Sparmassnahmen in Italien: Sollen sie etwa hungern?

Nr. 32 –

Hunderttausende Italiener:innen wurden per SMS darüber informiert, dass sie per sofort kein Bürgergeld mehr erhalten. Auch andere Massnahmen gegen die Armut, etwa einen Mindestlohn, schmettert die Regierung Meloni ab.

Maria Elvira Calderone lebt in einer Parallelwelt. «Diese Regierung nutzt jede Stunde, um die soziale Unzufriedenheit zu verringern», behauptet die parteilose Ministerin für Arbeit und Soziales im Kabinett von Giorgia Meloni, «während die anderen sich bemühen, Zwietracht zu säen.» Anlass für Calderones Klagen: Protestaktionen in etlichen Städten gegen die Entscheidung der Regierung Anfang August, 169 000 Haushalten das ohnehin schon klägliche «Bürgereinkommen» («reddito di cittadinanza») per sofort zu streichen. Bis Ende Jahr soll die Sozialhilfe auch an die restlichen rund 80 000 Haushalte nicht mehr ausbezahlt, also gänzlich abgeschafft werden.

Calderone wurde damit zur Hassfigur. Auch, weil die ihr unterstehende staatliche Sozialbehörde (INPS) ihren Entscheid den Betroffenen per SMS oder Mail mitgeteilt hatte. Unter erheblichem Druck räumte Calderone schliesslich Mängel in der Kommunikation ein. Die von der Regierung getroffene Entscheidung verteidigt sie aber – trotz der heftigen Proteste – bis heute.

Immer mehr prekäre Jobs

Eingeführt wurde das Bürgergeld 2018 auf Betreiben der gemeinsam mit der rechtsnationalen Lega regierenden Fünf-Sterne-Bewegung. Deren damaliger Chef, Luigi Di Maio, behauptete, mit der Massnahme werde in Italien «die Armut abgeschafft». Das war offensichtlich gelogen: Das Bürgergeld beträgt monatlich höchstens 780 Euro und wurde immer nur für maximal zwei Jahre ausbezahlt. Die Bezüger:innen sind ausserdem zu unentgeltlicher «gemeinnütziger» Arbeit verpflichtet. Wenn sie zwei (früher drei) ihnen angebotene Jobs ablehnen, wird ihnen die Unterstützung gestrichen.

Trotzdem ist das Bürgergeld für viele überlebenswichtig. Besonders von Armut betroffen ist der Süden des Landes – und dort vor allem Frauen und alte Menschen. Auch Junge kämpfen mit Armut: Deren klassische Einnahmequelle ist schlecht bezahlte Saisonarbeit in Tourismus und Gastronomie.

Immerhin soll im nächsten Jahr mit dem neuen «assegno di inclusione» ein sogenanntes Inklusionsgeld eingeführt werden. Erhalten sollen es nicht arbeitsfähige Menschen und Familien mit chronisch kranken Kindern. Vorausgesetzt, ihr Antrag wird von den zuständigen Behörden bewilligt. Denen aber mangelt es an Personal und digitaler Infrastruktur. Die Mängel in der Verwaltung zeigen sich bereits heute – etwa bei der Bearbeitung von Anträgen für berufliche Weiterbildung. Als Integrationsmassnahme können Erwerbslose dafür maximal ein Jahr lang monatlich 350 Euro erhalten.

Um berufliche Qualifizierung geht es bei diesen Programmen tatsächlich aber kaum. Wenn überhaupt, dann werden in der Regel lediglich prekäre Jobs vermittelt: schlecht bezahlt, befristet und ohne Kündigungsschutz oder Urlaubsanspruch. Die Regierung Meloni hält – so wie schon ihre Vorgänger:innen – am Dogma fest, Arbeit sei der sicherste Weg aus der Armut.

Dass es in Italien eine grosse Anzahl armutsbetroffener Arbeiter:innen gibt, spricht allerdings gegen diese Annahme. Auch deshalb ist zuletzt die Diskussion um einen staatlich garantierten Mindestlohn neu entbrannt. Die Oppositionsfraktionen fordern neun Euro pro Stunde. Das ist wenig, aber immer noch mehr als in diversen traditionell unterbezahlten Sektoren üblich. Viele migrantische Tagelöhner:innen in der Landwirtschaft verdienen gerade einmal dreissig Euro für einen zehnstündigen Arbeitstag.

Die Regierung lehnt derweil jede Art von Mindestlohn ab und verweist auf die Tarifautonomie. Doch nicht überall sind Löhne und Arbeitszeiten zwischen Unternehmen und Gewerkschaften vertraglich geregelt. Und selbst wenn, bedeutet das nicht zwingend, dass die Verträge auch fair sind: «Piratenverträge», die lediglich Hungerlöhne garantieren, sind nicht unüblich.

Dabei wäre die Exekutive eigentlich zu aktiver Arbeitsmarktpolitik verpflichtet, worauf auch mehrere Verfassungsrechtler:innen hinweisen: «Es ist Aufgabe der Republik, die Hindernisse wirtschaftlicher und sozialer Art abzuschaffen, die tatsächlich die Freiheit und Gleichheit der Bürger einschränken», heisst es in Artikel 3 der Verfassung von 1948.

Schöne Worte. In konkrete Politik umgesetzt wurden sie bislang aber nur selten. Eine Massnahme im Geiste der Verfassung war das 1970 erkämpfte «statuto dei lavoratori»: Das «Arbeiterstatut» garantierte einst einen weitreichenden Kündigungsschutz. Doch 2015 wurde dieser unter der Mitte-Links-Regierung von Matteo Renzi stark eingeschränkt. Bis heute gibt Renzis neoliberales Gesetzespaket, der «Jobs Act», den Takt für die zunehmende Prekarisierung des Arbeitsmarkts vor.

Davor bieten selbst akademische Ausbildungen keinen Schutz: Auch viele Studienabgänger:innen finden nur befristete Jobs. Wenn im September das neue Schuljahr beginnt, werden an den Schulen rund 150 000 befristet angestellte Beschäftigte arbeiten. Und trotzdem fehlen dem Schulwesen gemäss Berechnungen der Gewerkschaft Bildung und Wissenschaft dann immer noch 85 000 Lehrkräfte.

Die kleinen Leute schützen?

Angesichts solcher Zustände sieht sich die regierende Koalition zunehmend auch mit Kritik aus den eigenen Reihen konfrontiert, zumindest in den Kommunen, die das wachsende soziale Elend verwalten müssen. Die Opposition im nationalen Parlament präsentiert Vorschläge, um die Staatseinnahmen zu erhöhen: Sie fordert, Steuerhinterziehung intensiver zu bekämpfen und Steuern auf Übergewinne von Energiekonzernen und Gesundheitsunternehmen. Beides lässt sich mit Melonis Rechtsregierung aber nicht umsetzen. Immerhin erliess sie diese Woche ein Dekret, das eine Sondersteuer auf die derzeit hohen Zinserträge von Banken vorsieht. Das überrascht aber nur auf den ersten Blick: Wenn Mitglieder der Regierung überhaupt ökonomische oder soziale Probleme eingestehen, machen sie fremde Mächte dafür verantwortlich, etwa die Europäische Zentralbank, die mit ihrer Zinserhöhung die italienische Wirtschaft belaste.

Angetreten ist die Regierung zwar mit dem Versprechen, die «kleinen Leute» zu schützen – sofern es sich dabei um italienische Staatsbürger:innen handelt. Bei einer offiziellen Inflation von sechs Prozent mussten die Beschäftigten in den vergangenen zwei Jahren aber einen Kaufkraftverlust von zehn Prozent hinnehmen. Die Umverteilung von unten nach oben schreitet demnach weiter voran. Infrastrukturminister und Vizepremier Matteo Salvini (Lega) verhönt derweil die Armen: Die Abschaffung des Bürgereinkommens richte sich vorrangig gegen dreissigjährige Faulenzer:innen, die sich bei den Eltern auf dem Sofa räkeln würden, statt zu arbeiten, sagte er kürzlich.

Währenddessen verweist Giorgia Meloni gern darauf, dass Italien höhere Wachstumsraten verzeichne als Deutschland. Stolz hebt sie ausserdem Italiens gewachsene Bedeutung in der internationalen Politik hervor: als anerkannte Grösse in der «westlichen Wertegemeinschaft» und insbesondere beim Ausbau der europäischen Migrationsabwehr. Meloni in Tunesien an der Seite Ursula von der Leyens bei schmutzigen Deals mit dem dortigen Regime – solche Bilder mögen die rechte Klientel begeistern. Dass sie auf die Dauer reichen, um Melonis derzeit noch stabile Beliebtheitswerte zu erhalten, muss aber bezweifelt werden.