Seenotrettung: Kein Ton von den Behörden

Nr. 34 –

Der Filmemacher Davide Tisato heuerte auf der «Open Arms» an, um eine Mission des Rettungsschiffs zu filmen. Hier berichtet er, wie die Crew an einem Tag fast 300 Menschen rettete.

Ein Schlauchboot der «Open Arms» nimmt Geflüchtete auf.
Naht Rettung, wird es noch einmal gefährlich. Erst wenn alle Schwimmwesten tragen, ist das Schlimmste überstanden. Ein Schlauchboot der «Open Arms» nimmt Geflüchtete auf.

Am frühen Morgen des 6. Juli, um 4.30 Uhr, signalisiert uns die zivile Koordinationsstelle Alarm Phone die Position eines seit drei Tagen herumtreibenden Bootes: vierzig Seemeilen von uns entfernt, 110 Personen an Bord. Das Rettungsschiff Open Arms geht auf Kurs. Das Boot befindet sich eigentlich in der maltesischen Such- und Rettungszone (SAR-Zone). Die maltesischen Behörden ignorieren unsere Kontaktversuche per Funk, Mail und Telefon.

Um 6.30 Uhr sind unsere zwei Rettungsteams bereit. Es fehlen nur noch 20 Seemeilen, also rund 37 Kilometer, bis zum Boot. Unsere zwei mit Schwimmwesten beladenen Festrumpfschlauchboote werden zu Wasser gelassen, wir preschen mit maximaler Geschwindigkeit über die Wellen. Bald verschluckt der Horizont hinter uns die «Open Arms». Still und konzentriert starren die Rettungsteams nach vorn.

Nach etwa zwanzig endlosen Minuten erscheint vor dem Bug der Schlauchboote die Silhouette eines blauen Kahns. Darauf zahlreiche Hände, die uns verzweifelt zuwinken.

Spiegelglattes Meer

Die Mission Nr. 101 der katalanischen Seenotrettungs-NGO Open Arms beginnt fünf Tage zuvor, am 1. Juli. Mit Verspätung, weil Inspektionen durch die italienischen Behörden im Hafen von Neapel die Abfahrt verzögert haben.

Während der ersten drei Tage wird das zwanzigköpfige Team aus Professionellen und Freiwilligen trainiert. Mit den zwei Festrumpfschlauchbooten, die im Fachjargon RHIBs genannt werden, üben wir mehrere Rettungsszenarien auf offener See.

Esther gibt von der Kommandobrücke per Funk Anweisungen. Sie ist auf der «Open Arms» verantwortlich für die Koordination und entscheidet, in welchen Gewässern das Schiff patrouilliert. Schon mehr als 67 500 Menschen in Seenot hat die NGO seit ihrer Gründung 2015 gerettet.

Nach drei Tagen Training fahren wir in Richtung der libyschen Küste. Von jetzt an besteht jederzeit die Möglichkeit, dass uns ein Boot in Seenot begegnet. Das Meer ist spiegelglatt. Weit und breit ist nichts am Horizont zu sehen ausser dem Flimmern der Hitze. Die Rettungsschwimmer:innen lungern angespannt auf dem Deck herum.

Am späten Nachmittag nähert sich uns ein Schiff der libyschen Küstenwache. Kapitän Erri gibt uns den Befehl, uns sofort ins Innere des Schiffes zu begeben. Obwohl die «Open Arms» das Recht hat, sich ausserhalb der libyschen Territorialgewässer in der SAR-Zone des Landes aufzuhalten, ist es schon vorgekommen, dass die Crew von der libyschen Küstenwache mit Schusswaffen bedroht wurde. Dieses Mal zieht deren Schiff ohne Interaktion an uns vorbei.

«Ein Boot! Ein kleines Boot am Horizont an der Backbordseite, ungefähr zwischen 10 und 11 Uhr!», hören wir am nächsten Morgen früh aus den Funkgeräten, die wir alle um den Hals tragen.

«Verliere es ja nicht aus den Augen! Wir ändern den Kurs. Kannst du mir nochmals die Richtung angeben?»

«Ungefähr zwischen 10 und 11 Uhr an der Backbordseite.»

Wir nähern uns dem rostigen, aus Eisenplatten zusammengeschweissten Boot. Es ist leer und treibt wie ein Gespenst an uns vorbei. Die Crew starrt still von der Reling. «Die Seenotrettungs-NGOs bringen normalerweise mit Spraydosen das Datum der Rettung und ihre Kürzel auf den Booten an», sagt Esther, «die italienische und die libysche Küstenwache nicht.»

Die Personen von diesem Boot wurden wahrscheinlich nach Libyen zurückgeschafft. Das ist ein Verstoss gegen internationales Seerecht: Die für ein Meeresgebiet zuständigen Staaten sind nach der Rettung von Menschen in Seenot dazu verpflichtet, deren Sicherheit sicherzustellen. In Libyen droht ihnen Folter.

Auf Odyssee

Der Regisseur und Soziologe Davide Tisato ist 1990 in Italien geboren und in Heiden AR aufgewachsen. Er hat auf dem Rettungsschiff Open Arms angeheuert, um im Rahmen des 2019 gemeinsam mit dem spanischen Künstler Samuel Granados initiierten politischen Kunst- und Storytellingprojekts «Ulysses. Uncharted Journeys. A Collective Atlas of the Modern Migration» zu filmen.

Die «Open Arms» patrouilliert weiter parallel zur libyschen Küste. Die Augen der Wachposten schweifen rastlos über den Horizont. Auf der Kommandobrücke horchen Esther und Erri dem Funk. Allein an diesem 4. Juli registrieren sie mehr als fünfzig Hilferufe – immer wieder von denselben Booten. Kein Ton vonseiten der zuständigen maltesischen Behörden.

Die Boote in Not befinden sich ungefähr hundert Seemeilen von uns entfernt zwischen Tunesien und Lampedusa. Dahin zu gelangen, dauert etwa zehn Stunden. Wir würden vermutlich zu spät eintreffen. Esther trifft die Entscheidung, stattdessen noch eine Nacht vor der libyschen Küste auszuharren. Auch hier könnten jederzeit Boote am Horizont erscheinen. Jetzt Richtung Norden aufzubrechen, würde bedeuten, diese Boote im Stich zu lassen.

Es ist Nacht. Alle Lichter auf der «Open Arms» sind aus, damit die Wachposten jedes kleinste Blinken auf dem weiten Meer erkennen können. Ausser dem Rauschen der sich wiederholenden Notrufe im Funk ist es still auf dem Schiff. Esther raucht eine Zigarette an der Luke der Kommandobrücke und starrt mit müden Augen besorgt in die schwarze Leere.

Lang vor Tagesanbruch heisst es: volle Kraft voraus Richtung Norden – in die Gegend zwischen Tunesien und Lampedusa. Die Besatzung ist angespannt und wortkarg. Derzeit befindet sich dort kein Rettungsschiff anderer NGOs.

Und dann meldet sich um 4.30 Uhr Alarm Phone mit dem Hinweis auf das herumtreibende Boot mit 110 Menschen an Bord.

Alle sicher an Bord

«Please keep calm! We are here to rescue you. Is there somebody who speaks English?», schreit einer unserer Rettungsschwimmer, als wir mit unseren zwei RHIBs den blauen Kahn erreichen. Die Bootsinsass:innen zeigen nervös auf einen Mann in ihrer Mitte.

«Okay. I need your cooperation to translate for the others. Please sit down. Keep calm and don’t move. Please don’t move!» Das ist der gefährlichste Moment. Zu viel Unruhe auf dem überladenen und schon schief im Wasser liegenden Boot könnte es zum Kentern bringen. An Bord befinden sich keine Schwimmwesten – viele der Flüchtenden würden sterben.

Sie kauern eng zusammengepfercht auf dem Deck und im kleinen Innenraum des Fischkutters. Eine Frau klammert sich an einer in Plastik gehüllten Marienikone fest. Tränen laufen ihr übers Gesicht. Wir versuchen herauszufinden, ob jemand auf dem Boot dringend medizinische Hilfe braucht, während wir Schwimmwesten überreichen.

Alle Menschen an Bord sind noch am Leben, aber dehydriert und erschöpft von der dreitägigen Reise. Auf halber Strecke ist ihnen der Treibstoff ausgegangen. Einen Kompass gibt es auf dem Boot nicht. Ohne Navigationsinstrumente und Erfahrung die kleine Insel Lampedusa erfolgreich anzusteuern, käme einem Wunder gleich.

Gut sechs Stunden später sind alle Personen sicher an Bord der «Open Arms». Sie erhalten Verpflegung und werden medizinisch versorgt. Koch Victor hat Kaffee gemacht. Erschöpft ziehen wir die Helme und die Neoprenanzüge aus. Aber kaum haben wir uns hingesetzt, kommt aus den Funkgeräten der Befehl: «Rettungsteams sofort bereit machen. Wir haben einen Notruf in der Nähe!»

Hastig stürzen wir den Kaffee herunter, und schon fünf Minuten später werden die neu mit Schwimmwesten vollgeladenen RHIBs wieder zu Wasser gelassen. Mit vollem Tempo brausen wir in Richtung der angegebenen Koordinaten.

Als wir vor Ort ankommen, steht das Wasser nur eine Handbreit unter dem Dollbord, dem oberen Rand des offenen, rostigen Bootes. Verzweifelt schöpfen zwei der Flüchtenden mit Plastikschalen Wasser ab. Die RHIBs nähern sich mit präzisen Manövern. Eine Welle oder ein leichtes Anstossen könnte das Boot zum Sinken bringen.

Verzögerungstaktiken

Während die Seenotretter:innen noch Schwimmwesten verteilen, erkennen wir am Horizont vier weitere Boote – alle voll belegt. Sie seien am Vorabend in der Nähe von Sfax in Tunesien losgefahren, erzählt einer der Flüchtenden. Zum Glück ist das Meer spiegelglatt. Die prekär zusammengeschweissten Boote wären sonst längst gesunken.

Am Abend befinden sich 299 Geflüchtete an Bord der «Open Arms». Die Rettungsteams setzen sich todmüde an den Tisch, um etwas zu essen. Auf dem Deck kümmert sich ein Teil der Besatzung noch bis spät in die Nacht um die Grundbedürfnisse der Geretteten. In derselben Nacht wird von den italienischen Behörden kommuniziert, welchen Hafen die «Open Arms» ansteuern muss. Es ist Brindisi. Die Hafenstadt ist in ungefähr siebzig Stunden erreichbar.

Sizilianische Häfen lägen viel näher. Unter der Regierung von Giorgia Meloni werden die Seenotrettungs-NGOs aber bewusst angewiesen, in weit entfernt gelegenen Häfen anzulegen. «Wenn sie uns nach Brindisi schicken, verlieren wir sechs Tage, an denen Boote unbeaufsichtigt untergehen», sagt Esther. «Ohne Seenotrettungs-NGOs wird nicht dokumentiert, was da geschieht.»

Ein Dekret der Regierung Meloni zwingt die Rettungsschiffe ausserdem, den zugewiesenen Hafen sofort anzusteuern, sobald eine Rettungsaktion abgeschlossen wurde. In der Praxis heisst das, dass die Schiffe meist nur eine Rettung durchführen können und die «kritischen» Gebiete danach sofort verlassen müssen, auch wenn sie noch die Kapazität hätten, weitere Menschen aufzunehmen. Denjenigen, die sich nicht an diese neuen Vorschriften halten, drohen Geldstrafen und sogar die Beschlagnahmung ihres Schiffes.

Die Sonne geht auf. Das Deck ist voll belegt – überall in Wolldecken gehüllte Menschen. Kein Fussbreit Platz zwischen den Schlafenden. «Mir war bewusst, dass ich nur fünfzig Prozent Überlebenschance hatte, als ich in das Boot stieg», erzählt einer der Geretteten. «Aber das ist besser als die Hölle, die ich in Tunesien erlebt habe.»

Die «Open Arms» tuckert in Richtung Brindisi. Kapitän Erri horcht besorgt den Funk ab. Weitere Notrufe treffen ein. Ein Fischkutter mit 250 Menschen an Bord braucht dringend Hilfe. Er befindet sich zwischen der libyschen und der maltesischen SAR-Zone, dort, wo wir uns noch vor ein paar Tagen aufgehalten haben. Die «Open Arms» darf den Kurs aber nicht verlassen, sonst würde sie von den italienischen Behörden blockiert. «Das Einzige, was wir machen können, ist, so schnell wie möglich Brindisi zu erreichen, die Personen auszuschiffen und sofort wieder in See zu stechen», murmelt Erri.

Nach drei rastlosen Tagen erreichen wir am Nachmittag des 9. Juli erschöpft den Hafen von Brindisi. Für die 299 Geretteten beginnt ein neues Kapitel. Kaum sind sie an Land gegangen, bereitet die Besatzung die «Open Arms» auf die nächste Mission vor.

Verschiedene NGOs, darunter Sea Watch, haben inzwischen dokumentiert: Der Fischkutter, dessen Notrufe wir auf der Rückfahrt gehört hatten, wurde von der Miliz des libyschen Kriegsherrn Chalifa Haftar aus der maltesischen SAR-Zone illegal nach Libyen zurückgeschafft.