Ufologie und Klassenkampf: «Es war keine Verschwörung, sondern bloss Kapitalismus»

Nr. 1 –

Nie wurden irgendwo so viele Ufos gesichtet wie in Italien 1978. Das Autorenkollektiv Wu Ming erzählt davon in seinem neuen Roman. Im Interview erläutert Wu Ming 1, wie das mit der Entführung von Exministerpräsident Aldo Moro zusammenhängt – und erklärt, was ein älterer Bestseller des Kollektivs mit dem QAnon-Kult zu tun hat.

WOZ: Wu Ming 1, eine flüchtige Internetrecherche ergibt: Ausserirdisches Leben existiert möglicherweise, aber es gibt keinerlei Beweise dafür. Können Sie nachvollziehen, dass viele von Ufos und Aliens fasziniert sind?

Wu Ming 1: Ja. In unserem Roman schlagen wir vor, diese Faszination als Ausdruck des Bedürfnisses zu interpretieren, den Horizont zu erweitern und den Raum der Imagination zu öffnen. Damit meinen wir das, was Fredric Jameson als «utopischen Impuls» bezeichnet. Das ist noch kein utopisches Programm im Sinne eines präzisen Gesellschaftsprojekts. Eher zeugt es von der Erkenntnis, dass diese Welt hier nicht genug ist, dass unser Alltag langweilig und elend ist, eingeengt durch die Mechanismen der kapitalistischen Gesellschaft. Bei Leuten, die diese Umstände nicht rationalisieren können, weil sie nicht über entsprechende Theorien und Analysen verfügen, drückt es sich eben in anderer Form aus.

Historisch gab es immer wieder Häufungen in Sachen Ufo-Sichtungen, oder?

Diese Sichtungen gab und gibt es besonders in Zeiten der Krise und des gesellschaftlichen Notstands. Während der Pandemie etwa hatten viele Angst, fühlten sich eingeschränkt oder unterdrückt – und richteten dann den Blick nach oben. In den Medien hatten sie zugleich erfahren, dass der Luftverkehr eingestellt worden war, und wenn sie dann ein Licht am Himmel sahen, erschien ihnen das geheimnisvoll. Tatsächlich aber gab es ja immer noch Luftverkehr: Die militärische Luftfahrt hat nie ausgesetzt, ausserdem sind viele Satelliten im Orbit. Manchmal ist es auch einfach die Venus: Bisweilen steht der Planet tief am Horizont und beginnt wegen der Luftfeuchtigkeit zu flackern, was den Eindruck von Bewegung erzeugt. Die Leute aber glauben sofort, dass es sich dabei um etwas Geheimnisvolles handeln müsse, eben weil sie genau das brauchen in Zeiten, in denen ihre eigentliche Welt zusammengeschrumpft ist. Und so war es auch 1978 in Italien während der 55-tägigen Entführung Aldo Moros, als Strassensperren, Polizeikontrollen, Ausnahmegesetze und permanente Überwachung an der Tagesordnung waren.

Aldo Moro vor einer Brigate-Rosse-Flagge, 1978
Rund um seine Entführung wuchern auch heute noch 
viele Verschwörungsfantasien: Aldo Moro, 1978.
Foto: Friedrich, Interfoto, Keystone

Deswegen erzählen Sie in Ihrem Roman «Ufo 78» parallel zur Moro-Entführung, die in aller Welt Schlagzeilen machte, von einer Kuriosität: einem Ufologenkongress in Rom, der dann wegen der Moro-Affäre kurzfristig ins Wasser fällt. Gab es die Pläne für diesen Kongress überhaupt?

Nein, das haben wir fingiert. Es gab aber vergleichbare Kongresse, und es stimmt, dass in diesem Jahr massenhaft Ufo-Sichtungen verzeichnet wurden. Noch immer hält Italien damit den Weltrekord, und bis heute gibt das Rätsel auf. Um die 2000 Ufo-Sichtungen wurden gemeldet sowie rund 70 sogenannte Nahbegegnungen der dritten Art: Die Leute wollten nicht nur Lichter am Himmel gesehen haben, sondern die Ausserirdischen selbst. Manche behaupteten sogar, entführt worden zu sein.

Wie ist es denn heute? In den USA hat ja zuletzt ein Whistleblower, der früher für das Pentagon gearbeitet hatte, behauptet, die Regierung dort habe längst Ufos geborgen.

In der Pandemie wurde überall in der westlichen Welt ein neuer Peak verzeichnet, auch wenn der bei weitem nicht heranreicht an das, was 1978 in Italien geschah. Trotzdem ging die Kurve wieder steil bergauf, beginnend im April oder Mai 2020, also während der Lockdowns. Es scheint also, dass Ufos immer wieder in Zeiten der Krise und der sozialen Anomie populär werden.

An einer Stelle im Roman stehen die Fragen: «Warum wird das Wort Eskapismus immer in diesem vorwurfsvollen Ton verwendet? Wer sitzt schon gerne im Gefängnis?» Wenn Eskapismus Ausdruck utopischen Begehrens ist, bräuchte es dann vielleicht sogar mehr davon?

Heute liegen die Dinge etwas anders. In den Siebzigern hatte der Eskapismus einen utopischen Charakter: In Italien schienen damals neue Möglichkeiten auf, die Gegenkultur blühte, Massenbewegungen waren aktiv, soziale Reformen wurden durchgesetzt. All das beeinflusste auch Subkulturen. Entsprechend kamen auch die meisten Ufologen aus der Linken. Heute dagegen ist dieser Diskurs viel stärker von der reaktionären Kultur beeinflusst, insbesondere vom Konspirationismus. Er hat gewissermassen einen dunkleren Farbton angenommen. Wenn man sich zum Beispiel die «Prä-Astronautik» anschaut, also Theorien über Besuche Ausserirdischer in frühgeschichtlicher Zeit: Für den Roman haben wir die Figur von Martin Zanka geschaffen, der stark von Peter Kolosimo inspiriert ist. Kolosimo war ein enorm erfolgreicher Journalist und Schriftsteller, eine Art italienischer Erich von Däniken …

… und Kolosimo war ein Linker?

Ja, er war Partisan und Kommunist. Jedenfalls waren selbst diese Theorien über frühe Besuche Ausserirdischer Teil einer allgemeinen kulturellen Erkundung neuer Möglichkeiten. Heute dagegen hat die Prä-Astronautik rassistische Konnotationen, und auch die meisten Autoren, die diesen Diskurs bedienen, sind Rechte. Allerdings glaube ich nicht, dass das notwendigerweise Ufo-Sichtungen beeinflusst: Leute, die Ufos erspäht haben wollen, haben ja meist noch keine Theorie dazu im Kopf. Sie entdecken bloss etwas am Himmel und denken, dass sie etwas Wundervolles gesehen haben müssen.

Ein bisschen erinnert Ihre Herangehensweise an den Philosophen Ernst Bloch, der ebenfalls beharrlich apart erscheinende Phänomene auf ihren utopischen Gehalt hin befragt hat.

Ernst Bloch war sehr nützlich für die Arbeit an unserem ersten Roman «Q», denn er hat ja über den revolutionären Theologen Thomas Müntzer geschrieben und generell viel über utopische Momente in der Geschichte, Augenblicke der Hoffnung. Wir haben damals in den Neunzigern viel von ihm gelesen – und man kann sagen, dass sich eine Art blochianische Linie durch unser Werk zieht.

Können Sie etwas erläutern, wie man heute in Italien auf die Moro-Entführung zurückblickt?

Rund um diese Entführung gibt es sehr viele Verschwörungsfantasien, etwa dass die Roten Brigaden staatliche Agenten und vom Ausland gesteuert gewesen sein sollen. Das sind Narrative, die den Brigaden und anderen bewaffneten Gruppen absprechen, eigenständig gehandelt zu haben. Die offizielle Linke schätzt diese Fantasien, denn sie rechtfertigen ihr politisches Handeln in dieser Zeit, als sie unkritisch die Verabschiedung der Ausnahmegesetze und die Niederschlagung von Subversion und Terrorismus unterstützte. Fast nie aber versucht man zu erklären, warum der bewaffnete Kampf in Italien aufkam und auch Resonanz fand. Natürlich war diese Strategie falsch, die Roten Brigaden haben grosse Fehler begangen. Entstanden waren sie in den Fabriken. Für einige Jahre erfuhren sie auch viel Unterstützung in den Werken in Norditalien. Aber Ende der Siebziger schwand diese, die Leute waren des bewaffneten Kampfes müde.

Also scheiterte die Strategie des bewaffneten Kampfes schon wegen der fehlenden breiten Unterstützung?

Die Strategie scheiterte vollumfänglich – es war eine Katastrophe. Aber: Sie hatte sich aus realen sozialen Widersprüchen entwickelt. Es gibt allerdings eine bestimmte Perspektive, die völlig fokussiert ist auf Verschwörungen, Geheimdienste, die Polizei: Als würde nichts geschehen ohne den Plan einer Macht, die die Dinge erst ins Rollen bringt. Das ist eine schrecklich falsche Art, an die Geschichte heranzugehen, weil man dann nicht mehr begreifen kann, was die gesellschaftliche Entwicklung wirklich vorantreibt. Viele Narrative über die Moro-Entführung entspringen dieser Perspektive. Das Feld ist völlig kontaminiert. Kein Jahr vergeht ohne neue Theorie, was damals angeblich wirklich geschehen sein soll.

Ende der Siebziger wurde dann die revolutionäre Linke in Italien zerschlagen. Gibt es da einen Zusammenhang mit dem Ufo-Boom?

1978 war vielen noch nicht bewusst, dass die Linke am Verlieren war. Die Massenverhaftungen von Autonomia-Aktivisten erfolgten erst im April und Dezember 1979 – damals war das Ufo-Phänomen schon wieder verschwunden. Es gibt aber Leute, die versuchen, die vielen Sichtungen von 1978 mit dem zu erklären, was man in Italien den «riflusso» nennt: das Ende der Politisierung der Gesellschaft und den Beginn des Individualismus und Konsumismus, des neoliberalen Reaganismus. All das assoziiert man mit den Achtzigern. Manche glauben daher, dass die Ufos gewissermassen die Avantgarde der Achtziger waren, eine frühe Manifestation des individualisierten Eskapismus. Das ist aber falsch. Denn dann hätten sich die Sichtungen weiter häufen müssen. Stattdessen verschwand das Phänomen Ende 1978. Ausserdem handelte es sich bei der Ufologie der Siebziger nicht um eine individualisierte Praxis. Vielmehr bildeten die Leute Kollektive, wie wir es ja auch im Buch schildern. Sie beschäftigten sich gemeinsam mit Ufos.

Im Roman spielt auch Heroin eine grosse Rolle: Weil die revolutionäre Welle abflachte und die Leute sich in Drogen flüchteten?

Es ist kein simpler Automatismus, aber trotzdem ist da auch etwas dran. In den Siebzigern machte man alles kollektiv: Kaufte man sich eine neue Platte, dann lud man Freunde ein, um sie das erste Mal anzuhören. 1978 waren die Bewegungen aber bereits in der Krise – einer sehr langen Krise. Es gab ja immer noch grosse Demonstrationen. Aber sie begannen abzuflauen. Wer besonders sensibel war, vielleicht seit langem an vorderster Front des Kampfes gestanden hatte, spürte, dass sich etwas zu ändern begann. Wenn sich beispielsweise dein Schulkollektiv auflöste und du plötzlich allein warst: Das ist eine der Voraussetzungen dafür, Junkie zu werden. Es gibt aber auch hier eine Verschwörungsfantasie.

Was für eine?

Man behauptet dann, dass das Heroin in Umlauf gebracht wurde, um die Bewegungen zu zerstören. Eher war es aber andersherum: Weil die Bewegungen in die Krise gerieten, kam Heroin auf. Zugleich wurde die Droge tatsächlich bewusst in den sozialen Körper injiziert, und zwar von der Mafia, einfach weil es hochprofitabel war. Es war also keine Verschwörung, sondern bloss Kapitalismus. Viele haben aber Schwierigkeiten, zu verstehen, wie der Kapitalismus funktioniert: Er vollzieht sich aus sich selbst heraus, folgt seiner inneren Logik, der des Marktes. Unser Verstand hat aber Schwierigkeiten, unpersönliche Prozesse zu begreifen …

… weil wir dazu tendieren, alles, was geschieht, einer Person zuzuschreiben, die dafür verantwortlich ist?

Ja, wir sind neuronal auf intentionale Handlungen programmiert. Aber das ist eine kognitive Fehlleistung. Es ist auch schwer, sich einen unpersönlichen Prozess zu veranschaulichen – während man sich leicht vorstellen kann, wie Leute sich im Geheimen versammeln, um das Schicksal der Welt zu bestimmen.

Das ist auch genau der Punkt, an dem rechte Diskurse ansetzen, wenn sie etwa die jüdische Weltverschwörung behaupten.

Genau, dann spricht man plötzlich von den angeblichen Machenschaften von George Soros. Das ist Ausdruck einer Art Überpersonalisierung. Natürlich sind Soros oder auch Bill Gates Milliardäre und unsere Feinde. Aber nicht sie sind das Problem, sondern das Kapital. Die Rechten aber überpersonalisieren alles: Soros, Gates, Klaus Schwab. Sie sind besessen von Individuen – oder zumindest von einigen Individuen: Aus irgendeinem Grund attackieren sie nie Elon Musk oder Donald Trump …

2021, ein Jahr vor «Ufo 78», haben Sie – gewissermassen als Soloprojekt – «La Q di Qomplotto» veröffentlicht. Dieses Buch hat eine bemerkenswerte Vorgeschichte: Sie gehen davon aus, dass die Person, die den QAnon-Kult initiiert hat, Ihren Roman «Q» aus dem Jahr 1999 kannte. Könnten Sie erläutern, was es damit auf sich hat?

Im Frühling 2018 bekamen wir Nachrichten von Leuten, die uns auf Parallelen zwischen QAnon, das damals gerade richtig gross wurde, und unserem Roman hinwiesen. Tatsächlich ähnelt die erzählerische Prämisse dieses Verschwörungsnarrativs stark derjenigen unseres Romans: Ein anonymer Kerl, der den Buchstaben Q als Unterschrift verwendet, behauptet, Zugang zu Machtstrukturen zu haben und von wichtigen Geheimnissen zu wissen. Und er sagt, dass er diese mit einer Gemeinschaft von Revolutionären teilen möchte, um sie auf etwas Grosses, das bevorsteht, vorzubereiten: den Endkampf zwischen den Kräften des Guten und jenen des Bösen, der eine Art spirituelles Erwachen nach sich ziehen würde. Das war verblüffend.

Einen Beweis, dass QAnon ursprünglich vom Roman inspiriert wurde, gibt es aber nicht?

Nein, wir werden nie den endgültigen Beweis dafür haben. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass die erste Person, die dieses Spiel auf dem Messageboard 4chan begonnen hat, unseren Roman kannte. Es gibt allerdings Stiluntersuchungen der «Q-Drops», also der Mitteilungen dieses «Q», die zeigen, dass es ab einem bestimmten Zeitpunkt einen Wechsel in der Autorschaft gab – und die erste Person von der Bildfläche verschwand. Wir wissen nicht, wer das war. Das alles heisst natürlich nicht, dass die QAnon-Bewegung von unserem Buch beeinflusst wäre: Von den Leuten, die im Januar 2021 das Kapitol in Washington erstürmten, hat es gewiss niemand gelesen.

Wurde der Roman überhaupt in den USA veröffentlicht?

Ja, aber er war kein grosser Erfolg. Wobei der ursprüngliche Verfasser der Q-Drops nicht US-Amerikaner gewesen sein muss – jeder kann von überall aus auf 4chan posten. Uns fragen oft Leute, wie es uns damit geht, dass wir QAnon beeinflusst haben sollen – was, wie gesagt, eine grobe Vereinfachung ist. Aber selbst wenn es so wäre: Wenn du ein Buch oder einen Song oder sonst ein Kunstwerk anfertigst, hast du keine Kontrolle darüber, wie die Leute das dann interpretieren. Auch Paul McCartney und John Lennon können nichts dafür, dass Charles Manson sagte, ihre Songs hätten ihn zu seinen Taten inspiriert.

In «La Q di Qomplotto» geht es aber nicht nur um diese vermutliche Verbindung. Vielmehr entwickeln Sie auch eine Theorie der Verschwörungstheorien, etwa wenn Sie betonen, dass diese einen wahren Kern haben. Können Sie erläutern, wie Sie das meinen?

Es gibt Gründe, warum Verschwörungsfantasien existieren. Sie füllen eine Leerstelle, die die Linke und der Antikapitalismus zurückgelassen haben. Ein Vakuum hat aber auch in der Kultur nicht lange Bestand: Entsteht es irgendwo, kommt sofort etwas, um es zu füllen. Gleichzeitig bilden sich Verschwörungstheorien um einen Kern von Wahrheit herum. Man denke etwa an die angebliche Verschwörung rund ums Impfen: Natürlich existiert Big Pharma, und natürlich sind die Geschäftspraktiken der grossen pharmazeutischen Konzerne sehr schlecht, wenn es etwa um den Patentschutz oder die Übermedikalisierung unserer Leben geht. Das ist alles wahr. Aber es wird interpretiert in der Form einer Verschwörung. Oder ein anderes Beispiel: Chemtrails …

… es gab in Norditalien sogar Demonstrationen gegen Chemtrails, nicht wahr?

Ja, in Modena demonstrierten vor ein paar Jahren einige Hundert Menschen gegen Chemtrails. Und auch hier gibt es einen wahren Kern: Der Luftverkehr ist gefährlich, er verändert das Klima, verschmutzt die Umwelt. Seit der Deregulierung dieser Industrie in den Neunzigern gibt es weltweit jeden Tag 200 000 Flüge. Wenn man also diese Spuren am Himmel sieht, signalisieren die ein reales Problem. Nun aber glauben die Leute, dass die Kondensstreifen das eigentliche Problem seien: Dann wird behauptet, es handle sich um gefährliche psychoaktive Substanzen, die bewusst in die Luft abgegeben würden, um uns zu vergiften und zu manipulieren. Man sollte aber über diese Absurditäten hinausgehen und den Kern Wahrheit suchen. Und man sollte diejenigen, die von diesen Absurditäten umgetrieben werden, auch nicht einfach als Idioten abkanzeln, sondern anerkennen, dass sie zumindest grundsätzlich legitime Anliegen und Ängste haben. Dann hat man eine Chance, sie zu erreichen. Immerhin glauben sie ja, dass sie gegen die Macht kämpfen – da liegt also ein Potenzial vor, das man zu einer wirklichen Gesellschaftskritik zurückkanalisieren könnte.

Interessant ist auch, dass QAnon die Eliten als eine Art Vampire imaginiert. In Ihrem Buch verweisen Sie darauf, dass schon Marx diese Metapher verwendet hat, um zu veranschaulichen, wie das Kapital lebendige Arbeit verschlingt …

Ja, bei QAnon trinken die Eliten buchstäblich Blut. Verschwörungsfantasien weisen die Tendenz auf, Metaphern buchstäblich zu lesen. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf solchen Bullshit, wodurch sie kritisches Potenzial zerstreuen. Das ist der Grund, warum sie faktisch das System verteidigen. Diese Narrative zerstreuen die Aufmerksamkeit und fressen Energien und Zeit. Die Leute verbringen ja auch zahllose Stunden damit, an ihren Fantasien herumzubasteln, Zeichen zu deuten, die Punkte miteinander zu verbinden …

Die Faktenchecks, die wegen all der kursierenden Fake News immer häufiger geworden sind: Bringen die denn nichts?

Fact Checking ist wichtig, aber nicht die eigentliche Herausforderung. Und es gibt mittlerweile das Phänomen der «Ratio-Suprematisten», wie ich es in meinem Buch «La Q di Qomplotto» nenne: Leute, die sich auf die Wissenschaft berufen und sie als Waffe gebrauchen, um Widerspruch abzuwürgen. Das passiert in allen möglichen Wissensfeldern. Fact Checker oder Debunker werfen Leuten mit Verschwörungsfantasien zudem oft vor, den Autoritäten nicht zu vertrauen. Das ist aber der absolut falsche Grund, sie zu attackieren. Niemand hat die Pflicht, den Behörden zu folgen. Im Gegenteil, eigentlich sollte man immer das, was einem die Autoritäten sagen, infrage stellen.

Wu Ming : In subversiver Mission

International bekannt geworden ist das italienische Autorenkollektiv Wu Ming mit dem Roman «Q», der subversiven – und häufig längst vergessenen – Bestrebungen in der Zeit der Bauernkriege ein Denkmal gesetzt hat. Das Buch erschien 1999 noch unter dem Namen Luther Blissett, einem Pseudonym, das sich diverse Künstlerinnen und Aktivisten aus Bologna in den Neunzigern verpasst hatten. Die Gruppe agierte als eine Art Kommunikationsguerilla, die unter anderem Pranks inszenierte, um so in aufklärerischer Absicht Falschmeldungen in die Massenmedien zu speisen. Aus Luther Blissett gingen dann Wu Ming hervor (Chinesisch für «keine» oder auch «fünf Namen» – zwischenzeitlich bestand die Gruppe aus fünf Autoren).

Wegen ihrer Vorgeschichte als Aktionskünstler, die Chaos im öffentlichen Diskurs stifteten, und wegen inhaltlicher Parallelen zum Roman «Q» liegt der Verdacht nahe, dass zumindest eine Linie von Luther Blissett zum Verschwörungskult QAnon führt, dem mittlerweile Millionen Menschen vor allem in den USA anhängen. Wu Ming 1, der in Italien auch journalistisch publiziert, nahm dies zum Anlass für ein Sachbuch über QAnon und andere Verschwörungstheorien: «La Q die Qomplotto» ist 2021 auf Italienisch erschienen, übersetzt wurde das Buch bislang erst ins Französische.

Vom Autorentrio selber sind beim Berliner Verlag Assoziation A mittlerweile eine ganze Reihe historischer Romane auf Deutsch erschienen. Nach «Die Armee der Schlafwandler» (2022), einem in den Jahren der Französischen Revolution spielenden Geschichtsepos, ist im Herbst der jüngste Roman von Wu Ming erschienen: «Ufo 78» setzt mit einem Pfadfinderlager irgendwo in der Toskana ein. Zwei Tage regnet es in Strömen, dann steht endlich das «Vierundzwanzig-Stunden-Spiel» auf dem Programm: Zwei aus der Gruppe schlüpfen in die Rolle von Eindringlingen vom Mars, die die Essensvorräte aus dem Lager stibitzen, der Rest muss versuchen, den Dieben ihre Beute wieder abzujagen. Nach Ablauf der 24 Stunden stellt sich heraus, dass zwei der Jugendlichen verschwunden sind. Sie werden nie wieder auftauchen.

Waren es womöglich echte Extraterrestrische, die in das juvenile Rollenspiel platzten, um die beiden auf ein Raumschiff zu entführen? Immerhin, so erfährt man im Lauf von «Ufo 78», häuften sich Ende der Siebziger Berichte über unheimliche Begegnungen der dritten Art in besagter Gegend. Das Rätsel um die Vorgänge auf dem (fiktiven) Berg Quarzerone ist aber nur einer der Erzählstränge. Es geht auch um eine in feministischen Gruppen sozialisierte Anthropologin, die sich als teilnehmende Beobachterin ins (praktisch ausschliesslich männliche) Ufologenmilieu mischt, um eine New-Age-Kommune auf dem Land, die zum Auffanglager für gestrandete Junkies wird, sowie um den Schriftsteller Martin Zanka, der sein Geld mit pseudowissenschaftlichen Abhandlungen im Genre der Prä-Astronautik verdient, an die er selbst nicht glaubt. Wu Ming rühren das Ganze zu einem schön schrägen Plot zusammen – alles vor dem Hintergrund der Entführung Aldo Moros, des früheren Ministerpräsidenten Italiens und Vorsitzenden der Democrazia Cristiana.  

Wu Ming: «Ufo 78». Roman. Aus dem Italienischen von Klaus-Peter Arnold. Verlag Assoziation A. Berlin 2023. 448 Seiten. 40 Franken.