Silvia Federici: «Die Nacht zu einem gefährlichen Ort zu machen, war im Interesse der Mächtigen»

Nr. 41 –

Sie zeigt, dass Hexenverfolgung und Entstehung des Kapitalismus eng zusammenhingen – und propagiert Gemeingüter als feministische Verteidigungsstrategie: Eine Begegnung mit Silvia Federici in Glarus, wo 1782 Europas letzte «Hexe» hingerichtet wurde.

Portraitfoto von Silvia Federici
«Frauen, Mi­grant:in­nen, Nichtsesshafte, aufständische Bäuerinnen und Bauern. Eine ganze Welt, die diszipliniert werden musste. Natürlich hiess es danach bald: Die Hexenverfolgung war Aberglaube»: Silvia Federici.

Wie konnte das geschehen? Diese Frage geht wohl vielen durch den Kopf, wenn sie von Anna Göldis Geschichte erfahren. Wie war es möglich, dass noch Ende des 18. Jahrhunderts in Glarus eine Frau als Hexe hingerichtet wurde, nur sieben Jahre vor der Französischen Revolution? In einer Zeit, als aufgeklärte Männer in Lesegesellschaften Ideen debattierten, die dem Land Fortschritt bringen sollten? In einem Kanton, der sich rasant industrialisierte? Wie passt so etwas Archaisches, Abergläubisches wie die Hexenjagd in dieses Bild?

An einem regnerischen Spätsommertag besucht Silvia Federici das Anna-Göldi-Museum in Glarus. Sie, die über Hexenverfolgung forscht und publiziert, zeigt sich beeindruckt vom Museum. Im monumentalen «Hänggiturm» wurden einst Textilien zum Trocknen aufgehängt. Heute unterteilen dunkle Stoffbahnen die Ausstellung, die die Geschichte der 1734 geborenen Anna Göldi erzählt. Sie arbeitete als Magd, ab 1780 bei der reichen Glarner Familie Tschudi. Dort geriet die kränkliche achtjährige Tochter Annemiggeli mit ihr aneinander – die Familie warf Göldi vor, dem Kind Stecknadeln und Nägel in den Bauch gezaubert zu haben. Sie wurde zuerst entlassen, dann verhaftet. Obwohl (oder weil?) es ihr gelang, Annemiggelis Fussbeschwerden zu heilen, wurde sie verhört, gefoltert und 1782 als «Vergifterin» mit dem Schwert hingerichtet. Ein grosser Teil der Akten ist erhalten.

Federici, emeritierte Professorin für politische Philosophie an der Hofstra University in New York, wundert sich nicht über den Fall Anna Göldi. Ihre Forschung zeigt: Hexenjagden sind keine spontanen Ausbrüche archaischer Gewalt. Sie häufen sich vor dem Hintergrund ökonomischer Umbrüche. Besonders dann, wenn die Geldwirtschaft in eine Gesellschaft einbricht, die zuvor von Subsistenz geprägt war. Wenn sich also der Fokus verschiebt: Man wirtschaftet nicht mehr primär für den Eigenbedarf, sondern für Profit. Land, das in Subsistenzgesellschaften oft kollektiv verwaltet wird, bekommt einen ganz anderen Wert. Das weckt Begehrlichkeiten.

Besonders gut dokumentiert sind die «enclosures», die gewaltsamen Einhegungen von kollektiv genutztem Land, in England. Ab dem späten Mittelalter zäunte der Adel Allmendland ein, um Schafe für die aufstrebende Wollindustrie zu halten. Schon Karl Marx beschrieb die «enclosures» als wichtige Voraussetzung für den Kapitalismus. Doch erst Federici wies darauf hin, wie eng die Hexenjagd in derselben Epoche damit zusammenhing.

Für «Caliban und die Hexe», ihr bekanntestes Buch, hat Federici eine Fülle von Material gesammelt, das dokumentiert, wie Frauen, die im mittelalterlichen Europa noch in vielen Berufen tätig gewesen waren, in der Frühen Neuzeit Rechte und mit dem Gemeinschaftsland oft auch ihr Auskommen verloren. Die Hexenverfolgung untergrub nicht nur die Solidarität zwischen den Frauen, sondern auch zwischen den Geschlechtern. Frauen seien zum Ersatz für die verlorenen Commons geworden, schreibt Federici. «Denn sobald man weibliche Tätigkeiten als Nicht-Arbeit definiert hatte, begann die Arbeit der Frauen als Naturressource zu erscheinen, die allen zur Verfügung steht, wie Luft und Wasser.»

Abbildung eines «Glarner Tüechli»
Von wegen Schweizer Tradition: Die Muster des «Glarner Tüechli» stammen aus Persien.

Anna Göldis Geschichte steht am Ende dieser langen Umbruchzeit: Die Frauen sind diszipliniert, ihre Körper dämonisiert. Und viele Menschen haben im Kapitalismus alle Produktionsmittel verloren: Ihnen bleibt weder Land noch die Möglichkeit, selbstständig ein Handwerk auszuüben. Sie sind gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen – in der Heimindustrie, als Knechte, Mägde oder Söldner, in der Fabrik.

Auch heute gibt es noch Hexenjagden, etwa in Nigeria, Indien oder Papua-Neuguinea. In einem Artikel, den sie zusammen mit der Journalistin Alice Markham-Cantor für den «Scientific American» geschrieben hat, dokumentiert Federici solche Fälle. Auch hier geht es nicht um «archaische Bräuche», sondern um den Übergang von Subsistenz- zu Marktwirtschaft. Wenn Land für Plantagen oder Bergbau lukrativ wird, stehen gemeinschaftliche Strukturen im Weg. Ökonomischer Stress, etwa wenn in einem Land der Service public ruiniert wird, um Staatsschulden zu begleichen, verstärkt die Gefahr für alleinstehende und eigenwillige Frauen. Ein Hexereivorwurf hilft, um Waisenkinder, Witwen oder rebellische Bäuerinnen loszuwerden – und sich ihr Eigentum unter den Nagel zu reissen.

Geboren 1942 in Parma, lebt Silvia Federici seit 1967 in den USA. Sie wohnt in New York mit ihrem Partner, dem politischen Philosophen George Caffentzis, der heute pflegebedürftig ist. Trotz der vielen Auftritte ihrer «Europatournee» wirkt sie im Gespräch freundlich und interessiert.


WOZ: Silvia Federici, Sie haben immer betont, dass die Hexenjagden der Frühen Neuzeit kein Überbleibsel eines «finsteren Mittelalters» waren, sondern eine Voraussetzung für den Kapitalismus. Darum frage ich umgekehrt: Warum war Anna Göldi eine der letzten «Hexen» in Europa? Warum hörte die Verfolgung auf?

Silvia Federici: Weil sie nicht mehr nötig war. Die Bedrohung, der sich die aufsteigende kapitalistische Klasse im 16. und 17. Jahrhundert gegenübergesehen hatte, war gebannt. In jenen Jahrhunderten gab es einen regelrechten Krieg gegen verschiedene Bevölkerungsgruppen: Frauen, Migrant:innen, Nichtsesshafte, aufständische Bäuerinnen und Bauern. Eine ganze Welt, die diszipliniert werden musste. Und das war im 18. Jahrhundert erreicht. Natürlich hiess es danach bald: Die Hexenverfolgung war Aberglaube.

Rückblickend wirkt es fast, als hätten die Mächtigen die Hexenjagd über einen langen Zeitraum geplant. Aber so war es ja nicht.

Doch, in einem gewissen Sinn schon. Neue Gesetze wurden eingeführt, in England etwa gab es ganz offiziell das neue Verbrechen der Hexerei. Die Hexenjagden kamen nicht von unten, sie waren kein spontanes Phänomen.

Aber glaubten die Verfolger selbst an die «Verbrechen», die sie verfolgten? Oder waren diese ein Vorwand?

Das ist eine wichtige Frage – und schwierig zu beantworten. Sie stellt sich heute auch bei Terrorismusvorwürfen: Wenn Leute eine ganze Bevölkerungsgruppe als terrorverdächtig brandmarken – glauben sie es selber? Oder tun sie es, weil es praktisch ist, um eine Form von Disziplin durchzusetzen? Wenn Leute jahrelang solche Vorwürfe hören, glauben sie irgendwann daran. Das war auch bei der Hexenjagd so. Und die Frauen, die als Hexen denunziert wurden, waren ja oft Heilerinnen oder Hebammen: Sie hatten Wissen, das ihre Verfolger nicht durchschauten. Bei manchem «Hexensabbat» ging es aber auch um etwas anderes: Bauern und Bäuerinnen trafen sich, um Aufstände zu planen – in den Bergen oder im Wald, oft in der Nacht. Solche Treffen als dämonisch abzustempeln, die Nacht zu einem gefährlichen Ort zu machen, war im Interesse der Mächtigen. Bis jeder verdächtig war, der in der Nacht rausging.

Seit den Siebzigern haben sich manche Feministinnen den Begriff «Hexe» angeeignet. Finden Sie das sinnvoll?

Ich bin nicht begeistert. Ich schätze zwar die Tradition, dass sich Unterdrückte die Begriffe der Unterdrücker aneignen. Aber ich mache mir Sorgen, dass in diesem Zelebrieren untergeht, was es für Frauen bedeutete, Hexe genannt zu werden. Es gab Frauen, die sich lieber zu Tode foltern liessen, als «zuzugeben», eine Hexe zu sein.


Die aktuelle Wechselausstellung im Anna-Göldi-Museum handelt von Baumwolle, dem Stoff, der die Glarner Oberschicht reich machte. Baumwolle aus Nord- und Mittelamerika, in der Ostschweiz gesponnen, verwoben und bedruckt, wurde in die ganze Welt exportiert. Die Absatzmärkte beeinflussten das Design: Auf dem «Glarner Tüechli», das heute als Teil der Schweizer Folklore gilt, prangt das Boteh- oder Paisleymuster persischen Ursprungs.

Zu Anna Göldis Zeit gab es noch Kleidervorschriften – nur hielten sich immer weniger Leute daran. Auch Göldi nicht, die als ledige Mutter nach Glarner Rechtsordnung «eine roti Kappen ohne Spitz und Band» hätte tragen müssen, damit das Stigma sofort erkennbar war. Sie tat es nicht, sondern soll sich sehr sorgfältig und schön gekleidet haben, sodass sie niemand auf den ersten Blick für eine Magd gehalten hätte. Während manche Bürger:innen noch lästerten, die Armen gäben ihr Geld für eitlen Tand aus, war der Textilindustrie der wachsende Konsum ganz recht. Um 1800 verschwanden die Kleidervorschriften.

Ein weiterer aufschlussreicher Bezug in der Ausstellung: Ulrich Bräker (1735–1798), bekannt geworden mit seinen Memoiren als «armer Mann im Tockenburg», war ein Zeitgenosse Anna Göldis. Er stammte aus ähnlich prekären Verhältnissen wie sie, versuchte sich als Diener, Garnhändler, Kleinbauer, Stoffdrucker, war kurz auch unfreiwillig Söldner in der preussischen Armee. Trotz aller Bemühungen kam er ökonomisch nie auf einen grünen Zweig. Doch er wurde Mitglied der Moralischen Gesellschaft Lichtensteig, eines bürgerlichen Lese- und Debattierzirkels, konnte mehrere Bücher veröffentlichen und las begeistert Shakespeare. Mit seinem intellektuellen Hunger stand er zwischen den Klassen: von seiner Familie entfremdet und von den gebildeten Herren doch nicht ernst genommen. Was wäre aus einem weiblichen Ulrich Bräker geworden? Auch eine «Hexe»?

Die Ausstellung weitet den Blick auf Anna Göldis Zeit über Glarner und Schweizer Grenzen hinaus. Und da wirkt der Justizmord an der «Hexe» nicht mehr aus der Zeit gefallen, sondern wie ein kleiner Teil einer grossen, brutalen (Wirtschafts-)Geschichte: Der transatlantische Sklav:innenhandel erreichte zu Göldis Zeit seinen Höhepunkt. Die Glarner Textilindustrie lebte von der Sklaverei auf den Baumwollplantagen. Im Kanton selbst schufteten Männer, Frauen und Kinder bis zur Erschöpfung in der Heimindustrie, später in Fabriken. Das Museum zitiert den Glarner Pfarrer Bernhard Becker, der Mitte des 19. Jahrhunderts schrieb: «Was nur um den Preis von Leben und Gesundheit und zwar ganzer Massen von Menschen erzeugt werden kann, das sollte nie Handelsartikel werden.» Es klingt wie ein Statement zur Konzernverantwortungsinitiative.

In dieser Ausstellung wird wieder einmal deutlich: Der Reichtum der Schweiz ist ohne Brutalität nicht zu haben. Zu Anna Göldis Zeiten war das noch deutlicher sichtbar. Heute ist die Brutalität grösstenteils ausgelagert – und die Berichte aus den Textilfabriken Bangladeschs gleichen jenen aus Glarus vor 200 Jahren aufs Haar. Das alles wirkt wie Anschauungsmaterial zu Federicis Arbeit. Ihre Sätze über den Kapitalismus wirken manchmal floskelhaft, doch das macht sie nicht weniger wahr.

Commons, Frauenbewegung, Hausarbeit und Hexenverfolgung: Federicis Forschungsthemen stehen in einem engen Zusammenhang. Denn «ein Netz von Gemeinschaftsbeziehungen aufzubauen», sei für Frauen die beste Verteidigung gegen Gewalt.


Sie sprechen viel darüber, dass der Körper wichtig sei für den Widerstand. Warum?

Weil Frauen für ihre Körper unterdrückt werden! Wenn wir für das Recht auf Abtreibung kämpfen, ist der Körper ein Terrain des Widerstands. Der Staat darf nicht über meine Fortpflanzung, meine Verhütung, meine Sexualität entscheiden. Es geht ihn nichts an, ob ich Kinder habe oder nicht, ob ich mit Frauen oder mit Männern schlafe. Generationen von Frauen konnten Sex nie geniessen, weil sie immer Angst hatten, schwanger zu werden. Wissen Sie, was das für ein Terror war? Ich weiss nicht, wie viele Male ich Sex hatte und nur am Zählen war: Montag, Dienstag, Mittwoch – wie lang ist meine Periode her? Ich war am Rechnen, ich hatte keine Zeit für einen Orgasmus.

Sie sind seit mehr als fünfzig Jahren in feministischen Bewegungen aktiv. Sind Sie stolz auf das Erreichte – oder enttäuscht?

Es gibt heute eine breite internationale Frauenbewegung. Das ist ein riesiger Erfolg. Frauen kämpfen gegen Verschuldung, für Umweltschutz, gegen Bergbau- und Ölfirmen, die Lebensgrundlagen zerstören. Ich denke, die feministische Bewegung hat verstanden, dass sich die Lebensumstände der meisten Frauen nur verbessern lassen, wenn wir die ganze Gesellschaft und das Wirtschaftssystem verändern. Gleichzeitig hat aber auch der Kapitalismus immer mehr ein planetares Level erreicht. Er war immer kolonial. Aber heute gibt es keine Kolonie mehr auf der Welt, die nicht kapitalisiert ist. Und leider ist er immer noch genauso kriegerisch wie 1942, als ich geboren wurde.

Gab es in der italienischen Linken eine Frauenbewegung, als Sie jung waren?

Es gab Kommunistinnen. Aber die Kommunistische Partei hatte immer die Ideologie: Um wie die Männer sein zu können, müssen die Frauen Seite an Seite mit ihnen in den Fabriken arbeiten. Sie sprachen nicht über Fortpflanzung, Abtreibung oder Hausarbeit.

Die Fabrik war alles, was zählte?

Ja. Mit fünfzehn glaubte ich auch, dass die Revolution in der Fabrik stattfinden würde.

1967 gingen Sie in die USA. Wie kam es dazu?

Ich wollte die Welt sehen, also bewarb ich mich für ein Fulbright-Stipendium. Ich ging in die USA mit der Idee, dass ich meine Dissertation schreiben und etwa ein Jahr bleiben würde. Aber dann … geschahen Dinge.

Gefiel es Ihnen in den USA?

Ich war nicht besonders glücklich, aber … Stellen Sie sich vor, Sie sind jeden Tag gezwungen, auf etwas Neues aufzuspringen. Sie haben gar keine Zeit, sich zu überlegen, ob es Ihnen gefällt oder nicht. Nein, es war schwierig! Ich verstand ja nicht einmal, was die Leute sagten! Darum hatte ich jeden Tag Kopfweh. Mein Englisch war nicht sehr gut, ausserdem hatte ich britisches Englisch studiert. Alles war neu, ich musste sehr viel lernen. Aber bald begann ich, mich mit der Student:innen- und der Frauenbewegung zu vernetzen. Ich war ja nie glücklich mit der Welt. Ich wuchs direkt nach dem Krieg auf, meine Eltern sprachen viel vom Faschismus, von den Bombardierungen, den schrecklichen Jahren, die sie erlebt hatten. Schon mit zehn wusste ich, dass ich in eine schlechte Welt geboren worden war. In der Schule zeigten sie uns die Bilder aus den Konzentrationslagern, die Berge von Zähnen …

Mit zehn?

Ja. Heute würde man das wahrscheinlich nicht mehr so früh machen. Ich war wohl dazu bestimmt, eine Rebellin zu werden. Ich war auch nicht glücklich damit, wie Mädchen behandelt wurden: «Das darfst du nicht tun, weil du eine Frau bist, und schau auf deine Füsse, schau auf deine Haare, und du bleibst zu Hause», bla, bla, bla … Und ich: «Was?!» Ich war ein klassischer Tomboy.

In den siebziger Jahren engagierten Sie sich in der Kampagne «Lohn für Hausarbeit». Machen Sie selber gern Hausarbeit?

Nein! Als ich jung war, versuchte ich, es möglichst zu vermeiden. Heute mache ich mehr – weil ich muss. Aber ich realisierte einfach, dass dieses Thema für die Frauenbewegung wichtig ist. Kochen ist nichts Schlimmes; es geht darum, ob du jeden Tag kochen musst, ob du genug Geld dafür hast, ob du immer allein kochst … Auch ein Kind aufziehen ist nichts Schlimmes, es geht um die Bedingungen: Wirst du dazu gezwungen? Hast du noch Zeit für dich, für andere Dinge im Leben? Bist du abhängig von einem Mann?

Es gibt bis heute Diskussionen, ob «Lohn für Hausarbeit» symbolisch gemeint ist – oder als reale Lohnforderung.

Für uns war es eine Strategie, um zu zeigen, dass Hausarbeit Arbeit ist. Dass Frauen all diese Dienstleistungen zur Verfügung stellten, machte es für Männer erst möglich, in einem Büro oder in einer Fabrik zu arbeiten. Das wollten wir sagen: Wir machen all diese Arbeit, ihr profitiert davon, und wir haben nichts – kein Geld, keine Altersvorsorge. Wir sagten nie, diese Strategie sei revolutionär. Aber sie war zu jener Zeit wichtig. Ein Instrument, um die Bedingungen der Frauen zu verändern.

In Ihrem Essay «Die Welt wieder verzaubern» beziehen Sie sich positiv auf die Queerbewegung: Die queere Ablehnung von Geschlecht sei auch eine Ablehnung der geschlechtlichen Arbeitsteilung.

Ja. Ich mag es allerdings nicht, wenn argumentiert wird, Frauen seien kein angemessenes Subjekt für die feministische Bewegung. Ich finde, sie sind ein wichtiges Subjekt – aber ich denke Frauen nicht als biologische Kategorie. Sondern als historische. Politische Kämpfe verändern Identität. Die feministische Bewegung hat die Frage transformiert, was es heisst, eine Frau zu sein. Es gibt nicht eine Definition von Frau. Die feministische Bewegung, die ich kenne, hat immer analysiert, wie der Kapitalismus Weiblichkeit und Männlichkeit konstruiert – auf eine sehr unterdrückerische, normative Weise. Als Ausdruck einer ganz bestimmten Arbeitsteilung. Heute heisst es oft, die feministische Bewegung der Sechziger und Siebziger sei essenzialistisch gewesen. Aber die ganze Kritik an der Biologie war schon da. Das sehen Sie, wenn Sie die ganz frühen Dokumente der Bewegung lesen.

Sind Sie optimistisch?

Ich frage mich das gar nicht – welche Wahl haben wir? Es heisst ja, Pessimismus sei ein Luxus von Leuten, die ihn sich leisten könnten. Wir haben keine Wahl, wir müssen etwas tun. Solange sich jemand wehrt, gibt es Hoffnung. Ich konzentriere mich auf das, was mir Hoffnung, Energie und Genuss gibt.

Die Sonderausstellung «Bunte Tücher, geteilte Geschichte – auf den Spuren von König Baumwolle» im Anna-Göldi-Museum läuft noch bis 31. Oktober 2023. Auf Deutsch erschienen von Silvia Federici zuletzt unter anderem «Jenseits unserer Haut. Körper als umkämpfter Ort im Kapitalismus» (Unrast Verlag, 2020) und «Die Welt wieder verzaubern. Feminismus, Marxismus & Commons» (Mandelbaum Verlag, 2022).