Literatur: Geister der Vergangenheit

Nr. 34 –

«Ich habe wie ein Wahnsinniger getötet. Mit jeder Leiche habe ich mich Portugal hingegeben. 1979 bin ich nach Lissabon gekommen, ein Soldat, der heimkehrt in das Haus seines Vaters», sagt Boa Morte irgendwann. «Bei meiner Ankunft hat mein Vater mir die Tür geöffnet, aber er hat mich nicht erkannt.» Boa Morte, ursprünglich aus Angola, hat in Guinea-Bissau auf der Seite der Kolonialmacht Portugal gekämpft. Jetzt ist er ein alter Mann und hält sich mit Parkplatzeinweisen über Wasser. Am Leben hält ihn die Lebensbeichte, die er mal schriftlich, mal in Gedanken an seine Tochter Aurora formuliert – und Fatinha, die zwanzigjährige Obdachlose, die zwischen Pappkartons an der Bushaltestelle lebt und «wirres Zeug» redet. Ein bisschen auch noch der Hund Jardel, der ihm zugelaufen ist, und der Gemüsegarten, um den er sich im kleinen Kollektiv von Randexistenzen kümmert.

Nützt alles nichts. «Dein Vater hat den Tod geschluckt», gesteht er der imaginierten Tochter irgendwann, der Nabelbruch, Sinnbild seiner Sünden, schmerzt und schwillt: «Dein Vater geht schwanger mit dem Tod.» In fiebrigen, lyrischen Passagen schildert Boa Morte die Streifzüge, die ihn durch Lissabons Strassen wie auch in seine inneren Abgründe führen. So alles durchdringend sein Blick dabei ist, mitunter gnadenlos, wenn es ihn selbst betrifft, so warm und teilnahmsvoll umhüllt er die zerlumpten, obdachlosen Gestalten des Chiado-Viertels. Nur selten verlässt Djaimilia Pereira de Almeida den Sog seiner langen, gewundenen Schilderungen in Ich-Form, um ihn als Erzählerin von aussen zu betrachten. Als tauchte man beim Lesen kurz auf, um Luft zu holen, bevor man wieder versinkt und sich mitreissen lässt von den Worten und Sätzen dieses Getriebenen.

Anders als «Im Auge der Pflanzen» (2022) spielt «Seebeben» in der Gegenwart, aber in beiden Romanen ist der Schatten der Geister der kolonialen Vergangenheit lang, ein Trauma, das die 1982 in Angola geborene und in Portugal aufgewachsene Almeida in komplexen Figuren spiegelt und in schillernde Sprache verwandelt.

Buchcover von «Seebeben»
Djaimilia Pereira de Almeida: «Seebeben». Roman. Aus dem Portugiesischen von Barbara Mesquita. Unionsverlag. Zürich 2023. 160 Seiten. 34 Franken.