Durch den Monat mit Gianna Olinda Cadonau (Teil 4): Sprichst du mit deinem Sohn über deine Geschichte?

Nr. 4 –

Gianna Olinda Cadonau hat keine Lust, Fremden in den ersten fünf Minuten ihr halbes Leben zu erzählen. Erst in den letzten Jahren hat sie ein «Wir» gefunden – dank antirassistischer Bewegungen und Schriftsteller:innen wie Ocean Vuong.

Gianna Olinda Cadonau: «Ramun hat schon sehr viel verstanden, auch dank ‹Kung Fu Panda›.»

WOZ: Gianna, du hast vergangene Woche erzählt, wie du in Goa deine leibliche Mutter gesucht und nicht gefunden hast. Beschäftigt dich das noch?
Gianna Olinda Cadonau: Ja, immer wieder. Es bleibt etwas Unaufgelöstes, eine Leerstelle. Und die macht viel von mir aus: wie ich ans Leben herangehe, wie ich schreibe, was ich schreibe – dass ich überhaupt schreibe, wahrscheinlich.

Ich musste immer alles für mich übersetzen – schon in der Schule, wenn wir uns zum Beispiel vorstellen sollten, wie es gewesen wäre, im Zweiten Weltkrieg in Deutschland zu leben. Soll ich diese Frage so beantworten wie die anderen, also so tun, als wäre ich weiss? Denn als indisch aussehendes Mädchen hätte ich wahrscheinlich gar keine Wahl gehabt. Du fällst extrem auf in einer Klasse mit lauter Weissen, aber du bist doch nie repräsentiert.

Und heute?
Erst in den letzten Jahren, mit den ganzen Diskussionen über «race» und Black Lives Matter, ist mir bewusst geworden, dass es ein Vokabular gibt für das, was ich bin. Eine Sprache für das, was ich empfinde – zum Beispiel, wenn die Frage «Woher kommst du?» gestellt wird. Sagst du «Chur» oder das, was das Gegenüber hören will? Und dann erzählst du, dass du adoptiert bist und deine leiblichen Eltern nicht kennst, im Smalltalk, bei der ersten Begegnung. «Oh, krass, wie ist das so?» Das macht jedes Mal etwas mit mir.

Du musst deine halbe Lebensgeschichte erzählen zu einem Zeitpunkt, wo man das eigentlich nicht macht.
Ja, und auch nicht will – aber ich bin kein unhöflicher Mensch, der zurückfragt: «Ja, woher kommen denn deine Eltern? Bist du die leibliche Tochter deines Vaters? Bist du sicher?» Ich will ja nicht, dass die Stimmung kippt. Denn das ist es, was passiert, wenn man sagt: He, das ist nicht in Ordnung. Wenn ein weisser Mensch einen braunen oder schwarzen Menschen zu diesem Zeitpunkt so etwas fragt, ist das eigentlich immer rassistisch. Wenn wir in fünf Stunden noch hier sind und Wein trinken, erzähle ich dir gern von meiner leiblichen Mutter … Meine Geschichte ist ja auch kein Tabu.

Bist du mit Leuten befreundet, mit denen du deine Erfahrungen teilen kannst?
Leider fast nicht. Ich wohne nicht in einem grossen urbanen Zentrum, und ich bin auch ohne solche Freundschaften sozialisiert. Das ist ja eine interessante Realität des Rassismus: Es sind nicht ausschliesslich die einzelnen Menschen, die rassistisch denken, es ist ein Wertesystem. Auch für mich selbst ist der normale Standard weiss, männlich, cis. Darum ist mir erst jetzt, seit ich aktiv in Podcasts, auf Youtube und in Büchern nach diesen Themen suche, klar geworden: Aha, es gibt mich auch in der Welt. Es gibt andere wie mich. Wir sind jemand. Der vietnamesisch-amerikanische Schriftsteller Ocean Vuong ist sehr wichtig für mich. Er gehört zu meinem Wir. Wenn ich das so auswählen kann.

Wie gehst du bei der Arbeit mit diesen Themen um?
In der Lia Rumantscha führen wir gerade inklusive Sprache ein. Ich diskutiere auch mit Asa Hendry, einer:einem nonbinären Freund:in, Autor:in und Performer:in. In ihrer:seiner Arbeit thematisiert Asa, dass es auf Romanisch noch gar keine Sprache für diese Thematik gibt. Uns beiden geht das nahe: repräsentiert sein, sichtbar sein in der Sprache. Ganz lange habe ich einfach als normal akzeptiert, was ich erlebe. Jetzt habe ich die Hoffnung, dass es möglich ist, die Gesellschaft durchlässiger und bewusster zu machen. Ich kann an den verhärteten Strukturen verzweifeln – oder einfach dort, wo ich bin, in jeder Situation versuchen, so ehrlich mir selbst gegenüber zu handeln, wie ich es kann. Und wie ich es im Moment aushalte.

Redest du mit deinem Sohn darüber?
Ja. Er hat schon sehr viel verstanden, auch dank des Films «Kung Fu Panda». Wir haben festgestellt, dass in ganz vielen Abenteuergeschichten die Kinder keine Eltern haben. Ramun hat das eine Zeit lang fast nicht ertragen – es machte ihm Angst, wenn die Eltern in den Märchen sterben.

Aber er hat dann verstanden: Das muss so sein, damit man diese Geschichten überhaupt erzählen kann. Denn die Eltern würden das Kind ja beschützen, es könnte nicht in die Welt hinausrennen und all diese Dinge erleben. Kung Fu Panda ist von einem Gänserich adoptiert worden und merkt irgendwann, dass er ganz anders aussieht als sein Vater. Da hat Ramun verstanden, dass das bei mir ja auch passiert ist.

Eine Zeit lang hat ihn das sehr beschäftigt. Er wusste nicht mehr, was er von meinen Adoptiveltern halten soll. Sind sie jetzt meine richtigen Eltern? Seine richtigen Grosseltern? Ich habe ihm dann gesagt, dass es hier kein Richtig oder Falsch gibt, es gibt ein «Noni» in Indien, eins im Engadin und auch noch eins in Deutschland, er hat mehr Grosseltern als die anderen. Danach hat er oft mit einem gewissen Stolz gesagt: «Ich bin ein bisschen aus der Schweiz, ein bisschen aus Deutschland und ein bisschen aus Indien.»

Gianna Olinda Cadonau (38) ist Lyrikerin und leitet bei der Lia Rumantscha, dem Dachverband der rätoromanischen Sprachverbände, den Bereich Kultur. Auch die Bücher von Mithu Sanyal und Alice Hasters bedeuten ihr viel.