele türkische Unternehmen nicht imstande sein, ihre Schulden zu zahlen, sie könnten dabei reihenweise pleitegehen. Ratingagenturen wie Fitch haben inzwischen den Daumen nach unten gesenkt: Türkische Unternehmen und der türkische Staat müssen nun für Auslandskredite horrende Zinsen bezahlen, sofern sie sie überhaupt noch bekommen.

Erdogan hat inzwischen mehrere Zentralbankpräsidenten und Finanzminister verschlissen. Wer ihm widerspricht, wird gefeuert. Nach seiner Logik wird die Inflation durch zu hohe Zinsen verursacht, er verlangt Zinssenkungen. Nach langem Widerstand gab die türkische Zentralbank Erdogans Drängen und Drohen nach – mit der leicht absehbaren Folge, dass die Lira bei jeder Zinssenkung weiter abstürzte. Negative Zinsen in Höhe von mehr als minus sechs Prozent machen auch die türkischen Anleger:innen nervös. Erdogan und seine Anhänger:innen wittern derweil eine Verschwörung von «äusseren» und «inneren» Feinden, die den Lirakurs manipulieren würden. Jüngst beschuldigte Erdogan fünf Supermarktketten in der Türkei als Preistreiber:innen. Dabei ist er selbst es, der die Lira mit abenteuerlichen Zinssenkungen immer wieder auf Talfahrt schickt.

Fallen massenhaft Türkeikredite aus, haben europäische Banken ein dickes Problem. Die nächste europäische Bankenkrise kann uns schon 2022 ins Haus stehen, gefolgt von einer weltweiten Krise an den Anleihemärkten. Die Zeichen stehen auf Sturm. Die türkische Währungskrise kann zum Auslöser einer neuen internationalen Finanzkrise werden.