Literatur: Der grosse Hack

Nr. 23 –

Sibylle Bergs neuer Roman «RCE» erzählt vom kommenden Aufstand gegen das Gesamtdesaster namens Gegenwart.

In ihrem Roman «RCE» zeichnet Sibylle Berg (rechts) ein grelles Panorama der Vielfachkrise: Szene aus «RCE360˚», dem Virtual-Reality-Film zum Buch. Still: sibylleberg.com/buecher/rce-remotecodeexecution

Die Welt ist aus den Fugen geraten, und das klingt längst nicht mehr wie eine Plattitüde linker Krisendiagnostik. Eher ist die allgemeine Lage so, dass der Philosoph Slavoj Zizek eben erst im SRF die Pandemie, den russischen Angriff auf die Ukraine und die Ernährungskrise mit den Seuche, Krieg und Hunger repräsentierenden apokalyptischen Reitern aus der Bibel gleichsetzen konnte, ohne dass das allzu irre gewirkt hätte. Wen würde es schon wundern, regnete es jetzt auch noch Frösche.

Wenn nun ein Buch das gegenwärtige Gesamtdesaster virtuos zu Literatur verdichtet, dann ist das Sibylle Bergs neuer Roman «RCE. #RemoteCodeExecution». Die Fortsetzung ihres Bestsellers «GRM. Brainfuck» (2019) spielt zwar wie dieser erst in der nahen Zukunft. Weil aber die in Zürich lebende Deutsch-Schweizerin Fingiertes und bereits Reales ununterscheidbar ineinanderfliessen lässt, entsteht ein grelles Panorama der Vielfachkrise.

Bei Berg klingt das dann beispielsweise so: «Jeder machte vollkommen ohne nachzudenken irgendwas, das ihm oder ihr nach Gewinn klang. Den Regenwald abholzen oder Kohlegruben ausheben, Abgaswerte verfälschen und krebserzeugende Gifte ins Grundwasser ablassen, marode Brücken in Betrieb lassen. Oder schlecht gewartete Flugzeuge am Himmel. Jeder schien aus der untergehenden Welt noch ein wenig Leben pressen zu wollen und kümmerte sich nur noch um sich selber, seinen Gewinn, sein Leben, und das – passierte eben, wenn keiner sich mehr für ein Teil von vielen hielt.»

Vereinzelt und verblödet

Das Zitat zeigt schon: Subtil geht es in «RCE» nicht zu, bei Berg wird mit dem Hammer politisiert. Das mag nicht besonders elegant sein, stört aber nicht, hat man es doch mit einer Autorin zu tun, die nicht nur ein diffuses Unbehagen an der Gegenwart formuliert, sondern wirklich unbequeme Haltungen vertritt. Wie zum Beispiel die Infragestellung der Eigentumsverhältnisse.

«RCE» erzählt nun von einer Welt, in der Innovationen aus dem Silicon Valley den Alltag beherrschen, in der die Menschen vereinzelt und wegen all der Apps ihrer kognitiven Fähigkeiten beraubt sind, während demokratische Rechte ausgehebelt wurden. Aber es geht auch um den Widerstand gegen diese gesellschaftliche Katastrophe: Eine Gruppe Hacker:innen versucht, dem System den Stecker zu ziehen – und zettelt eine Revolution an. Daher rührt auch der Titel: «Remote Code Execution» ist ein Angriff, den Hacker:innen auf fremde Computer starten, um bösartigen Code einzuspeisen. In Bergs Buch dienen die Cyberattacken der Weltrettung.

Das klingt nach einem ordentlichen Plot, eine echte Handlung und Protagonist:innen mit nennenswertem Innenleben hat «RCE» allerdings nicht. Eher ist das Buch ein Rechercheroman, in dem reale Entwicklungen ins Dystopische extrapoliert werden. Das liest sich bisweilen etwas sperrig, zumal Berg in fast jedem Absatz eine Pointe platziert. Davon sind aber zum Glück eigentlich alle gut. So heisst es etwa einmal über die Schweiz, dass diese früher ein Armenhaus gewesen sei: «Darum identifizieren sich die Menschen unterdessen mit den Milliardären, die wegen Repressalien von irgendwo geflohen waren. Es gab diese starke humanistische Tradition im Land.»

Sebastian gehts um Fairness

Ätzend ist auch das Porträt einer Milliardärin namens Freia, die Normalsterbliche prinzipiell für Untermenschen hält. Oder dasjenige Sebastians, den Berg mittels Steckbrief so einführt: «Lebensstil: bewusster Verzicht. Gesundheit: Missbrauch körpereigener Hormone durch ständige Erregung über den Zustand der Erde. Sexualität: da lief mal was mit Ulrike.» Dieser Sebastian, der sich bei den deutschen Grünen engagiert, hat einen kurzen Auftritt, weil er sich über die von den Hacker:innen auch mittels Fake News über die Herrschenden gestiftete Unruhe empört: Er «verteidigte im Netz die Regierungen, die EU, die NATO, die KapitalistInnen, weil es um Fairness ging. Um einen Kampf mit gleich langen Waffen sozusagen.»

Ist das schon Ressentiment? Vermutlich. Aber man kann sich ja schon mal fragen, inwieweit ein saturierter Linksliberalismus, der den kapitalistischen Verheerungen primär mit divers besetzten Gesprächsrunden beikommen will, die Katastrophe weiter befeuert. Dagegen könnte Berg politisch tatsächlich, wie der Rezensent der «Zeit» meinte, eine Art authentischer Linkspopulismus vorschweben, der ohne Übernahme rechter Positionen auskommt.

Nimmt man das von Sibylle Berg skizzierte Revolutionsrezept allerdings ernst, drängt sich die Frage auf, ob da nicht traditionelle Vorstellungen im digitalen Gewand recycelt werden: Dass eine Revolution zwingend als ereignishafter Einschnitt zu denken ist, wie es das Vorbild der Bolschewiki nahelegt und es auch in «RCE» durchgespielt wird, zweifeln linke Theoretiker:innen bereits seit hundert Jahren an. Und eine Avantgarde aus Hacker:innen, die die Massen mittels Nudging clever zum Aufstand stupst, ist noch immer eine Avantgarde, die hinterher geneigt sein könnte, den Leuten einfach weiterhin alle Autonomie zu verweigern. Was aber könnte aufregender sein als ein Roman, der solche Fragen für das Hier und Heute neu aufwirft?

Sibylle Berg: RCE. #RemoteCodeExecution. Kiepenheuer & Witsch. Köln 2022. 697 Seiten. 37 Franken